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Antiautoritäre Erziehung – ein Nachruf

Von Ing. Helmut Kraus

Besteht eigentlich bei jeder Erziehung irgendeine spezifische Gefahr von Ungerechtigkeit? Selbstverständlich, ebenso wie bei allen Berufen und Tätigkeiten, bei denen ein ungleíches Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Partnern besteht. Beispiele dafür sind: jedes Vorgesetztenverhältnis, vor allem bei Polizei, Militär, Strafvollzug, ja sogar auch bei Ärzten, Pfarrern und ähnlichen Berufen. Bei allen diesen Fällen kann die größere Macht auch mißbraucht werden. Wenn der vorgesetzte Mensch sadistische Züge in seinem Charakter hat, die vor allem durch Minderwertigkeitskomplexe ausgelöst und verstärkt werden, wird es gefährlich. Erfahrene Psychologen schätzen ganz allgemein, daß bei etwa 20 % der Menschen mehr oder weniger Voraussetzungen für solche Fehler bestehen. Es ist unrealistisch, diese Tatsachen nicht zu sehen.
Dabei geht es nicht nur um Gerechtigkeit und Menschlichkeit, sondern auch ganz wesentlich um den Gesamterfolg. Der berühmte „Lehrer mit dem Rohrstaberl“ macht sich nicht nur persönlich unbeliebt. Er verwandelt vorhandenes Interesse für Schule, Lernstoff und Erziehungsziele sehr oft in Ablehnung bis Haß, die zu späteren Mißerfolgen führen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, daß mit Freude, Interesse, Zuneigung und ähnlichen positiven Gefühlen sowohl das Behalten von Lernstoff als auch erzieherische Ergebnisse am ehesten und dauerhaftesten zustande kommen.
Der bekannte englische Lehrer Alexander S. Neill versuchte schon 1924 beim Aufbau einer elitären, kleinen Privatschule in Summerhill diese uralten Erkenntnisse auszunützen. Er entwickelte ein erfolgreiches System, um die Freiwilligkeit und Arbeitsfreude seiner Schüler zu fördern. Er erlaubte ihnen, ohne Abmeldung den Unterricht zu besuchen oder auch nicht. Es gab bei ihm dann auch tatsächlich Kinder, die in Schulstunden ungestraft im Schulpark spazieren gingen. Freilich arbeitete er dagegen, wenn auch nur mit positiven Anreizen. So bestimmten gewählte Schülervertreter über Belohnungen und Vergünstigungen bei gutem Lernerfolg, so daß die Außenseiter ganz ohne Zwang, aber deshalb nicht minder wirksam Interesse bekamen und praktisch alle nach einiger Zeit ganz freiwillig mitarbeiteten. Er verzichtete also keineswegs auf eine zielbewußte Beeinflussung.
Seine Kritiker mußten diese Erfolge anerkennen. Andererseits wurde immer wieder eingewendet, daß dieses System bei großen Schulen und vor allem bei sehr vielen Minderbegabten oder sozial Geschädigten nicht immer funktioniert. Alexander Neill verfaßte über seine Erfahrungen viele Bücher und verwendete dabei vermutlich als erster das Schlagwort: „antiautoritäre Erziehung“. Man muß dieses Wort genau lesen: Mit „autoritär“ bezeichnet man laut Lexikon jede Methode, Macht hauptsächlich mit Zwang durchzusetzen. Herr Neill versuchte also tatsächlich, nicht autoritär vorzugehen. Erfahrene Praktiker meinen dazu allerdings, daß manche Menschen autoritären Zwang wenigstens zum Teil nötig haben. Abzulehnen ist Zwang nur als einziges Mittel. Sogar unsere christliche Religion der Liebe droht nebenbei mit den – typisch autoritären – Einrichtungen der ewigen Höllenstrafe und des Fegefeuers.

Echte Autorität

Es ist also nicht nur eine sprachliche Wortklauberei, wenn wir über den Begriff: „Autorität“ sprechen. Dabei geht es um eine Vorbildrolle, wie sie nicht durch mehr Macht und Zwang, sondern durch mehr Wissen, mehr Intelligenz, durch mehr Ansehen, Bildung oder mehr Besitz entsteht. Nirgendwo in der Welt kommen Menschen ohne Autorität als Voraussetzung aus. Niemand wird bei einer Lehrperson mitmachen, die er für dümmer oder unwissender hält als sich selbst, die also für ihn keine natürliche Autorität besitzt. Sogar der strenge Unteroffizier braucht auf die Dauer seine Autorität, die vor allem in der längeren Diensterfahrung sowie im höheren Dienstgrad begründet ist.
Der links-linken geistigen Revolte der 68er Generation gelang es, alle diese Erfahrungen auf den Kopf zu stellen und angeblich volle Freizügigkeit durchzusetzen. Man tat so, als sei im Erziehungsbereich allein eine völlige, schrankenlose Freiheit zeitgemäß. Die Schlagworte lauteten:
l„Schule ist ein Herrschaftsinstrument“ – „Rechtschreibung ist Herrschaft“. Messerscharf formuliert. Leider bedeutet auch der Straßenverkehr Herrschaft, ebenso die unentbehrlichen Gesetze unseres Landes, das Wirtschafts- und Arbeitsleben, ja sogar die gesamte Natur. Ohne Herrschaft, also ohne Zwang, funktioniert nicht einmal die Parteizentrale einer ganz linken Partei.
l„Ziffernmäßige Noten sind nur ein unnötiges Druckmittel“ klingt nur auf den ersten Blick vernünftig, stimmt aber nicht. Dagegen stimmen laut Erfahrung alle Zöglinge, die durch Interesse, durch Fleiß und Mitarbeit etwas können – also die Mehrheit Die sind bitterböse, daß sie dafür nicht die verdiente Note bekommen. Sie fühlen sich betrogen, wenn sie statt einer deutlichen Ziffer nur allgemeine Phrasen erhalten. Meßbarkeit der Leistung strebt im Prinzip jeder Mensch an, wie jederzeit schon eine Umfrage unter Volksschülern ergibt.

Seifenblase Selbstverwirklichung

„Spaß und Selbstverwirklichung sind in der Erziehung die Hauptsache“.
Auch das erweist sich bei näherem Hinschauen als reine Seifenblase.
„Spaß“ (auf neudeutsch „fun“) ist nur ein geistiges Gekitzeltwerden, eine Ablenkung etwa von den Mühen der geistigen Arbeit. Richtige Freude bekommt fast jeder Mensch nur durch gelungene Leistung, also durch Lernerfolge nach Anstrengung.
Noch dümmer ist im gesamten Erziehungs- und Lernbereich das angebliche Endziel „Selbstverwirklichung“. Schon im alten Rom gab es das geflügelte Wort: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Gerade linke Denker wollen doch gutbezahlte Arbeitsplätze für alle. Die gibt es aber nur mit einem Mindestmaß an Allgemeinbildung (Lesen, Rechnen, Rechtschreibung), weil ohne diese Voraussetzung die meisten Berufsausbildungen gar nicht zugänglich sind.
Selbstverwirklichung kommt ganz bestimmt nur im Gefolge eines passenden Berufs – und ganz bestimmt nicht für soziale Versager ohne eigenen Antrieb.

„Mit jedem Computer lernt man viel mehr als bei Frontalunterricht“.

Diesen Unsinn glauben heute sehr viele, weil sie Glotze, Handy und Internet weit überschätzen. Alle diese technischen Nutzgeräte verführen zu gedankenlosem Plappern, zum Hinschauen, ohne mitzudenken, und zum Lesen, ohne etwas davon zu behalten oder gar zu lernen. Sie erreichen daher bei weitem nicht die Wirksamkeit einer eifrigen und interessierten Lehrkraft mit ihrer persönlichen Überzeugungskraft.
Lehrer wie Eltern wurden durch das mediale Trommelfeuer von Grund auf verunsichert. Noch vor wenigen Jahrzehnten hielt die Mehrzahl unserer Landsleute eine gelegentliche „gesunde Watsche“ für zeitweise förderlich und sinnvoll. Heute gibt es Eltern, die es überhaupt nicht mehr wagen, ihren Kindern jemals zu widersprechen. Die Folgen solch widernatürlicher Feigheit sind schlimm: Schon im späteren Volksschulalter gibt es Raucher und beklagenswerte Wesen mit Alkohol- oder Drogenproblemen bei aller kindlichen Unreife.

Berufsunfähig wegen zu geringer Allgemeinbildung

Sehr viele Lehrkräfte haben Angst davor, überhaupt jemals schlechte Noten zu geben, und vollziehen ihren Kompromiß mit dem Zeitgeist stillschweigend. Auch hier ist das Ergebnis schauerlich: Nach neuen Untersuchungen sind im EU- Durchschnitt etwa 5 % der Pflichtschulabgänger berufsunfähig wegen zu geringer Allgemeinbildung. In Österreich liegt diese Horrorziffer bei 15 bis 20 %. Später schimpft man dann auf die bösen Betriebe, die nicht alle Lehrlingsanwärter aufnehmen.
Allmählich findet man zur Vernunft zurück. Der bekannte Kinderpsychologe und Hochschullehrer Friedrich hat in einem Zeitungsinterview unlängst sehr deutlich gesagt, was alle Kinder unbedingt nötig haben, nämlich: Liebe, Zuwendung und eindeutige Grenzen. Jeder heranwachsende Mensch soll und möchte eindeutig erfahren, bis zu welchen Grenzen er gehen kann. Wer in dem Wahn lebt, ihm das „ersparen“ zu können, der schädigt ihn und kann ihm die später auftauchenden Grenzen doch nicht ersparen. Niemand wird im späteren Leben alles haben und erreichen können, was man wünschen könnte!
Da ist es weit besser, wenn Elternhaus und Schule schon im Kindesalter deutlich machen: „Bis hierher und nicht weiter“. Dazu braucht es keine schädliche Gewalt oder negative Einstellung wie Hochmut oder Spott, sondern nur ruhige Festigkeit, deutliche Erklärungen und vor allem Festhalten an einmal getroffenen Entscheidungen. Alle beteiligten Erzieher müssen am gleichen Strang ziehen, dann merkt der kleine Betroffene rasch, was er darf und was für ihn schlecht wäre, und nichts – wirklich nichts wäre besser für ihn.
Antiautoritär kann sinnvoll Erziehung nur sein in des Wortes richtiger Bedeutung: so weit wie möglich – aber in sinnvollen Grenzen. Diese Grundforderung wird in Zukunft wieder aktuell. Alle Beteiligten sollten wieder lernen, sich darauf einzustellen und den Hausverstand einzusetzen anstelle dummer Phrasen aus der Mottenkiste überholter Phantasten.

 
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