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Die k. k. und die k. u. k.  Ministerpräsidenten 1867–1918

Von Nikolaus von Preradovich

Nach der Niederlage gegen Preußen im Jahre 1866 war in Österreich die Zeit für eine Aussöhnung mit den zum Kaiserhaus nach wie vor in grundsätzlicher Opposition stehenden Ungarn endgültig reif. Der damals in Wien amtierende Ministerpräsident Friedrich Ferdinand Graf Beust war allerdings mit den Interna der Donaumonarchie nicht vertraut: Der ehemalige sächsische Ministerpräsident hatte nach der Annexion seines mit Österreich verbündeten Landes durch den preußischen König den Dienstherren gewechselt und war nach Wien gekommen. Ein historisch gewiß einmaliger Vorgang, daß der Ministerpräsident eines Landes unmittelbar auf den Sessel des Ministerpräsidenten eines anderen Landes wechselt. Aufgrund seiner Unerfahrenheit in der österreichischen Innenpolitik wurden den Ungarn in den folgenden „Ausgleichsverhandlungen“ unnötigerweise alle Maximalforderungen zugestanden, was sich als schwere Hypothek für die Zukunft der Donaumonarchie erweisen sollte.
In diesem Beitrag sollen allerdings nur die Ministerpräsidenten der beiden nunmehr getrennten Reichshälften Österreich (Cisleithanien oder auch „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“) und Ungarn (oder auch Transleithanien, zu dem damals die heutige Slowakei, Kroatien und Siebenbürgen zählten) auf ihre soziale Herkunft hin untersucht werden.

Die Regierungschefs – Ministerpräsidenten – in Cis- und Transleithanien sollen auf ihre soziale und nationale Herkunft hin untersucht werden. Zuerst die Liste der Regierungschefs der österreichischen Reichshälfte:

l    Karl Fürst von Auersperg,
III. 1867–IX. 1868
l    Eduard Graf Taaffe, IX. 1868–I. 1869
l    Ignaz Edler von Plener, I. 1870
l    Leopold Ritter Hasner von Artha, II.–IV. 1870
l    Alfred Graf Potocki, IV. 1870–II. 1871
l    Karl Graf von Hohenwart, II.–X. 1871
l    Ludwig Freiherr von Holzgethan, X.–XI. 1871
l    Adolf Fürst von Auersperg,
XI. 1871–II. 1879
l    Karl von Stremayr, II.–VIII. 1879
l    Eduard Graf Taaffe, VIII. 1879–
XI. 1893
l    Alfred Fürst zu Windischgraetz,
XI. 1893–VI. 1895
l    Erich Graf von Kielmansegg,
VI.–IX. 1895
l    Kasimir Graf Badeni, IX. 1895–XI. 1897
l    Paul Freiherr Gautsch von Frankenthurn, XI. 1897–III. 1898
l    Franz Graf von Thun, III. 1898–
X. 1899
l    Manfred Graf von Clary, X.–XII. 1899
l    Heinrich Ritter von Wittek, XII. 1899–I. 1900
l    Ernst von Koerber, I. 1900–XII. 1904
l    Paul Freiherr Gautsch von Franckenthurn, I. 1905–IV. 1906
l    Konrad Prinz zu Hohenlohe-Waldenburg, 2.–28. V. 1906
l    Max Freiherr von Beck, VI. 1906–
XI. 1908
l    Richard Freiherr von Bienerth,
XI. 1908–I. 1911
l    Richard Freiherr von Bienerth,
I.–VI. 1911
l    Paul Freiherr Gautsch von Franckenthurn, VI.–XI. 1911
l    Karl Graf Stürgkh, XI. 1911–X. 1916
l    Ernst von Koerber, X.–XII. 1916
l    Heinrich Graf von Clam-Martinitz, XII. 1916–VI. 1917
l    Ernst Ritter Seidler von Feuchtenegg, 23. VI. 1917–VII. 1918
l    Max Freiherr Hussarek von Heinlein, VII.–X. 1918
l    Heinrich Lamasch, X–XI. 1918

Es handelt sich innerhalb von 51 Jahren um 30 Regierungen. Jedoch sind nur 25 Einzelpersonen festzustellen. Taaffe, Koerber und Bienerth sind zwei-, Gautsch dreimal Regierungschefs gewesen. Es zeigen sich: Ein bürgerlich Verbliebener (Lamasch) und ein Hochadliger (Hohenlohe). Es folgen neun Staatsmänner, welche dem Neuadel des 19. und 20. Jahrhunderts angehörten: Plener, Hasner, Holzgethan, Gautsch, Wittek, Beck, Bienerth, Seidler und Hussarek. Die überwiegende Mehrzahl dieser Ministerpräsidenten kommt aus Böhmen oder Mähren, die meisten stammen aus einfachen Kreisen. Des Staatsmannes Max Beck Großvater ist Gast- und Landwirt zu Butsch in Mähren gewesen. Der nähere Stammvater der späteren Grafen von Bienerth-Schmerling war Häusler und Weber zu Gerlsdorf in Mähren; dessen Sohn – der Großvater des Politikers – hat sich im einfachen Soldaten bis zum Oberleutnant hinaufgedient. Der Vater brachte es zum General und Freiherren, dessen Sohn stieg noch um eine Adelsstufe höher. Gautschens Geschlecht stammte aus Markersdorf in Böhmen. Der Vater war Kassierer beim Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Diese Männer sind nicht Ministerpräsidenten geworden, weil sie adelig waren, sondern genau umgekehrt: Sie wurden geadelt, weil sie so hohe Ämter erreicht hatten. Die Plener kamen aus Eger und die Wittek und Hussarek lassen auf germanisierte Böhmen oder Mährer schließen.
Sechs Ministerpräsidenten gehören dem älteren Adel an: Stremayr, Kielmansegg, Badeni, Clary, Koerber, Stürgkh. Die Adelsqualität und die Herkunft sind extrem unterschiedlich: die Stremayr kommen aus Tirol, die Kielmansegg aus Holstein, die Badeni aus der Walachei, die Clary aus Oberitalien, die Koerber aus Lissa und die Stürgkh aus der Umgebung von Regensburg.
Dem Uradel gehören die folgenden Familien an: Zwei Auersperg aus Krain, die im 17. Jahrhundert in den Hochadel wechselten, Taaffe aus Irland, Potocki aus Galizien, Hohenwart aus Kärnten, Windischgraetz aus der Steiermark (später hochadelig), Thun aus Tirol (wenngleich die Linie des Staatsmannes seit dem 17. Jahrhundert in Böhmen blühte), Clam aus Oberösterreich. Interessant ist der Umstand, daß von den acht uradeligen Regierungschefs nicht weniger als vier aus der Keimzelle des Habsburgerreiches kamen, dem Gebiet, das ungefähr mit dem heutigen „Österreich“ gleichzusetzen ist. Von den 51 Jahren der Gesamtlaufzeit haben diese uradeligen Prinzen und Grafen 28 Jahre die Regierung geleitet, wobei der (liberale) Fürst Adolf Auersperg mit mehr als sieben Jahren und der (konservative) Graf Taaffe mit mehr als 14 Jahren hervorstechen. Der einzige nicht erworbene, sondern gewachsene Hocharistokrat ist der Prinz Hohenlohe, der allerdings nur einen knappen Monat im Amt war. Die bürgerlich-neuadeligen Amtsträger bildeten rund zehn Jahre die Regierung, während 13 Jahre lang Staatsmänner aus altadeligen Familien den Ministerpräsidenten stellten.

Die königlich-ungarische Ministerpräsidenten ab 1867

l    Julius Graf Andrassy, 1867–1871
l    Melchior Graf Lonyay, 1871–1872
l    Josef Szlavy von Okany, 1872–1874
l    Stefan Bitto von Sarosfalva, III. 1874–II. 1875
l    Adalbert Freiherr von Wenkheim, III.–X. 1875
l    Kalman Tisza von Borosjenö, 1875–1890
l    Julius Graf Szapary, 1890–1892
l    Alexander Wekerle, 1892–1895
l    Alexander Freiherr Banffy von Losonc, 1895–1899
l    Koloman Szell von Duka, 1899–1903
l    Karl Graf Khuen-Hedervary,
VI–XI. 1903
l    Stefan Graf Tisza, 1903–1905
l    Geisa Freiherr von Fehervary, 1905–1906
l    Alexander Wekerle, 1906–1910
l    Karl Graf Khuen-Hedervary, 1905–1906
l    Ladislaus von Lukacs, 1912–1913
l    Stefan Graf Tisza, 1913–1917
l    Moritz Graf Esterhaszy, VI.–VIII. 1917
l    Alexander Wekerle, 1917–1918

Fünfzehn Männer haben 19 Regierungen in dem betrachteten Zeitraum gestellt. Alexander Wekerle war dreimal Ministerpräsident. Neben dieser Seltenheit ist noch zu bemerken: Er hat sich weder um einen Adelstitel bemüht – zum Ausgleich heiratete eine seiner Töchter einen Grafen Csaky – noch hat er seinen deutschen Nachnamen magyarisiert. Ohne ein solches Entgegenkommen war es nicht einfach, im Reiche der Stephanskrone eine erfolgreiche Laufbahn zurückzulegen. Von den restlichen vierzehn Staatsmännern gehörten sechs dem Magnaten- und acht dem sogenannten Komitatsadel an. Die Magnaten teilen sich in ur- und altadlige Aristokraten: Lonyay, Szaary, Banffy, Khuen sowie Andrassy und Esterhazy. Alle führen den Grafentitel, mit Ausnahme der Banffy, von welchen jedoch eine gräfliche Linie existiert hat. Der Komitatsadel spielte – eben in den Komitaten – eine einflußreiche Rolle. Drei Namen greifen wir heraus: einmal den bekanntesten von allen: Tisza. Die Stammreihe beginnt 1636 mit einem Georg Tisza, reichbegütert. Istvan, der nächste in der Reihe, diente als Vizegespan. Dessen Enkel ist Abgeordneter, sein Sohn Layos wirkte als Vizegespann. Dann beginnt der große Aufstieg: Kalman Tisza war 15 Jahre lang Ministerpräsident des Königreichs Ungarn. Stephan – seit 1897 Graf – war zweimal Regierungschef und diente als solcher sechs Jahre. Fast die Hälfte der neuen Laufzeit – 1867–1918 – ist von Vater und Sohn Tisza regiert worden.
Die Familie Fejervary beginnt die Stammreihe 1521. In der zehnten Generation ist der Ministerpräsident anzusiedeln. Der Vater war General, der Großvater Oberrezeptor des Komitats Gömör. Der nächste in der Ahnenreihe diente als Kapitän, die restlichen Geschlechterfolgen engagierten sich als Abgeordnete und verwalteten ihre nicht unbeträchtlichen Güter. Ladislaus von Lukacs entstammt desgleichen einer der zahlreichen Geschlechter des Komitatsadels. Dies soll hervorgehoben werden, weil es ansonsten leicht zu Verwechslungen führen könnte: Josef Löwinger, Direktor der englisch-österreichischen Bank, ist 1899 geadelt worden. Neben der Erhebung hat der Bankherr auch seinen Namen geändert. Er nannte sich von da an „Lukacs de Szeged“. Sein Sohn ist der marxistische „Philosoph“ und Literaturtheoretiker Georg von Lukacz.

Die soziale Gliederung der österreichischen und  ungarischen Ministerpräsidenten

Bei einem Vergleich zwischen den Regierungschefs in Budapest und Wien zeigen sich die folgenden Unterschiede: Von den 15 ungarischen Ministerpräsidenten ist einer bürgerlich geboren und geblieben. Die übrigen – also 90 Prozent – gehören dem Magnaten- oder dem Komitatsadel an. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts treten die letzteren mehr und mehr in den Vordergrund: Kossuth, Görgey, Deak, Tisza (Vater und Sohn), Gömbös, Horthy.
In Cisleithanien sind alle Möglichkeiten vertreten: Bürgerliche, Neuadel, älterer Adel, Uradel und Hochadel. 15 der 25 Staatsmänner gehören sehr unterschiedlichen aristokratischen Familien an, während zehn bürgerlich-neuadelig sind. Für die Wiener Reichshälfte ist der Anteil der Aristokraten verhältnismäßig hoch. Zum Vergleich: Von den sechs k. u. k. Feldmarschällen des Ersten Weltkrieges wurden drei erst selbst geadelt, die übrigen drei stammen von geadelten Vätern oder Großvätern ab. In Ungarn sind 12 der 15 Ministerpräsidenten auch Ungarn. Nur drei tragen deutsche Namen. Die Geschlossenheit der Führungsschicht ist eindrucksvoll. In Wien hingegen kamen die leitenden Männer nicht allein aus den zahlreichen, innerhalb der Reichsgrenzen lebenden Völkern, sondern auch aus Irland, Holstein, Hohenlohe, der Walachei und Italien. Möglichkeiten dieser Art hätte es im Reiche der Stephanskrone auch gegeben. In Ungarn lebten Deutsche, Tschechen, Slowaken, Serben, Kroaten und Ruthenen – an den Regierungsgeschäften ließ man sie aber nicht teilhaben.
In Ungarn herrschte bis 1918, ja eigentlich bis 1945 eine geschlossen ungarische Adelsschicht, die in einem jahrhundertelangen Ausleseprozeß entstanden war. Der andere Partner, Österreich, wurde auf gänzlich andere Art und Weise regiert. Keine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, ob sozial oder national, war am Zug. Die Herren, die in Wien amtierten, waren Männer, die eine gute Laufbahn hinter sich gebracht hatten. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen des Vielvölkerstaates, aus den übrigen Teilen des Deutschen Bundes und aus ganz Europa. Welche Art der Beherrschung für die „Untertanen“ die angenehmere war, steht freilich dahin.

 
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