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Auf dem Weg ins Nirwana?

Von Heinrich Dassel

Das Christentum befindet sich in einer Krise. Obwohl Österreich nach wie vor zu den Ländern mit der religiösesten Bevölkerung Europas zählt, ist die Zahl der regelmäßigen Gottesdienstbesucher von 25 % der Gesamtbevölkerung 1973 auf 14 % 1998 gesunken. Noch deutlicher ist der Rückgang bei den Jugendlichen: Waren vor 10 Jahren noch 85 % der 14- bis 24jährigen Mitglied der katholischen Kirche, so belief sich ihr Anteil im Jahr 2000 nur noch bei 76 %, die Zahl der wöchentlichen Gottesdienstbesucher ist in dieser Altersgruppe von 17 % auf 9 % gefallen.

Damit einher geht ein deutlicher Wandel des Gottesbildes. Während immerhin noch 59 % der Gesamtbevölkerung daran glauben, daß Gott in Jesus Christus Mensch wurde, liegt dieser Anteil bei den Jugendlichen gerade noch bei einem Drittel. Insgesamt glauben aber gerade noch 31 % der Österreicher an einen personalen Gott nach christlichem Verständnis, während fast die Hälfte nur mehr an ein „höheres Wesen“ in irgendeiner Form glaubt. In Wien nimmt nur mehr die Hälfte der katholischen Schüler am Religionsunterricht teil. Sowohl unter Jugendlichen als auch Erwachsenen ist also der Anteil der „Kirchensteuerzahler“ durchaus nicht gleichzusetzen mit jenen der Christgläubigen.

Vorbild Protestantismus

Fragt man nach den Ursachen dieser Entwicklung, bekommt man im wesentlichen zwei diametral entgegengesetzte Antworten. Für die einen ist die Kirche in ihrem Auftreten verstaubt und nicht mehr zeitgemäß. Sie sollte von der Gestaltung der Gottesdienste wie vom Inhalt der Lehre her mehr Rücksicht auf die Befindlichkeiten der modernen Menschen nehmen. Viele Forderungen aus dieser Gedankenrichtung sind ins Kirchenvolksbegehren eingeflossen, Abschaffung des Zölibats, Frauenpriestertum, Neubewertung der Homosexualität bis hin zu der Neugestaltung des Gottesdienstes mit stärkerer Einbindung der Laien etc. Die meisten dieser Punkte laufen auf eine Angleichung der Katholischen Kirche an die Gestalt der Evangelischen Kirchen hinaus. Doch können diese wirklich ein Vorbild sein? Unter den Protestanten besuchen nicht einmal mehr 5% der Kirchenmitglieder den Gottesdienst, nur mehr 45 % glauben an eine Auferstehung der Toten (gegenüber 66 % unter den Katholiken). Sogar unter den Pastoren halten 37 % Jesus Christus nicht mehr für Gott, und 64 % glauben nicht an ein Jüngstes Gericht, 26 % nicht einmal an die Auferstehung. Berücksichtigt man bei diesen Daten noch die Tatsache, daß Gläubigkeit, Gottesdienstbesuche etc. bei den Splittergruppen der Evangelikalen besonders hoch liegen, sieht die allgemeine Statistik für die die Evangelische Kirche Deutschlands noch viel trauriger aus. Dazu kommt – nicht anders als bei den zölibatären Katholiken – ein erheblicher Mangel an Pfarrern, die ebenfalls sinkende Bereitschaft der Gläubigen, Kirchensteuer zu bezahlen, usw. Es ist wohl bezeichnend, daß eine christliche Konfession, die nicht aus mangelndem Glauben entstanden ist, sondern – nach dem Zeugnis des heiligen Clemens Maria Hofbauer – gerade im Gegenteil, aus dem besonderen Glaubenseifer und Glaubensernst der Deutschen heraus, sich nun von innenher selbst auflöst. Vorbild kann also die Evangelische Kirche in keiner Weise sein – eine Kirche, in der Pastoren Spezialgottesdienste zum Thema Sex veranstalten, bei denen Reizwäsche auf einer Leine über dem Altar baumelt und der Gottesmann über Orgasmushäufigkeit und die Frage „welchen Sex hatte Jesus?“ predigt. All das freilich mit voller Zustimmung seiner Kirchenoberen.

Islam statt Christentum?

Doch auch die Katholische Kirche hat längst ihr Profil eingebüßt. Dominikanerklöster veranstalten Seminare „zur Spiritualität schwuler Beziehungen“, und die Katholische Männerbewegung Österreichs spricht sich für Homosexuellensegnung aus. Jesuitenpater lehren, daß der Koran „christlicher“ als das Evangelium sei und machen sich lustig über die jungfräuliche Empfängnis Christi, während sie den Christen raten, „wenigstens der Lehre Mohammeds über den Messias Jesus“ zu folgen; gleichzeitig sprechen katholische Dekane Gebete in deutschen Moscheen anläßlich muselmanischer Feste.
Wenn ein Erzbischof Eder Jugendlichen die Firmung verweigert, weil sie darauf nicht richtig vorbereitet und an ihr in Wirklichkeit auch nicht interessiert sind, gilt dies als Skandal, da die Öffentlichkeit längst vergessen hat, daß es sich dabei nicht um ein leeres Ritual und einen netten Anlaß für Ausflug, Geschenk und Festessen handelt, sondern um ein heiliges Sakrament, das – nach katholischem Verständnis – weder leichtfertig gespendet noch empfangen werden darf, bei echter Gefahr für das ewige Heil der Seele. Und rasch fand sich ein willfähriger Abt, der in die Bresche sprang. Noch viel lauter war das Geschrei, als derselbe Erzbischof, zugleich Primas Germaniae, einem Priester seiner Diözese verbot, mit einem calvinischen Pastor zugleich die Heilige Messe zu feiern. Daß nach katholischem Verständnis in ihr Brot und Wein zu Leib und Blut Jesu Christi gewandelt werden, während nach calvinischem Verständnis rein gar nichts geschieht und alles im bloß Symbolhaften bleibt (sogar Luther hielt gegenüber Calvin an der Realpräsenz Christi in beiden Gestalten fest), scheint heute kaum jemand mehr zu wissen. Daß von daher eine gemeinsame Feier der Heiligen Messe ganz und gar ausgeschlossen sein muß und das Gebot der Nächstenliebe gerade eben nicht die Vertuschung dieser fundamentalen Unterschiede, sondern ihre Deutlichmachung fordert, ist schon völlig vergessen.
Konservative Kreise sehen als Ursache dieser Entwicklung nun das zweite Vatikanum, das die Kirche der Welt öffnen wollte, wodurch – nach den Worten Pauls VI. – allerdings auch der „Rauch Satans“ in die Kirche eingedrungen sei. Freilich müssen sich diese Kreise die Frage gefallen lassen, ob jene Entwicklung nicht vielleicht zwangsläufig war und eine Kirche, die sich nicht auf den Weg des „Aggiornamento“ begeben hätte, genauso oder gar noch schlimmer getroffen hätte. Wenn man allerdings hört, daß in den ersten Jahren nach diesem Konzil an die 20.000 katholische Ordensleute die Klöster verlassen haben und sich laisieren ließen, dann ist dies schon ein Zeichen dafür, das dieses Konzil die Kirche für die Auseinandersetzung mit dem modernen Zeitgeist nicht gestärkt, sondern geschwächt hat. Wenn Erzbischof Eder in einem Hirtenbrief von „reißenden Wölfen“ spricht, die in die theologischen Fakultäten eingedrungen seien und man sich zugleich manche Lehrveranstaltungen auf diesen Fakultäten und in den Priesterseminaren ansieht, dann verstärkt sich dieser Eindruck in gravierendem Maße. Und wenn nun Kardinal Ratzinger, der Präfekt der Glaubenskongregation selbst, eine Reform der Liturgiereform fordert, weil die neue Liturgie mit ihrer Zelebration versus populum und etlichen anderen Elementen schlicht glaubensschädigend wirke, dann wird schon deutlich, daß das „Aggiornamento“ der Reformer nicht nur nicht hilfreich für die Kirche bei der Bewältigung der Probleme und Herausforderungen unserer Zeit war, sondern grosso modo sogar schädigend.

Neue Religiosität

Und doch: Wo die Not am größten, wächst das Rettende auch. Bemerkenswert an den zitierten Studien ist, daß der Glaube an Gott in den letzten zehn Jahren wieder zugenommen hat. Statt 28 % glauben nun 31 % an einen persönlichen Gott, ebenso hoch liegt der Zuwachs bei dem Glauben an ein nicht personales Gottesbild; der Glaube an ein Leben nach dem Tod stieg sogar von 44 % auf 50 % – und überall waren es speziell die Jugendlichen, die sich von atheistischen und materialistischen Weltbildern abwandten und vor allem zu diesem Anstieg der statistisch meßbaren Durchschnittsreligiösität der Gesamtbevölkerung beitrugen. Während 37 % aller Österreicher davon überzeugt sind, daß nach dem Tod in jedem Fall alles aus sei, sind es unter den Jugendlichen nur 22 %. Freilich ist diese Hinwendung gerade der Jugend zur Gottsuche heute nicht unbedingt christlich bestimmt. 32 % der Jugendlichen und damit um 5 % mehr als von der Gesamtbevölkerung glauben an die Reinkarnation – und damit fast so viele wie an Jesus Christus. Unausgegorene und oft diffuse Vorstellungen aus dem Dunstkreis des „New Age“ nehmen immer mehr Menschen für sich ein, während die heutige Kirche offenbar immer weniger in der Lage ist, den Heranwachsenden überzeugende Antworten in Glaubensfragen zu geben.
Dagegen entfalten traditionalistische katholische Gruppierungen, die an der überlieferten Form des Gottesdienstes festhalten und das „mysterium fidei“, das Geheimnis des Glaubens, die Mystik, Sakralität, das Wunder und die Anbetung in den Vordergrund stellen, weit mehr Anziehungskraft. Und besonders auf der konservativen Seite angesiedelte Katholiken wie Martin Kriele, Robert Spaemann und ihr spiritueller Lehrer, Valentin Tomberg, haben gezeigt, daß von dieser Seite auch Brücken zu den mehr „esoterischen“ religiösen Vorstellungen aus dem Umkreis der Anthroposophie und ähnlicher Bewegungen führen. Vielleicht liegen gerade da Potentiale noch unausgeloteter Spiritualität und noch ungegründeter Orden, die die Zukunft der Katholischen Kirche mitprägen können.

Die statistischen Daten bezüglich der Katholischen Kirche in Österreich sind zitiert aus dem dreibändigen Werk von Hermann Benz und Christian Friesl (Hg.), „Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa“, „Die Konfliktgesellschaft. Wertewandel in Österreich 1990– 2000“ und „Experiment Jung-Sein. Die Wertewelt österreichischer Jugendlicher“,  zusammen 759 Seiten, brosch., Czernin-Verlag, 2002, e 20,20.
Die Beispiele „katholischer“ Lehren heute und der protestantischen Situation stammen aus den äußerst lesenswerten „IK (Initiativ-Kreis)-Nachrichten“, die vom Pfarramt in A-4921 Hohenzell herausgegeben werden und den gesamtdeutschen Sprachraum behandelt (Tel./Fax: 07712/24 55).
Zum Verhältnis Katholizismus-Anthroposophie aus ebenso konservativ-katholischer wie nicht unreflektiert anthroposophie-feindlicher Sicht vgl. Martin Kriele, „Anthroposophie und Kirche. Erfahrungen eines Grenzgängers“, Herder, 1996. Zur Lehre Valentin Tombergs vgl. dessen von Martin Kriele und Robert Spaemann herausgegebenes Hauptwerk „Die großen Arcana des Tarot“ (Mit einer Einführung von Hans Urs von Baltasar). Zwei Bände, zusammen 748 Seiten, geb., Herder, 1983, e 81,–.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com