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Die Sixtusaffäre – Verrat an Deutschland?

Von Wolfgang Dvorak-Stocker

Bis heute ist es der größte Vorwurf, der gegen den letzten österreichischen Kaiser immer wieder erhoben wird: Er habe seinen Bündnisgenossen verraten und einen Sonderfrieden auf Kosten Deutschlands mit der Entente schließen wollen. Dieses geschickt von Clémenceau in die Welt gesetzte Gerücht stimmt nach allen Ergebnissen der Geschichtsforschung freilich überhaupt nicht. Dennoch wird es nach wie vor von weiten Kreisen geglaubt: Ein Beispiel dafür, wie wenig die gemeinhin anerkannten „Urteile“ einer Gesellschaft mit der Wirklichkeit zu tun haben müssen.

Als Kaiser Karl Ende November 1916 im Alter von 29 Jahren den Thron bestieg, war er von großer Friedenssehnsucht erfüllt. Er kannte das Elend der Soldaten an der Front aus ureigener Anschauung und richtete seine ganze Energie auf einen baldigen Friedensschluß. Ein Weg zur Anbahnung von Gesprächen war leicht gefunden. Seine beiden Schwäger Sixtus und Xavier, die als Kriegsfreiwillige im königlich-belgischen Heer dienten, sollten die Mittlertätigkeit zwischen Wien und Paris übernehmen. Schon diese Tatsache – daß zwei Brüder Kaiserin Zitas gegen Österreich im Felde standen – wurde oft als Beleg für die „Unzuverlässigkeit“ der Kaiserin und ihren „verderblichen“ Einfluß auf den jungen Monarchen gewertet. Doch Zita – von der im übrigen auch zwei Brüder im österreichischen Heere dienten – war, wie in der Hocharistokratie jener Tage üblich, durch ihre Heirat zur absolut loyalen Österreicherin und Habsburgerin geworden – nicht anders als die russische Zarin Alexandra, deren Brüder aus dem Hause Hessen-Darmstadt ja auch für das Deutsche Reich im Felde standen. Es war weder außergewöhnlich noch ehrenrührig, wenn Mitglieder ein- und derselben Familie je nach ihrem eigenen Lebensweg verschiedenen Staaten loyal verbunden waren, verwandtschaftliche Bindungen quer über die Grenzen hinweg waren der Normalfall: Auch Kaiser Wilhelm und der englische König waren Vettern ersten Grades.

Die ersten Verhandlungen

Bald nachdem der erste Kontakt hergestellt war, übersandte Sixtus dem Kaiser Ende Jänner als Verhandlungsgrundlage vier Forderungen, die er allein, ohne Rücksprache mit der französischen Regierung, aufgestellt hatte. Sie betrafen den Anspruch Frankreichs auf Elsaß-Lothringen in den Grenzen von 1814 (also inklusive Saarland und Landau), die Wiederherstellung Belgiens und Serbiens sowie das Desinteresse Österreich-Ungarns an Konstantinopel. Durch den Kurier des Kaisers, den Grafen Erdödy, ließ Sixtus Karl zudem zwei Briefentwürfe zukommen, von denen der eine auf einen offenen, der andere auf einen verschleierten Bündnisbruch hinauslief. Karl sollte wahlweise einen der beiden verwenden. Doch ging der Kaiser auf diese Vorschläge überhaupt nicht ein, stattdessen wurden dem Prinzen die Verhandlungsrichtlinien des Außenministers Graf Czernin übermittelt. Punkt 1 lautete: „Das Bündnis zwischen Österreich-Ungarn, Deutschland, der Türkei und Bulgarien ist absolut unauflöslich, ein Separatfrieden einer dieser Staaten ist für immer ausgeschlossen.“ Bezüglich Elsaß-Lothringens äußerte sich der Außenminister diplomatisch-zurückhaltend, Karl jedoch versicherte in einem handschriftlichen Zusatz: „Wir werden Frankreich unterstützen und mit allen Mitteln auf Deutschland Druck ausüben.“ Doch zum ersten Punkt machte der Kaiser keine Ergänzung: Die unverbrüchliche Bündnistreue der Donaumonarchie blieb festgestellt, lief doch auch der zitierte Zusatz Karls darauf hinaus, daß ein allgemeiner Frieden das Ziel war.
Nahezu gleichzeitig begann Frankreich in Bern Friedensfühler auszustrecken, hier klangen die Forderungen wesentlich moderater als jene des Prinzen, auch wurde eindeutig ein allgemeiner Frieden angestrebt. Dadurch gelangte man im österreichischen Außenamt zur Überzeugung, daß ein Gesamtfriede in greifbarer Nähe sei, und begann, Druck auf Deutschland auszuüben. Dies geschah u. a. am 16. März auf einer Kriegszielkonferenz in Wien, wo der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg erklärte, als Minimum strebe Deutschland den Erwerb der Erzlager von Briey-Longwy im Austausch gegen Teile von Elsaß-Lothringen an, als Maximum diesen Erwerb ohne Abtretungen an Frankreich. Daraufhin setzte man ihm hart zu, Karl erklärte ohne Umschweife, daß Österreich-Ungarn bis Herbst Frieden machen müsse und „Deutschland einen Teil von Elsaß-Lothringen werde herausgeben müssen“. Schließlich konnte Graf Czernin im Kronrat erklären: „Wenn Deutschland Frankreich und Belgien herausgibt und noch etwas dazu, dann ist der Friede da. Der Reichskanzler hat mir dieses Opfer strenggeheim zugesagt.“ Über die Relevanz dieser Zusage mag gestritten werden, auf jeden Fall befand sich Karl im guten Glauben, seinem Schwager Unterstützung in einem Wunsche zusagen zu können, dessen Erfüllung ihm wenigstens teilweise schon zugesichert worden war.
Wenige Tage später, am 22. März, trafen Sixtus und Xavier incognito in Wien ein. Sixtus hatte in Paris erfolgreich – und tatsachenwidrig – den Eindruck erweckt, das Habsburgerreich strebe einen Sonderfrieden an, und dafür die Zustimmung in der französischen Staatsführung erhalten. Dieses Ziel voranzutreiben, war das Ziel seiner Reise nach Österreich. Mit einem gefälschten reichsdeutschen Friedensangebot auf Kosten der Donaumonarchie wollte er hier Karl für seine Pläne gewinnen. Über den Verlauf des Treffens selbst existiert als einzige Quelle die Darstellung des Prinzen Sixtus, die kaum zuverlässig ist. Das Ergebnis allerdings wurde aktenkundig: Es handelt sich um den berühmten ersten Kaiserbrief. Ein möglicher Bündnisbruch wird in ihm nicht angedeutet. Karl bittet Sixtus nur „geheim und inoffiziell Herrn Poincaré (dem französischen Präsidenten) zur Kenntnis zu bringen, daß ich mit allen Mitteln und durch Anwendung meines ganzen persönlichen Einflusses bei meinen Verbündeten die gerechten Rückforderungsansprüche Frankreichs in bezug auf Elsaß-Lothringen unterstützen werde“. Damit bot der Kaiser seine Vermittlung für einen Frieden mit Deutschland an.
Von einem nationalstaatlich denkenden Standpunkt aus mag es verwerflich erscheinen, wenn Karl von „gerechten“ Ansprüchen in bezug auf Elsaß-Lothringen spricht. Doch ein solches Denken mußte dem Herrscher eines übernationalen Reiches fremd sein, in dem etliche Volksgruppen – wie Italiener und Rumänen – lebten, deren eigentlicher „Nationalstaat“ jenseits der Grenzen lag. Als undiplomatisch und vorschnell muß es aber bezeichnet werden, in Verhandlungen eine Forderung des Gegners sofort als „gerecht“ zu akzeptieren, insbesondere wenn sie auf Kosten des Verbündeten geht. Die Friedenssehnsucht und politische Unerfahrenheit des jungen Kaisers hatten wohl zu dieser problematischen Formulierung geführt.

Druck auf Deutschland

Die versprochene Einflußnahme auf das Reich – welche ja schon begonnen hatte – setzte Österreich-Ungarn nun jedenfalls verstärkt fort. Ein erneuter Vorstoß erfolgte am 26. März in Berlin, wo Graf Czernin neuerlich von der nötigen Abtretung eines Teils von Elsaß-Lothringen sprach und österreichische Zugeständnisse hinsichtlich Serbiens in Aussicht stellte. Die wichtigste Aktion aber war das Monarchentreffen am 3. April in Homburg. Kaiser Wilhelm, der von der Aufnahme der Gespräche schon wußte und einverstanden gewesen war, wurde jetzt über den Inhalt informiert. Sowohl Kaiser Karl als auch Czernin verlangten von der deutschen Führung energisch einen Verzicht auf ganz Elsaß-Lothringen, wofür Österreich Galizien mit Polen vereinigen würde, das dann als Ganzes dem deutschen Reich angegliedert werden sollte; um den eigenen Verlust aufzuwiegen, wollte man Rumänien anektieren. Diese massive Forderung rief nun doch nach der späteren Schilderung des deutschen Reichskanzlers Bethmann-Hollweg „starkes Befremden“ hervor, denn „die Anwartschaft (auf Polen) taugte nichts, und die freiwillige Zession der ganzen Reichslande (war) für uns unannehmbar“. Doch Österreich fuhr fort, über die jeweiligen diplomatischen Vertretungen in Wien und Belgien starken Druck auszuüben, dessen Höhepunkt die Denkschrift des Grafen Czernin vom 12. April war: Österreich-Ungarn könne militärisch und ökonomisch nicht mehr lange durchhalten, die psychische Belastung der Bevölkerung schüre – auch in Deutschland – die revolutionäre Gefahr, an einen Sieg sei nach dem Kriegseintritt der USA nicht mehr zu denken: „Im Spätsommer muß um jeden Preis Schluß gemacht werden.“ Die Note hätte ihre Wirkung in Berlin nicht verfehlt, wenn das österreichische Außenamt diese nicht selbst geschmälert hätte. Denn zur gleichen Zeit wurde die deutsche Botschaft in Bern von italienischer Seite um Vermittlung gebeten, doch der konsultierte Außenminister Czernin schloß territoriale Konzessionen an Italien schlichtweg aus. Berlin konstatierte, daß „die tapfere Sprache merkwürdig mit der pessimistischen Stimmung kontrastiere, die aus Wien berichtet wird“ – wie Wolfgang Steglich in seinem grundlegenden Werk über die Friedensversuche des Jahres 1917 bemerkt.
Unterdessen ging im April/Mai der französische Kampfwille zu Ende, ausgedehnte Meutereien brachen los, und die Regierung konnte nur durch rücksichtsloses Durchgreifen den totalen Zusammenbruch verhindern. Auch wenn man die wahre Dramatik der Situation nicht erfaßte, drangen doch einige Nachrichten von der prekären Lage Frankreichs bis nach Wien. Daher intensivierte Österreich-Ungarn die Friedensbemühungen so, man vermutete, daß die Franzosen einfach nicht mehr weiterkämpfen würden, wenn Deutschland auf Elsaß-Lothringen verzichtete. Und doch setzte sich gerade jetzt die Siegfriedenspartei in Frankreich endgültig durch: Ribot wurde Ministerpräsident. Erstes Anzeichen der veränderten Lage war, daß die Berner Kontakte trotz der katastrophalen Lage in Frankreich abgebrochen wurden. Dem österreichischen Unterhändler, Graf Mensdorff, erklärte man, Frankreich und vor allem England wollten Deutschland demütigen und ganz besiegen. Ein Friede mit Österreich-Ungarn sei nur unter der Voraussetzung der Trennung vom Reich möglich. Dazu war man in Wien nicht bereit, Mensdorff reiste ab.
Dennoch war es dem Prinzen Sixtus gelungen, Ribot, Poincaré und den englischen Premier Lloyd George wiederum davon zu überzeugen, daß die Donaumonarchie eigentlich einen Separatfrieden anstrebte. Nur so ist es zu verstehen, daß er die Genehmigung zu einer weiteren Reise nach Wien erhielt. Als einziges Hindernis betrachteten die Staatsmänner der Entente die italienischen Forderungen, und so drängte Sixtus Karl, in direkte Verhandlungen mit Rom einzutreten. Als der Prinz am 8. Mai in Wien eintraf, wurde ihm vom Kaiser erklärt, daß Italien schon einen Frieden auf Basis der Abtretung des Trentino angeboten hätte. Karl aber wollte mit einer Antwort solange warten, bis er von seiten Frankreichs und Englands eine definitive Antwort auf sein Friedensangebot erhalten habe.

Sixtus‘ Fälschung

Auch für die zweite Verhandlungsrunde existiert als Quelle nur die unzuverlässige Schilderung des Prinzen Sixtus, der den Eindruck zu erwecken versucht, Österreich wäre jetzt aufgrund der Intransingenz der Deutschen zu einem Sonderfrieden bereit gewesen. Der von Karl verfaßte zweite Kaiserbrief spricht aber nicht davon: Während im von Sixtus ausgearbeiteten (und von ihm selbst veröffentlichten) Entwurf etwa vom „Abschluß eines Separatfriedens zwischen der Monarchie und der Entente, während der Krieg zwischen dem Deutschen Reich und ihr fortgesetzt wird“ die Rede ist, fehlen im Brief Karls alle diesbezüglichen Stellen und Sätze, im Gegenteil, er spricht von einem „ehrenvollen Frieden“ – womit wohl kaum ein Bündnisbruch gemeint sein konnte.
Eindeutig entlarvt sich die Haltung des Bourbonen aber durch das aide-memoire des Außenministers, das ebenfalls in Wien als offizielles Dokument übergeben wurde. Czernin, der bereits von den Beschlüssen der Londoner Konferenz, welche die Zerschlagung der Monarchie bewirkt hätte, Kenntnis hatte, forderte vor allem Garantien für die Integrität Österreich-Ungarns und schloß einseitige Gebietsabtretungen ohne Kompensationen aus. Wörtlich heißt es: „Eine definitive Antwort kann erst nach Beantwortung der vorstehenden zwei Punkte (Integrität der Monarchie und keine einseitigen Gebietsabtretungen) gegeben werden, da Österreich-Ungarn erst dann mit seinen Verbündeten in Besprechungen eintreten kann.“ Sixtus übersetzt die Passage wie folgt: „Aussitot que les deux conditions susmentionèes auront acceptèes par l’Entente, l’Autriche-Hongrie pourra conclue la pais séparèe avec l’Entente. Alors seulement elle mettra ses alliès actuels au courant de la situation.“ Der Unterhändler fälschte damit den offiziellen Text der einen Regierung, um bei der anderen das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorzurufen! Da Sixtus aus dem Nichts heraus den Wunsch Österreich-Ungarns nach einem Separatfrieden erfand, verkehrte sich auch die Forderung nach Aufrechterhaltung der Monarchie in ihr schieres Gegenteil. Ursprünglich als Schutz gegen die Beschlüsse der Entente auf der Londoner Konferenz gedacht, schien sie jetzt Hilfe gegen ein feindliches Deutsches Reich erbitten zu wollen!
Dennoch wurden die Verhandlungen nie weitergeführt. Im Lager der Entente hegte man wieder mehr Siegeshoffnungen, zumal Kerenskij Kriegsminister in Rußland geworden war und sich die Siegfriedenspartei in Frankreich endgültig durchgesetzt hatte. Der italienische Premier Sonnino, für den das Londoner Protokoll bloß ein Minimalziel darstellte, verhinderte sogar die Informierung seines Königs, von dem er, vielleicht mit Recht, eine größere Aufgeschlossenheit bezüglich Friedensverhandlungen befürchtete. Gemeinsam mit Ribot verhinderte er eine Fortführung der Gespräche.
Unterdessen – und diese Umtriebe nicht ahnend – informierten Kaiser Karl und Graf Czernin sowohl den deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg als auch den Botschafter Graf Wedel vom Angebot der Entente und verschwiegen dabei nicht, daß diese einen Sonderfrieden anstrebte. Schon dadurch wurde deutlich, daß weder der Kaiser noch sein Minister einen offenen Bruch mit dem Bündnispartner wollten, im Gegenteil, ihr Ziel war es, alles zu tun, Deutschland in die Friedensregelung einzubeziehen.

Zur Rolle des Prinzen Sixtus von Bourbon-Parma

Die ganze Sonderfriedensidee wie auch die seltsamen Vorbedingungen für diesen Frieden mit Österreich-Ungarn, die allein zu Lasten dessen Verbündeter gehen sollten, konnten nur aus dem politischen und nationalen Niemandsland kommen, in welchem die Parmas als depossediertes Haus lebten, nur dynastische Sonderinteressen verfolgend. Bloß Kaiserin Zita hat, wie Robert A. Kann in Übereinstimmung mit anderen Fachhistorikern betont, immer nur österreichische Interessen vertreten. Ihr Bruder hingegen offenbart seine Haltung deutlich in seinem eigenen Buch. So schlägt er Österreich als Kompensation für Gebietsabtretungen an Italien das Somaliland vor! Wörtlich: „…au point de vue Autrichien, la nouveauté d’avoir un territoire en Afrique ne pourrait que plaire, surtoit en échange d’une bande d’irredentistes, tapageurs et insupportables. Le negre vaut mieux que l’irredentistes.“ Kann: „Soviel zur Psychologie des Bourbonen, der Neger und Italiener, Irredentisten und Kolonialvölker tauschen will wie Briefmarken und Kronen.“ Sixtus glaubte offenbar, seine Aspirationen auf den französischen Thron mit Elsaß-Lothringen als Morgengabe voranbringen zu können, und schreckte dabei vor Dokumentenfälschung nicht zurück.

Zur Bewertung Kaiser Karls

Eindeutig geht aus allen Dokumenten und dem gesamten Verhandlungsablauf hervor, daß Verrat nie im Sinne des Kaisers und schon gar nicht in den Intentionen seines Ministers gelegen hatte; sie waren nur bereit, im Einverständnis mit ihren Bundesgenossen zu handeln, um einen ehrenvollen, allgemeinen Frieden herbeizuführen. Kaiser Karls Interesse an einem baldigen Frieden war freilich größer als das des Reiches, denn Deutschland konnte zwar besiegt, gedemütigt, bis zur Ohnmacht geschwächt werden, jedoch nicht zerschlagen und ausgelöscht wie die Donaumonarchie. Für Österreich ging es, besonders nach dem Londoner Protokoll, um Leben oder Tod. Und wenn sogar ein Bismarck schreibt: „Keine große Nation wird je zu bewegen sein, ihr Bestehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern“, so kann man dem Kaiser seine teils gewagten Versuche keinesfalls zum Vorwurf machen: die Vertragstreue brach er nicht. Sogar ein dem Kaiser so ungünstig gesonnener Historiker wie Gerhard Ritter, der Karl als den „Typus des fürstlichen Dilettanten“ bezeichnet und auch sonst ein sehr negatives Bild des jungen Monarchen entwirft, muß zugestehen, daß offener Bündnisbruch oder gar ein Verrat von ihm nicht geplant wurde.
Der einzige Vorwurf, der bestehen bleibt, ist, daß Karls undiplomatisch-offene Sprache zu weit ging: Die Bereitschaft, „territorialen Opfern seiner Bundesgenossen glatterdings zuzustimmen, in eigener Sache aber eine völlig intransingente Haltung einzunehmen“ (Robert A. Kann), konnte weder bei Freund noch Feind Eindruck erwecken oder zielführend sein. Das war Konzessionsbereitschaft am falschen Punkt. Problematische Friedensfühler zu Lasten des Partners hatten allerdings auf österreichischer wie auf deutscher Seite eine gewisse Tradition – die eigenen Opfer sollten möglichst gering, die des Verbündeten jeweils größer sein – der falsche Weg war das bestimmt.
Dabei dachte man freilich immer an eine „Kompensation“ für den Bündnispartner. Österreich hatte Deutschland Polen als Ersatz für Elsaß-Lothringen in Aussicht gestellt, und Deutschland war 1915 – was wenige wissen – sogar soweit gegangen, Österreich für eine Abtretung des Trentino eine teilweise Rückgabe von Schlesien anzubieten!

Kaiser Wilhelm und die Rückgabe Schlesiens

Dieses „schlesische Angebot“ (vgl. dazu den umfassenden Aufsatz von Egmont Zechlin in „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“, 9/1963), zu dem sich Kaiser Wilhelm nach schwersten inneren Konflikten schließlich doch durchgerungen hatte, zeigt, wie weit der deutsche Kaiser für einen Frieden zu gehen bereit war. Kaiser Karl hat diese Haltung Wilhelms mit deutlichen Worten gewürdigt: „Er war der einzige, der die Lage richtig erkannte und in Friedensbestrebungen gleich dachte wie ich. Doch konnte er mit seinem Willen nicht durchdringen. Kaiser Wilhelm hat die rechtzeitige Beendigung des Krieges vor dem Niederbruch des Reiches durch Österreich-Ungarn erhofft. Ich werde nicht weniger die Verantwortung zu tragen haben als Kaiser Wilhelm. Wir haben immer treu zusammengestanden. Die wahren Schuldigen am Weltkrieg und an dessen Verlängerung werden aber nicht nur frei ausgehen, sondern auch das Urteil über uns sprechen.“

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