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Humboldt oder Hollywood?

Von Hans B. von Sothen

Über das Verschwinden von Kultur und Bildung im globalen Zeitalter

Der alles beherrschende kulturelle Einfluß der USA wird nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika, Asien und Afrika als etwas Zwiespältiges angesehen. Einerseits ist es eine unabweisbare Tatsache, daß insbesondere die Elite der Zweiten und Dritten Welt außerordentlich stark und positiv von der amerikanischen Kultur beeinflußt ist. Amerikanische Musik, Mode, Filme, Lebensart kommen mittels Radio, Fernsehen, Kino, Internet in den hintersten Winkel der Erde. Kino- und Fernsehproduktionen sind die wirkungsvollsten ideologischen Waffen, über die eine solche exportorientierte „Geschäftsdiplomatie“ wie die der USA verfügt, so der Attac-Gründer Ignacio Ramonet.1  Allein zwischen 1985 und 1994 ist der Marktanteil amerikanischer Filme von 56 auf 76 Prozent gestiegen. In den 50 landesweit ausgestrahlten Fernsehkanälen und Pay-TV hatten amerikanische Produktionen 1997 einen Programmanteil von 53 Prozent.

Dennoch rührt sich in vielen Ländern der Welt Widerstand gegen die Zerstörung nationaler und lokaler Kulturen. Das Konzept der Schüler Samuel Huntingtons zur globalen Übernahme der universalen amerikanischen Zivilreligion als Ersatz für zu wenig fortschrittsgeneigte und nicht ökonomiekompatible lokale Kulturen2 stößt zunehmend auf Widerstand. Von „Jihad vs. McWorld“3 ist die Rede, was in seiner Verflachung selbst schon wieder ideologisches Fast-Food ist. Zugleich konstatieren immer mehr amerikanische Kulturkritiker einen Niedergang der US-amerikanischen Kultur.4 Neil Postman konstatiert in seinem inzwischen zum Klassiker avancierten Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“5 ein schleichendes, medial zwar nicht gesteuertes, aber maßgeblich beeinflußtes, „dumbing down“, zu deutsch: eine schleichende, aber konstant fortschreitende Verblödung. 
Doch die amerikanische Gesellschaft besteht nicht nur aus den Sugababes, Britney Spears und Hollywood-Verdummung. Gerade das junge, linke nachwachsende Establishment in Europa und anderen Teilen der Welt fußt letztlich wieder in erstaunlicher Weise auf amerikanischer Kultur.6 Von Joan Baez, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Bob Dylan bis Tom Waits, Marilyn Manson, Eminem und Ozzy Ozbourne. Von Allen Ginsberg, William Borroughs, Jack Kerouac, Norman Mailer, Timothy Leary bis Noam Chomsky und Michael Moores Stupid White Men. Und die Analyse ist nicht von der Hand zu weisen, daß es gerade die 68er waren, die vor dreißig Jahren noch „Yankee go home!“ oder „SS, SA, USA!“ riefen, und trotzdem über Musik, Literatur, Drogenkonsum,7 Demonstrations-„Kultur“ usw. den eigentlichen Beitrag geleistet haben, daß Deutschland und Europa endgültig kulturell amerikanisch sozialisiert worden sind. Die 68er haben ganz Europa amerikanisch geprägt, allerdings mit einem Segment amerikanischer Intellektuellen-Kultur, das in den USA selbst inzwischen nur noch eine randständige Rolle spielt, in Europa allerdings mit Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit und anderen die „Mitte der Gesellschaft“ bilden.

Geistiges Ausbluten der Dritten Welt

Kultur ist in Europa das Randprodukt einer Bildung, die traditionell jedermann in einigermaßen vergleichbarer Qualität zur Verfügung steht. Anders in Amerika. Daß die amerikanische Gesellschaft gerade auf dem Bildungssektor Außerordentliches leistet, ist bisweilen behauptet worden. Doch ist hier Vorsicht geboten. Das in aller Welt hochgepriesene amerikanische Bildungssystem produziert in seinen durchschnittlichen Colleges und Highschools erschreckend Halbliterates. Hier gibt es eine für kontinentaleuropäische Verhältnisse unvorstellbar große Diskrepanz zwischen der Durchschnittsausbildung und der Bildung für eine hauchdünne Elite. Die USA züchtet ihre künftige Bildungselite in einigen wenigen privaten Eliteuniversitäten der „Ivy League“ heran, für die, wenn man nicht das Glück hatte, ein Stipendium zu ergattern, ein mittleres Vermögen investiert werden muß. Und sie importiert das fehlende Potential kurzerhand (denn importieren ist billiger als eine breite Ausbildung) aus der Elite anderer Länder, ob aus Westeuropa, Rußland, Indien oder der Dritten Welt, wo diese schließlich fehlt. Ein „Outsourcing“, das den Rest der Welt teuer zu stehen kommt.
Diese Entwicklung des sukzessiven Ausblutens von Drittländern durch den Import der Weltelite in die USA hat man brain drain genannt. Laut einem UNESCO-Report emigrierten zwischen 1949 und 1961 43.000 Wissenschaftler in die USA, von denen viele aus weniger entwickelten Ländern kamen. Von den etwa 11.000 Emigranten aus Argentinien in diesem Zeitraum waren über die Hälfte hochqualifizierte Techniker und Wissenschaftler. 1996 wurde geschätzt, daß 90 Prozent der Studenten aus Korea oder Taiwan niemals in ihre Heimatländer zurückkehrten.8 Diese Entwicklung hat sich auf einigen Gebieten bis in die Gegenwart noch verschärft. Für Lateinamerika9, China10, Indien11 und Rußland12 sind inzwischen exemplarische Untersuchungen zu diesem Thema angestellt worden und haben teilweise katastrophale Konsequenzen für die betreffenden Länder aufgezeigt, deren beste Wissenschaftler für teils exorbitante Summen zu einem hohen Prozentsatz in die USA wechseln. Argentinien etwa hat sich von diesem katastrophalen Verlust niemals wieder erholt. Rußland erlebt zur Zeit einen ähnlichen Totalverlust hochqualifizierter Wissenschaftler, Mathematiker, Naturwissenschaftler usw.
Ein kürzlich veröffentlichter UN-Report stellt fest, daß viele südostasiatische Staaten unter ernsten Folgen durch den brain-drain leiden.13 Mit Steuergeldern der Dritten Welt ausgebildete Akademiker werden insbesondere durch die USA zum Nulltarif übernommen. Entwicklungshilfe also durch die bitterarme Dritte Welt an die reichsten Länder der Welt, die auch dadurch nicht besser wird, daß viele „exportierte“ Wissenschaftler Geld an ihre daheimgebliebenen Familien zahlen, denn ihr Hauptkapital, ihr Wissen, bleibt diesen Ländern vorenthalten. Noch schlimmer sieht es in Afrika aus:14 Allein 21.000 nigerianische Ärzte arbeiteten 1996 im US-Gesundheitssystem, obwohl das nigerianische Gesundheitssystem katastrophal ist und von westlicher Entwicklungshilfe abhängt. 60 Prozent der in Ghana ausgebildeten Ärzte arbeiteten laut UNDP-Bericht von 1992 in Europa und Nordamerika. Die Zahlen haben sich seither noch wesentlich verschlechtert. Bereits 1979 schätzte die UNCTAD den wirtschaftlichen Verlust für jeden akademisch ausgebildeten afrikanischen Migranten auf 184.000 US-$. Umgekehrt arbeiteten 1996 schätzungsweise über 100.000 Entwicklungshelfer in Afrika, darunter viele Ärzte. Ein vernünftiges System? Wohl kaum. Da hilft es auch wenig, wenn westliche Intellektuelle sich beklagen, daß die Diskussion über den internationalen brain drain „in nationalen Kategorien gefangen“ sei. 
Wenngleich nicht in dem katastrophalen Ausmaß wie in den genannten Ländern, so ist auch für Europa ein entsprechender brain drain zu verzeichnen, der freilich auch auf ein nicht reformiertes eigenes Universitätssystem zurückzuführen ist. 2003 gilt im Falle Deutschlands: Jeder siebte promovierte Wissenschaftler wandert in die USA aus; etwa ein Drittel dieser Akademiker kehrt niemals zurück.15 Das sind höhere Auswanderungsquoten aus Deutschland als nach dem Jahr 1848.

Zerstörung der freien Universitäten

Nun ist es ebenfalls unbestritten, daß auch, wenn viele Wissenschaftler in sich entwickelnden Ländern auswandern, doch einige wieder zurückkehren und ihrem eigenen Land im Falle ihrer Rückkehr mit ihrem erworbenen Wissen helfen können. Länder wie Indien oder China hoffen auf einen solchen Effekt. Doch darauf ist dieses System nicht angelegt. Neue Entwicklungen im Zuge des Globalisierungsprozesses werden weiteres Ungemach über die Intelligenz-Exportländer bringen: Die seit einiger Zeit geplante „Liberalisierung“ von Handel mit Dienstleistungen durch das GATS (General Agreement on Trade in Services)16 wird diese Entwicklung nochmals um ein Vielfaches beschleunigen. Ein Abkommen, das insbesondere durch die OECD und die Welthandelsorganisation (WTO) forciert wird und nach der bis zum Jahr 2005 alle Mitgliedsstaaten Regeln aufgestellt haben müssen, wie mit Hochschulangeboten umzugehen sein wird, denn auch die Bildungsangebote werden dann zu den global handelbaren Gütern gezählt werden. Die armen Länder werden davon jedenfalls nicht profitieren. Nationale Bildungskulturen (etwa das Humboldtsche Universitätssystem) werden für immer eliminiert werden, und der freie geistige Wettbewerb, der im Bereich von Forschung, Lehre und Bildung bislang aus der Vielfalt solcher Kulturen entstanden ist und die europäische Geistesgeschichte seit über 800 Jahren zutiefst geprägt hat, wird von einem ökonomischen Wettbewerb abgelöst, der den geistigen Wettbewerb nicht zerstören wird, der aber die Freiheit von Forschung und Lehre in Abrede stellt, wie dieser Grundsatz inzwischen aus vielen Rechtsdokumenten (übrigens auch deutschen) fast unbemerkt Schritt für Schritt herausgenommen wird. Dieser Wettbewerb wird nicht nur das Erkenntnisinteresse innerhalb der einzelnen Fächer bestimmen, Fächer nach den Bedürfnissen von Industrie und Banken umstrukturieren, sondern auch die für dieses relativ schmale, aber einflußreiche Segment der Wirtschaft nicht relevanten Fächer als Ganze ins Abseits drängen. Wohin diese Entwicklung führen kann, zeigen die  Universitäten angeschlossenen Think Tanks in den USA, die bisweilen gleichzeitig von Geheimdiensten und Rüstungsindustrie gesponsert sind, wie etwa das Stanford Research Institute in Palo Alto,17 das hier nur stellvertretend für eine große Anzahl anderer Institute steht. Und wenn von Paul Wolfowitz, dem man als Dekan der gutbeleumundeten Washingtoner Johns Hopkins Universität nachrühmte, er habe während seiner Amtszeit die Sponsorengelder für seine Universität fast verdoppelt,18 und von dem bekannt ist, daß er nicht nur ein hervorragender Wissenschaftler, sondern auch ein prominenter Berater der CIA sowie ein sehr erfolgreicher Rüstungslobbyist und vormals Direktor des Washingtoner Politischen Planungsamtes ist, dann mag klar sein, wer an bestimmten Lehrstühlen an solchen Universitäten das Regiment übernommen hat. Hier steht natürlich überall eine riesige Menge an Forschungsmitteln zur Verfügung, die auch manchen Wissenschaftler aus Europa ins Träumen geraten lassen. Doch zu welchem Preis? Der Preis ist die Freiheit von Forschung und Lehre. Und dieser Preis ist sehr hoch. Ist es wirklich das, was sich die Verfechter des US-amerikanischen Universitätssystems für das deutsche Bildungssystem wünschen? Überdies wird diese Entwicklung, wenn ihr nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird, unsere geistige Kultur so nachhaltig zerstören, daß sich deren Folgen noch gar nicht absehen lassen.
Und Europa zeigt bereits Anzeichen, daß es seinen eigenen Bildungssektor gerade in diesem sehr empfindlichen Bereich dem amerikanischen kompatibel zu machen, sprich: ihm unterzuordnen, wünscht. „Forschung und Lehre sind frei“, so heißt es noch in klassischer Humboldtscher Diktion in Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes. Im Europäischen Verfassungsentwurf liest sich das freilich ganz anders.
Dort heißt es in einer bezeichnenden Kürzung: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.“ Die Freiheit der Lehre ist hier also schon gar nicht mehr erwähnt, sondern (typisch für europäische Politik) durch „Kunst“, also durch ein „weiches“ politisches Thema ersetzt worden. Die Humboldtsche universitäre Tradition, die in 200 Jahren eine ganz unvergleichliche akademische Hochkultur hervorbrachte, soll also wohl unter der Hand „abgewickelt“ werden. Überdies bietet dieser Entwurf nota bene natürlich die Möglichkeit, die Lehre den Einflüssen von Finanziers sowie der „korrekten“ Politik nun auch verfassungsrechtlich auszuliefern. Und wie die „Achtung der akademischen Freiheit“ aussehen könnte, wenn diese durch die Politiker und die internationale Finanzwelt „garantiert“ würde, läßt sich unschwer denken. Hier, wie fast überall, hat Europa bereits kapituliert, bevor Amerika seine Forderungen überhaupt ernsthaft und offiziell gestellt hat.
Das hochgelobte amerikanische Bildungssystem, das durch gelehrige Schüler nun auch in Europa implantiert werden soll, ist voller Tücken und auf einer tendenziell parasitären Struktur gegenüber anderen Staaten, die Auslese und erste Ausbildung einer Bildungselite bereits geleitet haben. Inzwischen warnen auch in Europa immer mehr Kenner der Materie vor der „Amerikanisierung der Universitäten“ und der damit zusammenhängenden Globalisierung dieser parasitären Strukturen. Und das nicht nur wegen des schädlichen brain drain. Der vormalige Präsident der deutschen Kultusministerkonferenz warnte vor einer unkritischen „Bachelor-Master-Euphorie“19; beabsichtigt sei letztlich die komplette Auslieferung der Universitäten von der Auswahl der Studenten bis zur Auswahl der Forschungsgebiete an die Bedürfnisse der Wirtschaft und ein Abschied von Einheit von Freiheit von Forschung und Lehre seit Wilhelm von Humboldt, die die Grundlage für den Weltruf des deutschen höheren Bildungssystems gewesen ist.

Mythenfabrik Hollywood

Für den riesigen Rest, der nicht in den US-Eliteuniversitäten ausgebildet wird, bleibt in den USA die university of life. Und für solche Bildungserfahrungen ist schwerpunktmäßig Hollywood zuständig. Hollywood hat bei der Schaffung einer amerikanischen (historischen) Identität seit weit mehr als 70 Jahren in der Öffentlichkeit den Geschichtsunterricht in der Schule praktisch ersetzt. Nicht mehr an den historischen Fakten orientiert sich diese Identitätsfindung, sondern ganz archaisch an der Mythenbildung, die die Filmindustrie wieder und wieder in die Köpfe einbrennt. Hier versucht niemand mehr wie einst Leopold von Ranke, herauszufinden, „wie es eigentlich gewesen“, hier werden Pawlowsche Hunde durch die immergleiche Geschichtswertung für die Stimmungsdemokratie konditioniert.
Die Verwischung der Grenzen zwischen Hollywood und Realität geht bisweilen so weit, daß ganze Militärprogramme unter Ronald Reagan nach dem damaligen Kinokassenschlager „star wars“ (Krieg der Sterne) benannt wurden. Das war nicht nur eine Popularisierung eines der teuersten Rüstungsprogramme der Welt, sondern gleichzeitig auch eine Popularisierung des Krieges insgesamt. Hier interpretiert nicht mehr der Film die Realität, sondern er selbst wird Herr über sie.
Kritische Zeitzeugen berichten, daß es in den 30er Jahren geradezu handgreiflich gewesen sei, wie in den amerikanischen Kino-Wochenschauen innerhalb kürzester Zeit eine offensichtlich gezielte Verblödungsstrategie platzgegriffen habe: politische Beiträge seien konstant gekürzt worden, während geistleere Beiträge über Filmsternchen, Unterhaltungsindustrie und Sport exorbitant innerhalb weniger Monate an Gewicht gewannen. Und dies in einer Geschwindigkeit, die weniger auf eine dialektische Wechselwirkung von Publikumswunsch und Wochenschauprogramm schließen ließ als vielmehr auf eine konzertierte Aktion der Leitung der verschiedenen Hollywood-Studios. Dies ist der Eindruck mehrerer Zeitzeugen, der sich anhand quantifizierbarer Untersuchungen zweifelsfrei belegen lassen könnte. Eine erfolgreiche Pressekampagne in den USA gegen Großbanken und Großindustrie, wie sie in der progressive era der Jahrhundertwende um 1900 durch die muckrakers erfolgreich geführt wurde und die schließlich in die (wenn auch letztlich nutzlosen) Anti-Trust-Gesetze mündete, wäre heute undenkbar, da es eine ähnlich kritische und politisch urteilsfähige Öffentlichkeit in den USA seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr gibt. Eine Entwicklung, die in Europa mit über 50jähriger Verspätung durch die zunehmende Beliebtheit von Sendern à la RTL, RTL2, der Explosion des Angebots auf dem Unterhaltungssektor usw. inzwischen einzusetzen scheint. Die Tendenz zum Häppchen-Journalismus und Infotainment als Ersatz zusammenhängender Nachrichtensendungen ist weltweit unübersehbar. Diese Entwicklung begann mit der Kolonisierung des lateinamerikanischen TV-Marktes, der seit den 50er Jahren damit begann, die Sehgewohnheiten der Menschen in diese Richtung zu lenken. Die Abfolge der Bildschnitte, nicht nur in den brasilianischen „Telenovelas“, sondern auch in den Informationssendungen, wurde immer kürzer. Schon in den 70er Jahren durfte dort keine Szeneneinstellung länger als 10 Sekunden dauern, weil der an immer kürzere Einstellung gewöhnte Zuschauer sonst wegzappte. Eine Entwicklung, die in Europa mit der Privatisierung der Fernsehanstalten in den 80er und 90er Jahren und dem damit verbundenen massenhaften Eindringen amerikanischer Serien massiv einsetzte. Die Videoclips bei MTV und VIVA scheinen das offenbar irgendwann auf Zehntelsekunden verkürzen zu wollen. So werden die bildlichen und akustischen Eindrücke scheinbar immer vielfältiger, tatsächlich tritt aber letztlich ein Zustand der Überreizung ein, der Denk- und Urteilsunmündigkeit. Eine Mischung, die Überreizung, Konzentrationsschwäche, Vergeßlichkeit und nervöse Müdigkeit erzeugt. Ruhige, kühle Analysen sind in einer solchen Atmosphäre schwer, wenn nicht unmöglich geworden. Ständige nervöse Anspannung führt notwendig zu geistiger Abschlaffung. Eine Absicht, eine Art gezielter, inzwischen globaler „Verblödungsstrategie“ ist immer wieder dahinter vermutet worden, um die Menschen durch Brot, Spiele und Drogen besser governable zu halten, dies bleibt aber eine unbeweisbare Theorie. Der Gedanke, einen Zusammenhang zwischen dem Fortbestand einer Demokratie und dem tatsächlichen Bildungsstand seiner Bürger herzustellen, ist aber keineswegs neu. Eine Republik, also die Möglichkeit des Bürgers als gleichberechtigtes und in Maßen mündiges Mitglied an einer demokratisch verfaßten Gesellschaft teilnehmen zu können, war bereits für einen Mann wie Thomas Jefferson ohne eine umfassende Bildung nicht denkbar. Wer in der Sache des Volkes mitbestimmen wollte, mußte die Grundlagen dafür haben.
Die Kulturindustrie ist nicht nur faktisch in US-amerikanischer Hand (auch wenn einige wenige Firmen keine amerikanischen Namen tragen, so sind sie, wie Sony, in ihrem Kultur-Management doch faktisch amerikanisch), sondern sie üben auch eine völlig neue Form der Macht aus. Jeremy Rifkin zieht eine verheerende Bilanz: „AOL-Time Warner, Disney, Viacom und Sony sind nicht nur Medienkonzerne, sie sind die globalen Kontrolleure des Zugangs zum gesamten Spektrum kultureller Erfahrungen, des Tourismus, der Themenparks und Unterhaltungszentren, des Gesundheitsgeschäfts, von Mode und Cuisine, Sport und Spielen, von Musik und Film und Fernsehen, von Buchverlagen und Zeitschriften […] Dadurch, daß sie die Kommunikationskanäle kontrollieren, und dadurch, daß sie die Inhalte formen, die gefilmt, gesendet oder ins Internet plaziert werden, gestalten [sie] die Erfahrungen von Menschen überall auf der Welt. Diese Art der überwältigenden Kontrolle menschlicher Kommunikation ist beispiellos in der Geschichte.“
Im Filmgeschäft Hollywoods werden mittlerweile gut die Hälfte der Kinoeinnahmen außerhalb der USA eingenommen. Auswirkungen auf die Geschäftsstrategie wird dies nicht haben. Nicht einmal vermehrt ausländische Schauspieler werden zu sehen sein, denn, so Amy Pascal, die Chefin des Hollywood Studios „Columbia Pictures“: „Wenn Sie global denken, brauchen Sie Weltstars, so wie Sie eben universell vermarktbare Geschichten brauchen.“20 Und „universell vermarktbar“ ist eben nur das US-amerikanische Kultur-Modell. Übersetzt heißt dies: Es gibt überhaupt keine erzählwürdigen Geschichten mehr – außer den „universell vermarktbaren“. Kultur, die nicht global produktfähig ist, hat de facto auch ihre eigentliche, nämlich regionale Existenzberechtigung verloren. Und die linken europäischen Kulturmanager helfen auch noch beflissen bei der ganzen Entwicklung mit, fühlen doch auch sie sich einem universalistischen Kulturbegriff innerlich verbunden.  

Welt- statt Volksmusiken

In den Musikläden konnte man seit Anfang der 90er Jahre eine merkwürdige Entdeckung machen: Was an Platten und CDs dort an regionaler Musik angeboten wird, von Lateinamerika über Irland, Bayern bis Japan, und was bis in die 80er Jahre in den Regalen unter „Folklore“ stand, findet sich seither unter „Weltmusik“ wieder. Wer weiß, daß solche Begriffe in der Musikindustrie nicht von der Basis, also vom Kunden her, geprägt werden, ahnt, daß auch hier eine unmerkliche ideologische Zentralisierung der Begrifflichkeit stattgefunden hat. Ein kleines, vielleicht nebensächliches Beispiel, aber eben erhellend genug für die Rolle, die man von den Kulturglobalisten den kulturellen Besonderheiten in der Zukunft zugedacht hat. Auch für die „Weltmusik“ gilt: Weg von den Besonderheiten der Völker, hin zu einer allgültigen Sonderform des allgemein Menschheitlichen. Vermischung der „sounds“ auf der Basis amerikanischer Musik, ein musikalisches und kulturelles crossover, das vor allem der Kompatibelmachung, sprich Einverleibung, anderer Kulturen dient.  Das Besondere, und Ungewöhnliche, an das sich unsere Ohren erst gewöhnen müßten, wird stattdessen mit einer einheitlichen braunen Sound-Soße übergossen, so daß es schließlich jedermann irgendwie bereits bekannt vorkommt. Nicht das Verständnis des kulturell Fremden oder eine aus den Umständen sich entwickelnde kulturelle Befruchtung (wie beim algerischen Rai) ist bei dieser Kultur-Hybridisierung also letztlich das Ausschlaggebende, sondern eine imperiale Unterwerfung. Eine ähnliche Entwicklung des unmerklichen Kulturimperialismus hat es ansatzweise auch in der Sowjetunion gegeben, wo man begonnen hatte, etwa die Weisen der estnischen Volksmusik unterschwellig in russisch-orthodoxer Tonalität gesungen zu veröffentlichen, um sie so auch kulturell ins Weltreich einzufügen.
Auch in der europäischen und speziell der deutschen Diskussion über die Globalisierung von Kunst und Kultur werden von westlich geprägter Seite fleißig Nebelkerzen geworfen. Der öffentlich wahrnehmbare Diskurs umfaßt vor allem die Auseinandersetzung zwischen den postmodernen Multikulturalisten und den universalistischen Globalkulturalisten. Das Bemühen um nationale und regionale kulturelle Identitäten ist dagegen in Europa  weitgehend verdrängt. Aber eben nur dort. Kulturelle Gemeinschaften „als ethnisch-nationales Paradigma“, das sei bloß eine Vorstellung der deutschen Romantik seit Herder, verfügt zum Beispiel der Berliner Ethnologe Wolfgang Kaschuba. Bei aller Weltläufigkeit der Argumentation, in anderen Erdteilen kann er sich also noch nicht allzu häufig aufgehalten haben. Kultur, das ist für die meisten postmodernen bürgerlichen Linken und Liberalen das Konzept der „Option und Offerte im Gegensatz zu einer ererbten Zwangsidentität“. Mag auch der Publizist Micha Brumlik zunächst ganz postmodern die Unterscheidung von Kultur und Barbarei ablehnen, er fällt doch bereits im nächsten Satz in den selben universalistischen Fehler zurück, wenn er meint, das Ziel sei „eine alles umspannende Interpretation von Kultur als Universum aller symbolischer Zeichen und jeder Form des Zusammenlebens“. Die Frage bleibt: wer gibt diese „alles umspannende Interpretation“ und setzt sich damit auf den Stuhl des universalen kulturellen Diskursbeherrschers? Am nächsten kommt wohl der Kölner Kulturwissenschaftler Tom Holert der Wahrheit, wenn er feststellt, es gebe keine kulturpolitischen Konzepte für den Dialog der Kulturen. Vielmehr entscheide ein weltweites Netz darüber, wer zu der globalen Kunstproduktion dazugehöre und was diese überhaupt sei. Auf den Großausstellungen würden die Parameter der „neuen Weltkunst“ festgelegt; dominierend sei noch immer der westliche Kunstmarkt, vor allem das New Yorker Kunstsystem.
Was New York für den Kunstmarkt der intellektuellen künstlerischen High-Brow-Avantgarde ist, ist Hollywood für die popoläre Kunst. Was als politische oder historische Wahrheit von den Massen öffentlich geglaubt wird, hängt weniger von der Berichterstattung der Qualitätszeitungen der Ostküste und schon gar nicht von den Forschungsergebnissen ab, die in den University Presses veröffentlicht werden, sondern von Hollywood und den Talk- und Reality-Shows im Fernsehen. Was die meisten Amerikaner über ihre Geschichte, von den Indianern, der Sklavenbefreiung, den Nazis oder Pearl Harbor wissen, das wissen sie in der Regel nicht aus den Büchern, sondern aus Kino und Fernsehserien. Daß etwa die seriöse internationale Historiographie längst weiß, daß Franklin D. Roosevelt von den japanischen Bombardierungsplänen lange vor ihrer Realisierung wußte und somit wissentlich die Toten dieses Luftangriffs mitzuverantworten hatte, führt längst nicht dazu, daß auch Hollywood dieses Wissen dem amerikanischen Volk vermittelt. Nur so ist es zu erklären, daß sich kein nennenswerter öffentlicher Widerspruch in den USA entfaltete, als man von regierungsamtlicher Seite die Geschehnisse des 11. September 2001 mit denen von Pearl Harbor verglich.
Das Zeitalter globalisierter Massenmedien hat begonnen und geht einher mit den globalen Möglichkeiten der Massenmanipulation und des imperialen Überwachens und Strafens. Die Vorherrschaft der Western-Style-Kultur ist dabei nur eines der Mittel zur „Befriedung“. Ihr Ergebnis wird, wenn ihr nicht Widerstand entgegengesetzt werden wird, kulturelle Verödung sein. Dieser kulturellen Gleichschaltung, sei es unter dem Vorzeichen amerikanischen Way-of-life-Exports oder der europäischen Menschheitsvereinheitlichung, gilt es, zu widerstehen und den nationalen Kulturbegriff neu zu definieren, dem weltweit die Zukunft gehören wird.

Anmerkungen

1 Ignacio Ramonet, Imperium Americanum. In: „Le Monde Diplomatique“ („taz“/„WoZ“), Februar 1997-1.
2 Samuel P. Huntington und L. R. Harrison (Hrsg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen, Hamburg/Wien 2002
3 So der Titel des Buches von Benjamin R. Berber, Coca-Cola und Heiliger Krieg. Jihad vs. McWorld. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit, Zürich 1996.
4 Katherine Washburn, John Thornton (eds.), Dumbing Down: Essays on the Stripmining of American Culture, New York, London: W. W. Norton, 1997; Morris Berman, Kultur vor dem Kollaps? Wegbereiter Amerika, Frankfurt am Main 2002.
5 Neil Postman, Amusing Ourselves to
Death: Public Discourse in the Age of Show Business, New York: Elizabeth Sifton Books, 1985 (deutsch: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main 1985, 14. Auflage 2002).
6 Vgl. dazu etwa: „Das andere Amerika“. In: „Facts“ (Zürich), Nr. 5 vom 30. 1. 2003, S. 94–98.
7 Dazu: Martin A. Lee, Bruce Shlain, Acid Dreams: The Complete Social History of LSD, the CIA, the Sixties, and Beyond, New York: Grove-Atlantic 1985. ²New York 1992.
8 James A. Perkins, Foreign Aid and the Brain Drain. In: „Foreign Affairs“, July, 1966, S. 617.
9 Carlos E. Cortés, The Latin American Brain Drain to the United States, New York: Arno Press, 1980.
10 David Zweig, China’s Brain Drain to the United States: Views of Overseas Students an Scholars in the 1990s, Berkeley CA: Institute of East Asian Studies, 1996; Benedikt Madl, Auslandsstudium, Brain-Drain und Regierungspolitik am Beispiel der VR China, Frankfurt am Main 2002.
11 Binod Khadria, The Migration of Knowledge Workers: Second Generation Effects of India’s Brain Drain, New Delhi u.a.: Sage, 1999.
12 Stanislav J. Simanovskij, et al., Brain Drain from Russia: Problems, Prospects, Way of Regulation, Commack, NY: Nova Science Publications, 1996.
13 www.geocities.com/~dvadi/articles/ braindrain.html
14 Zum folgenden vgl.: The Courier ACP-EU, No. 159, Sept./Oct. 1996, S. 59 f.;
www.euforic.org/courier/159e_oyo.htm
15 Immer mehr Akademiker verlassen Deutschland. In: „Welt am Sonntag“, Nr. 8 vom 23.  Februar 2003, S. 4.
16 Vgl. zum Thema GATS: die offizielle Seite der WTO: www.wto.org/english/ tratop_e/ serve/gatsqa_e.htm sowie dem Weltbank-Strategiepapier zur Globalisierung der Bildung: www1.worldbank.org/education/tertiary
Vgl. auch: www.education-is-not-for-sale.de Zu den juristischen Grundlagen des GATS vgl.: Mathias Kohler, Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), Berlin 1999. Die Linke scheint diese wirklich brisante Entwicklung einmal wieder auf das Thema Studiengebühren reduzieren zu wollen und wird durch diese Banalisierung letztlich – wieder einmal – zum Mithelfer einer Entwicklung werden, die aufhalten zu wollen sie vorgibt.
17 Jürgen Bruhn, Der Kalte Krieg, Gießen 1995, S. 80 f. Zur Rolle solcher Think Tanks in der Rüstungsindustrie und im Militärisch-Industriellen Komplex der USA vgl. ebd. S. 106 ff.
18 Ronald Brownstein, Nina Easton, Reagans’s Ruling Class: Portraits of the Top 100 Officials, Washington D.C.: 1982.
19 Jutta Pilgram, „Hochschulreform darf kein Abbruchunternehmen werden“. Der scheidende Präsident der Kultusministerkonferenz, Hans Joachim Meyer, warnt vor Amerikanisierung der Universitäten. In: „Süddeutsche Zeitung“ vom 30. Dezember 1999.
20 „Ich liebe Spektakel“. Interview mit Amy Pascal. In: „Der Spiegel“, Nr. 43 vom 21. Oktober 2002, S. 104–107 (107).

 
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