Archiv > Jahrgang 2003 > NO IV/2003 > Ein Islam mit europäischem Antlitz? 

Ein Islam mit europäischem Antlitz?

Von Karl Richter

Der Westen hat ein Problem mit seiner Moral. Man muß das Thema ansprechen, weil man die Zustände, in denen sich die Industriegesellschaften eingerichtet haben, sonst glatt für normal halten könnte. Sind sie aber nicht. Der säkulare Liberalismus, mit dessen Auswüchsen wir täglich konfrontiert werden, ist eine Frucht der Aufklärung. Sie hielt sich viel darauf zugute, den Menschen aus seiner „Unmündigkeit“ zu befreien, indem sie die geschichtete, religiös grundierte Ordnung des Mittelalters zunächst einer langanhaltenden rationalistischen Kritik unterzog und sie dann – in der Französischen Revolution – gewaltsam beseitigte. Seither hält sich die abendländische Menschheit für „emanzipiert“: zuvorderst von Kirche und Obrigkeit, in weiterer Folge von Bindungen und Traditionen jeglicher Art.

Zweihundertfünfzig Jahre Aufklärung haben genügt, den Emanzipationsprozeß auf die Spitze zu treiben. Die westlichen Gesellschaften befinden sich im Zustand weitgehender Atomisierung. Alle haben sich abgenabelt: die Bürger vom Staat, die Gläubigen von ihren Kirchen, die Schüler von ihren Lehrern, Kinder von den Eltern. Wer darin unbedingt einen Fortschritt sehen will, dem ist nicht zu helfen. Er weiß es vermutlich nicht anders.

Moralischer Ausnahmezustand

Es bleibt aber dabei: aufs historische Ganze gesehen, praktiziert die westliche Welt den Ausnahmezustand. Veranstaltungen wie die Berliner Love Parade und der schwul-lesbische Christopher-Street-Day sind nämlich mitnichten „normal“. Jährliche Abtreibungszahlen, die in die Hunderttausende gehen, sind ebenfalls alles andere als normal. Es ist auch nicht „normal“, daß Kultureinrichtungen wie die Theater flächendeckend zu Kloaken umfunktioniert werden, auf deren Bühnen auf Teufel komm raus kopuliert, gezotet, gehöhnt wird. Schiller sah im Theater eine „moralische Anstalt“ und muß auf einem anderen Stern gelebt haben. „Normal“ ist auch nicht, daß sich eine Gesellschaft die permanente Besudelung ihrer religiösen Bilder bieten läßt, was hierzulande in Talkshows und Kabaretts zum guten Ton gehört. Und alles andere als „normal“ ist auch die allgegenwärtige Pornographie am Zeitungskiosk, auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen, in den 0180er-Werbeclips der Privatsender. Das alles hat wenig mit Freiheit zu tun, aber viel mit Endzeit. Der Verlust der Scham, wußte schon Freud, ist der erste Schritt zur Demenz.
Es mag sein, daß sich der einzelne längst viel zu sehr an alles gewöhnt hat, um sich noch zu entrüsten oder, im anderen Extrem, durch die Reizüberflutung aus dem Häuschen zu geraten. Wir haben uns eingerichtet, und die Dinge sind eben, wie sie sind – inklusive gepiercter Bauchnäbel und osteuropäischer Mädchenhändlerringe.
Allerdings entschuldigt das überhaupt nichts. Der moralische Ausnahmestatus des Westens drängt sich beim Vergleichen auf. Kein Moslem kann nachvollziehen, was sich in vorgeblich christlichen Ländern abspielt. Kein anderer Kulturkreis hat sich derart radikal von seiner Tradition, seinem Herkommen verabschiedet wie der westliche. Vom überlieferten Kanon der Gesittung sind bestenfalls noch die Begriffshülsen übriggeblieben, während das, was Europa einmal groß gemacht hat, unter einer dicken Schicht hedonistischer Lava begraben liegt. Die Prägekraft überpersönlicher Werte wie Gott, Gemeinschaft, Vaterland ist praktisch dahin. Innerhalb weniger Generationen hat sich das Antlitz der Alten Welt von Grund auf verändert, ein beispielloser Vorgang. Hat uns der „Untergang des Abendlandes“ doch noch eingeholt? Oder anders gefragt: wieviel Zukunft hat Europa noch?

Das Abendland am Ende?

Tatsächlich spricht vieles dafür, daß der abendländische Lebenszyklus an sein Ende gekommen ist. Die „Fellachisierung“, wie Spengler das Verfallsstadium alt gewordener Kulturen nannte, ist mit Händen zu greifen. Die demographische Entwicklung tut ihr übriges, und die Aneignung unseres Lebensraumes durch Massen vitalerer, risikofreudigerer Zuwanderer ist in vollem Gange. Das Entscheidende bei alledem scheint aber, daß Europa seine Seele verloren hat. Die alten Götter – einschließlich des christlichen – sind tot, ihre Tempel und Kirchen verwaist, das Papsttum auf dem besten Wege, eine museale Erinnerung zu werden. In der künftigen europäischen Verfassung ist kein religiöser Bezug vorgesehen. Die Wüste wächst.
Indes: nur der abendländische Kosmos scheint davon betroffen. Andere Kulturkreise, hinter denen immer eine prägende religiöse Idee wirksam ist, erfreuen sich ungebrochener Vitalität: der konfuzianische, der buddhistisch-hinduistische. Und vor allem der islamische.
Auch Europa wird ohne eine große, tragende Idee nicht überleben. Nivelliert auf unterstem Niveau, seiner Identität beraubt, wird es vielleicht noch einige Generationen, vielleicht Jahrhunderte weiterexistieren: als Kontinent ohne Gesicht, den andere schon unter sich aufzuteilen begonnen haben. Rom endete so und Byzanz und das Sassanidenreich vor dem Ansturm der Araber. Für absterbende Völker kennt die Geschichte keine Reservate.
Die Transformation der abendländischen Welt hat womöglich längst begonnen. Die größten Wahrheiten kommen nach Nietzsche immer auf Taubenfüßen. Auch Rom nahm die Germanen zunächst nicht als diejenigen wahr, die das Imperium einmal beerben würden. Es blieb Tacitus vorbehalten, dem weitblickenden Historiker der Kaiserzeit, an den Völkern des Nordens nicht nur ihre ungebärdige Wildheit, sondern auch ihre überlegene Moral wahrzunehmen; seine „Germania“ bezeugt noch heute sein prophetisches Gespür.
Eine ketzerische Frage: werden im Europa des 21. Jahrhunderts die islamischen Minderheiten die Rolle der Barbaren spielen? Und dem Abendland seine neue Form geben wie dem Imperium der Völkerwanderungszeit die Germanen?

Wem nützt der „Kampf der Kulturen“?

Man muß sich, um darauf eine Antwort zu finden, von plakativen Parolen freimachen, die das Fremde allzu schnell als feindlich abstempeln. Gerade in Zeiten eines hysterischen Krieges gegen den „Terror“, der hierzulande von transatlantischen Lakaien wie Schily und Beckstein zelebriert wird, ist dieser Hinweis doppelt wichtig. Wer sich unreflektiert vor den antiislamischen Karren spannen läßt, spielt das Spiel Washingtons und sitzt obendrein einer verlogenen Kreuzzugsrhetorik auf, die niemandem weiterhilft. Ins Fäustchen lachen sich andere, die sich das Stück mit dem zugkräftigen Titel „Kampf der Kulturen“ (Samuel Huntington) schon vor vielen Jahren ausgedacht haben: aber nicht zum europäischen, sondern zum amerikanischen Nutzen.
Bei nüchterner Betrachtung bleiben eine Handvoll Tatsachen und ebenso viele Arbeitshypothesen:
Erstens. Der Islam verfügt seit Jahrhunderten über Enklaven auf europäischem Boden. Sie sind Überbleibsel der Jahrhunderte währenden türkischen Über
lagerung im Südosten. Die Habsburgermonarchie, ein ungleich weiseres Europa-Modell als das der heutigen EU, hatte niemals Probleme mit ihnen, weil sie tolerant genug war, auch moslemische Untertanen seiner Apostolischen Majestät zu akzeptieren. Krampfhafte Integrationsversuche wie heute im Zeichen multikultureller Verbissenheit wurden gar nicht erst unternommen. Das gleiche gilt für die drei moslemischen Divisionen der Waffen-SS – zwei kroatische und eine albanische –, die eigene islamische Feldgeistliche besaßen, und für die sarazenische Leibgarde des Stauferkaisers Friedrich II., die im apulischen Lucera ihr eigenes Regiment führte. Europa war immer schon ein kulturell-religiöser Flickenteppich.
Zweitens. Gegen diese historischen Beispiele läßt sich einwenden, daß das Islam-Problem unserer Tage gänzlich anders gelagert ist, nämlich ethnisch: anders als die Bosniaken der Habsburgermonarchie sind Millionen Türken in Deutschland und ebenso viele Nordafrikaner in Frankreich nun einmal keine Europäer (und werden es auch durch noch so liberale Einbürgerungsregelungen nie werden). Zweifellos richtig. Doch das Problem ist nicht der Islam, sondern das schiere Bevölkerungspotential raumfremder Zuwanderer, das aus quantitativen und qualitativen Gründen nicht mehr zu verdauen ist. Das ist eine politische Herausforderung, mit der Europa in der Tat auf die eine oder andere Weise fertig werden muß. Mit dem Islam als Wertesystem hat sie nichts zu tun.
Drittens. Der Islam hat längst begonnen, die Zuwandererhochburgen zu verlassen. Er faßt Fuß in den autochthonen Bevölkerungen. Kaum registriert von der Öffentlichkeit, leben in der Bundesrepublik Zehntausende deutscher Muslime – die Schätzungen reichen von 70.000 bis 150.000 –, Männer wie Frauen, die aus freien Stücken zum Islam konvertiert sind. Sie legen sich arabische Namen bei (nicht aus multikultureller Nostalgie, sondern weil Arabisch die Sprache des Koran ist), und die Frauen tragen Schleier oder Kopftuch. Exotischer, fremder als die Transvestiten-, SM- oder Gothic-Szene ist das auch nicht, dafür um vieles seriöser, innerlicher, gesünder. Moslems betrinken sich nicht und bekiffen sich nicht. Auch in Spanien ist in den letzten Jahren – um Granada – eine bodenständige islamische Enklave herangewachsen, die eigene Wirtschaftsgüter betreibt und eine renommierte, von den Vereinigten Arabischen Emiraten gesponserte Koranhochschule unterhält. Möglicherweise sehen so die Kristallisationskerne einer langfristigen islamischen Mission im Abendland aus, der frühchristlichen nicht unähnlich. Nota bene: die Betonung liegt auf islamisch, nicht islamistisch.
Viertens. Daß die muslimische Werteordnung, so wie sie im Koran niedergelegt ist, per se nicht nach Europa paßt, ist eine Behauptung, mehr nicht. Mit gleicher Berechtigung läßt sich argumentieren, daß auch das Christentum, ebenfalls aus dem Orient importiert, in unseren Breiten nichts zu suchen hat. Im einen wie im anderen Fall muß man die geschichtliche Erfahrung dagegenhalten. Das Christentum brauchte Jahrhunderte, ehe es zur europäischen „Leitkultur“ wurde. Im Zuge dieser Assimilation wurde aus einer halbsemitischen Sklavenreligion eine Projektionsfolie, die eineinhalb Jahrtausende lang die besten Geister des Abendlandes zu unvergänglichen Schöpfungen inspirierte – der Bogen spannt sich vom altsächsischen „Heliand“ über die Troubadoure des Mittelalters bis Bach und Bruckner. Warum sollte sich Europa den Koran nicht anverwandeln können?
Fünftens. Im Zentrum der islamischen Weltsicht steht die Idee der Ordnung und der Gerechtigkeit – ein uraltes Zentralthema auch des indogermanischen Geistes, zumindest bis vor wenigen Jahrzehnten. Was ist daran fremd? Der Unterschied zwischen Orient und Okzident ist ein anderer: während sich der Westen im Zuge der Aufklärung und seiner fortschreitenden Amerikanisierung von jedweder Ordnungs-Vorstellung verabschiedet hat, hält die islamische Welt mit gutem Grund daran fest. Der Schwarze Peter ist auf unserer Seite.

Zeitbombe Überfremdung

Wir wollen bei alledem realistisch sein: der Islam ist eine Herausforderung. Niemand kann leugnen, daß es fundamentalistische Scharfmacher gibt, die die grüne Fahne des Propheten schon über dem Kölner Dom wehen sehen. Die Jahrhunderte der arabischen und osmanischen Bedrohung sind unvergessen. Es stößt ungut auf, wenn Worte wie die jenes Hodschas durch die Presse gehen, der seinen türkischen Schülern an einer Koranschule irgendwo in Deutschland prophezeit: „Dies alles wird einmal euch gehören.“ Nur: wenn die Deutschen weitermachen wie bisher, sich ihrer Reproduktion und ihrer Zukunft verweigern, wird der Mann recht behalten. Das europäische Islam-Problem sind die Europäer selbst.

Was also kommt auf uns zu?

Ist der Tag abzusehen, an dem die Scharia an die Stelle des BGB tritt?
Mehrere Zukunftsszenarien sind denkbar: ein restauratives, ein evolutionäres und ein explosives. Letzteres – der multikulturelle Bürgerkrieg auf deutschem Boden – ist nicht auszuschließen, wenn sich die demographischen Gewichte weiter so dramatisch verschieben wie in den letzten Jahrzehnten. Bevölkerungswissenschaftler haben berechnet, daß um das Jahr 2040 in allen größeren deutschen Städten Nichtdeutsche die Mehrheit stellen werden. Sie werden daraus Forderungen nach verstärkter politischer Mitsprache, nach der Einführung einer zweiten Amtssprache, zweisprachiger Straßenbeschilderung etc. ableiten. Ziert sich der deutsche Noch-Souverän, werden die Spannungen durch Dritte angeheizt. Wie man das macht, läßt sich an der Vorgeschichte des Kosovo-Konflikts studieren. Und wenn der Bürgerkrieg dann „heiß“ ist, hat die NATO ihren Interventionsgrund und kann Germany endlich unter internationale Kontrolle stellen und nach jugoslawischem Muster beliebig parzellieren. Verschwörungstheorien? Aber die Krisenszenarien liegen bei den Vereinten Nationen längst in der Schublade. Neben den neuen Bundesländern werden dort auch die südfranzösischen Ballungszentren als mögliche Krisenregionen gehandelt.
So schlimm muß es nicht kommen. Vorstellbar ist immerhin, daß sich die Deutschen im Angesicht der islamischen Herausforderung wieder auf ihre eigenen Wurzeln besinnen, das Christentum als Leitkultur reaktivieren und die multikulturelle Zeitbombe im letzten Augenblick entschärfen – das restaurative Szenario. Der „Krieg gegen den Terror“ böte dafür die ideale Legitimation. Ohne Hauen und Stechen ist allerdings auch diese Lösung nicht zu haben. Und sie setzte voraus, daß aus Bundesbürgern Konquistadoren werden. Wenig realistisch…

Ideologische Verbündete gegen Amerika?

Bleibt noch die evolutionäre Lösung: die langfristige Entstehung eines abendländischen Islams, der irgendwann die vermorschte spätwestliche Fellachenzivilisation ablöst. Ein Verlust wäre das nicht, und Kopftücher trugen die Frauen in unseren Breiten auch früher schon. Wer bei solchen Details empört die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, sollte daran denken, daß er damit die Perspektive postmoderner Großstädterinnen bedient. Die Gegenposition hat mindestens ebensoviel für sich: daß der Schleier ein Schutzmittel ist, um den weiblichen Körper der allgegenwärtigen Pornokratie zu entziehen. Eine ungewohnte, aber nachvollziehbare Argumentation.
Und noch etwas spricht für die islamische Option: die Tatsache, daß konsequenter Widerstand gegen die Amerikanisierung der Welt nur noch von Moslems kommt. Anders als liberale Abendländer halten sich glaubensfeste Moslems viel auf das Kriegerethos ihrer Religion zugute. Der Prophet Mohammed wird nicht nur als Stifter des Koran, sondern auch als Feldherr verehrt. Der Bostoner Philosophie-Professor Peter Kreeft, dessen Bestseller „Ökumenischer Djihad?“ dieser Tage in deutscher Übersetzung erschienen ist, macht darauf aufmerksam, daß ein Gutteil der wachsenden Faszination, die vom Islam ausgeht, von seiner kämpferischen Grundhaltung herrührt und der tiefempfundenen Gewißheit, den Allmächtigen auf seiner Seite zu haben: „Weil Gott seine Versprechen hält und die segnet, die seinem Gesetz gehorchen und ihn fürchten, und die bestraft, die es nicht tun.“ Vieles spricht dafür, daß man mit dieser Geisteshaltung im unruhigen 21. Jahrhundert weiter kommt als durch hedonistische Selbstverwirklichung.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com