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Die Kirche und das Dritte Reich

 Von Pater Lothar Groppe SJ

Fast gleichzeitig erschienen im Sommer 2002 zwei Bücher zum selben Thema, die allerdings zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Während Goldhagen die Kirche zum Sündenbock für den Holocaust macht, spricht Löw mit Blick auf das Gros der Geistlichkeit und der kirchentreuen Laien von einer Zeit der Bewährung.

Während sich Goldhagen der „Gnade der späten Geburt“ auf einem anderen Stern (USA) erfreut, weiß Löw, Jahrgang 1931 und unweit des ersten deutschen Konzentrationslagers (Dachau) aufgewachsen, aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. Seine Fakten und Dokumente sind eingerahmt in die Schilderung der gefährlichen Hilfe seiner eigenen Eltern für die Juden.
Goldhagens Buch hingegen strotzt von Infamie und unglaublichen Fehlern. Typisch hierfür ist bereits das Umschlagbild. Im Buch selbst bringt er es noch einmal mit der Unterschrift: „Ein katholisches Wegzeichen und ein antisemitisches Schild wachen 1935 einträchtig über ein fränkisches Dorf.“ Wer auch nur ein wenig sachkundig ist, merkt, daß es sich um Fotomontage handelt. Die Tafel mit der Aufschrift „Juden sind hier nicht erwünscht“ wurde erst nachträglich in das Bild kopiert. Das als Bezugsquelle genannte Bildarchiv „Preußischer Kulturbesitz“ erklärt: „Wir haben nicht das Original, nur einen Abzug. Wir kennen den Fotografen nicht. Wir wissen nicht, um welches Dorf es sich handelt. Nein, es geht nicht um ein reales Dorf, sondern um eine Veranschaulichung einer fiktiven Erzählung.“ Geradezu kriminell, wenngleich bis heute nicht strafbar, sind die folgenden Sätze Goldhagens: „In den letzten Jahren ist deutlich geworden, daß viele überkommene Vorstellungen über den Holocaust und die NS-Zeit einer umfassenden neuen Untersuchung bedürfen… Was Deutschland angeht, ist das der Mythos vom Terror, der Mythos vom Zwang…“
Goldhagen zitiert aus zahlreichen Büchern, die seine Grundthese bestätigen sollen. Zwar führt er das Werk des jüdischen Historikers und Theologen Pinchas E. Lapide „Rom und die Juden“ als Quelle an, bringt aber keinen einzigen Hinweis darauf, daß dieser in seinem „Anti-Hochhuth-Buch“ nachweist, daß die katholische Kirche unter Pius XII. mindestens 700.000, wahrscheinlich aber sogar 860.000 Juden vor dem sicheren Tod gerettet hat, mehr als alle anderen Kirchen, das Internationale Rote Kreuz und die Alliierten zusammengenommen (S. 188).
Über dieses 1967 erschienene Werk urteilte der Londoner „Jewish Chronicle“: „Hätten denn Papst Pius XII. und seine Kirche überhaupt mehr tun können?“ Das informative Buch des jüdischen Journalisten Jenö Levai „Papst Pius XII. hat nicht geschwiegen“ bleibt unerwähnt. Hier wird deutlich, daß Goldhagen darauf abzielt, mit Pius XII. zugleich die katholische Kirche zu diskreditieren. Natürlich erfährt der Leser auch nicht, daß von 55 Protestnoten des Vatikans an die Reichsregierung allein zwischen 1933 und 1939 lediglich 11 überhaupt beantwortet, deren Beschwerden aber als unbegründet zurückgewiesen wurden. Außenminister von Ribbentrop erklärte im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, es habe „eine ganze Schublade voller päpstlicher Proteste gegeben“.

Christlicher Antijudaismus

Goldhagens Grundthese behauptet, die katholische Kirche sei zutiefst antisemitisch. Daher habe sie seit Anbeginn einen „eliminatorischen Antisemitismus“ geschürt. Dieser sei in einen „exterminatorischen Antisemitismus“ übergegangen und habe schließlich nach Auschwitz geführt. Gewiß trifft es zu, daß es in der Kirche Jahrhunderte hindurch einen Antijudaismus gegeben hat, der aber mit Antisemitismus im heutigen Verständnis nichts zu tun hat. Er war einmal darin begründet, daß Juden, keineswegs aber „die Juden“, Christus verworfen haben und von Pilatus seinen Tod forderten.
Dies läßt Goldhagen aber nicht gelten, sondern er bezeichnet alle entsprechenden Passagen im Neuen Testament als böswillige Fälschungen. Mit derselben „Begründung“ könnte man natürlich die Behauptung, die Nazis hätten Millionen Menschen ermordet, als Brunnenvergiftung zurückweisen. Insgesamt 450 antisemitische Stellen glaubt Goldhagen ausgemacht zu haben. Es müßte ihn eigentlich stutzig machen, daß Jesus, dessen Mutter und die Apostel samt und sonders Juden waren. Dasselbe gilt für die ersten Christen. Alles Antisemiten?
Paulus, der nach Goldhagen sozusagen zu den Urvätern des Antisemitismus zählt, gibt im 1. Korintherbrief den wesentlichen Grund für den Antijudaismus an, der tatsächlich viele Gläubige geprägt hat: „Diese (nämlich die Juden) haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie mißfallen Gott und sind die Feinde aller Menschen; sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen. Dadurch machen sie das Maß ihrer Sünden voll“ (2, 15 ff.).
Der Antijudaismus wurzelte nicht zuletzt auch im Talmud, dem Nachschlagewerk und der Rechtsquelle für Lehre, Kult und Gesetz des Judentums. In ihm finden wir zahlreiche christenfeindliche Aussagen, und der Name Jesus wird stets mit schmähenden Zusätzen wie Betrüger, Bastard und ähnlichem gebraucht. Bereits Papst Martin V. wies aber 1422 die antijüdische Polemik der christlichen Prediger zurück: „Wir wollen, daß jeder Christ die Juden mit menschlicher Milde behandelt und ihnen weder an Leib noch an Gut ein Unrecht zufügt.“
Schon vor Hitlers Machtergreifung verurteilte die Kirche den Antisemitismus. Im Dekret des Hl. Offiziums von 1928 heißt es: „Wie der Heilige Stuhl allen Haß und alle Feindschaft unter den Völkern verwirft, so verdammt er ganz besonders jenen Haß, den man gemeinhin mit Antisemitismus zu bezeichnen pflegt.“
Gegen die Deportation der Juden aus Rom protestierte Pius XII. Der deutsche Botschafter v. Weizsäcker stellte die Dinge jedoch so dar, als hätte es keinen Protest des Papstes gegeben. Daher wurde kolportiert, der Papst habe sich nicht für die Juden Roms eingesetzt. Tatsächlich ordnete dieser an, die römischen Ordenshäuser sollten ungeachtet der Klausur Juden aufnehmen.
Löws Buch „Die Schuld“ schildert im ersten Teil das Verhältnis der Christen zu den Juden von 1900 bis in die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Weder Antisemitismus noch Antijudaismus waren bestimmend, vielmehr nahm die Zahl der Juden, die den katholischen Parteien Deutschlands ihre Stimme gaben, laufend zu und erreichte 1932 an die 30 %. Kurz nach Hitlers Machtantritt begann der Kampf gegen Judentum und Christentum, da die Kirche nicht den Verlockungen der Nationalsozialisten erlag, sondern immer wieder betonte: Das Sittengesetz setzt unserer Loyalität gegenüber dem Staat unaufgebbare Grenzen. Insofern beruft sich Löw auf die kirchenamtlichen Verlautbarungen und die seriöse Zeitgeschichtsforschung.

Die Kirche in der Sicht des Nationalsozialismus

Neu in Löws Buch ist insbesondere Teil zwei: Wie haben die Nationalsozialisten das Verhältnis von Christen und Juden gesehen und gewertet? Die Fülle der Zitate belegt: Da sich die Kirche mit ihren Getreuen in der Judenfrage nicht nachgiebig zeigt, ist sie letztlich ebenso zu bekämpfen wie das Judentum, aus dem sie hervorgegangen ist. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen.
Die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands, das Parteiorgan der NSDAP, der „Völkische Beobachter“, schrieb am 1. August 1938: „Der Vatikan hat die Rassenlehre von Anfang an abgelehnt. Teils deshalb, weil sie vom deutschen Nationalsozialismus zum erstenmal öffentlich verkündet wurde, und weil dieser die ersten praktischen Schlußfolgerungen aus der Erkenntnis gezogen hat; denn zum Nationalsozialismus stand der Vatikan in politischer Kampfstellung. Der Vatikan mußte die Rassenlehre aber auch ablehnen, weil sie seinem Dogma von der Gleichheit aller Menschen widerspricht…“
Das schönste Lob verdankt die Kirche ausgerechnet Hitlers Geheimer Staatspolizei (Gestapo): Es hat sich „einwandfrei ergeben, daß die katholische Kirche in Deutschland in betonter Ablehnung der deutschen Judenpolitik systematisch die Juden unterstützt, ihnen bei der Flucht behilflich ist und kein Mittel scheut, ihnen nicht nur die Lebensweise zu erleichtern, sondern ihnen auch illegalen Aufenthalt im Reichsgebiet möglich zu machen. Die mit der Durchführung dieser Aufgabe betrauten Personen genießen weitestgehende Unterstützung des Episkopats und gehen sogar so weit, deutschen Volksgenossen und deutschen Kindern die ohnehin knapp bemessenen Lebensmittelrationen zu schmä
lern, um sie Juden zuzustecken.“
Teil III von „Die Schuld“ bietet eine Auswertung und Zusammenfassung. Hieraus einige Punkte:
Die katholische Kirche hat vor Hitlers Machtergreifung den Nationalsozialismus mit aller Entschiedenheit öffentlich bekämpft. Das Zentrum, die mehrheitlich katholische Partei des Reichs, war ebenso judenfreundlich eingestellt wie ihre Schwester, die Bayerische Volkspartei. Beide wurden deshalb von den Nationalsozialisten scharf angegriffen.
Offenkundig existieren keine Dokumente, die darauf schließen lassen, daß die Nationalsozialisten zu irgendeiner Zeit in den Kirchen Bundesgenossen erblickten, somit auch keine Komplizen in ihrer Judenpolitik.
Die Kirchen, vor allem die katholische Kirche, wurden von den Nationalsozialisten als einzige nennenswerte innenpolitische Gegner gewertet.
Die kirchen- und bekenntnistreuen Christen hätten – anders als die Juden – ihre Verfolgung durch Anpassung beenden können.
Die Juden erfuhren seitens der Christen um so mehr Solidarität, je härter ihre Verfolgung war. Dies galt in herausragender Weise für Wien, wo die meisten Juden lebten.
Die von Kardinal Innitzer gegründete „Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ betreute über 4.000 Juden seelsorglich sowie mit Lebensmitteln, Kleidung, ärztlicher Versorgung und Rechtsbeistand. Ihrem Leiter, dem deutschen Jesuiten P. Ludger Born, standen 23 Helferinnen zur Seite. Neun von ihnen wurden selber ins KZ deportiert. Lediglich eine überstand die Hölle von Auschwitz.
Es gibt Äußerungen Hitlers und anderer führender Exponenten des NS, daß die Kirchen nach dem erträumten „Endsieg“ zur „Liquidierung“ vorgesehen waren.
Bezeichnenderweise erhob sich niemand derer, die in der Zeit der Unterdrückung dem Ungeist der Diktatoren unter oft schwerster Verfolgung widerstanden, zum Ankläger der vergangenen Epoche. Dies blieb jenen vorbehalten, denen die „Gnade der späten Geburt“ zuteil wurde. Schon Karl Jaspers stellte fest: „Ein Angriff auf den Papst hat Zugkraft“. Medienleuten und Journalisten bietet sich ein weites Betätigungsfeld.
Als Fazit der beiden Bücher läßt sich feststellen: Während sich Löw offenkundig bemüht, Licht und Schatten gerecht zu verteilen, kümmert sich Goldhagen nicht um die historische Wahrheit, sondern arbeitet mit Halbwahrheiten, Unterstellungen und der Unterdrückung von Tatsachen. Sein Machwerk ist geeignet, den christlich-jüdischen Dialog erheblich zu belasten.

Daniel Jonah Goldhagen: Die Katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, 476 S., Siedler Verlag, Berlin 2002, € 25,60

Konrad Löw: Die Schuld. Christen und Juden im Urteil der Nationalsozialisten und der Gegenwart, 360 S., Resch Verlag, Gräfelfing 2002, € 24,70

 
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