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Palästina

Von Kenneth Lewan

Das Zentrum des Erdbebens

In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hat ein Kenner das kleine Palästina als Erdbebenzentrum des Vorderen Orients bezeichnet.1 Seine Ansicht hat sich im weitesten Maße bestätigt. In dieser Schrift verzichte ich auf eine Behandlung der Ausstrahlungen und befasse mich mit dem „Zentrum“, dem Verhältnis zwischen den Israelis und den Palästinensern.

Bekanntlich hat England nach dem Sieg über das Osmanische Reich Palästina besetzt und der Kolonisierung durch die zionistische Bewegung Tür und Tor geöffnet. Auf eigenen Wunsch wurde England vom Völkerbund beauftragt, Palästina treuhändlerisch zu verwalten, bis die Bevölkerung für die Selbstbestimmung reif wäre. England wurde auch auf eigenen Wunsch die Verpflichtung auferlegt, „die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk zu erleichtern“. Diese mehrdeutigen Worte konnten so verstanden werden, daß Palästina geteilt oder zu einem binationalen Staat gemacht werden sollte. Doch die Zionisten machten deutlich, daß sie einen jüdischen Staat in ganz Palästina zum Ziel hatten. Der englische Außenminister Lord Balfour schrieb später in einem Brief an Lord George, daß seine Regierung nie die Absicht gehabt hätte, Selbstbestimmung für Palästina zu ermöglichen. „Wenn die gegenwärtigen Bewohner gefragt würden, würden sie ein antijüdisches Urteil abgeben.“2
Um ihr Vorhaben durchzusetzen, verhandelte die zionistische Führung nur mit England und anderen Großmächten, nicht mit Palästinensern. In der Unabhängigkeitserklärung Israels wurde die Gründung des Staates mit dem „historischen Recht“ des jüdischen Volkes gerechtfertigt. Diese Berufung auf biblische Zeiten vor 2000 Jahren ist der weitaus häufigste Rechtfertigungsgrund, der vorgebracht wird.3 Ist das wirklich gerechtfertigt? Mit welchem Maßstab müßte man diese Begründung beurteilen? Arnold Toynbee, der namhafte englische Historiker, wendete damals ein, daß der zionistische Anspruch auf Palästina nicht verallgemeinerbar wäre. Wenn aufgrund eines vor 2000 Jahren beendeten Besitzes Besitzansprüche geltend gemacht werden, wären überall in der Welt Heimatrechte in Frage gestellt. Das sei keiner seßhaften Bevölkerung zuzumuten und könnte weltweit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen. Toynbees Auffassung entspricht der fast einhelligen Meinung der wissenschaftlichen Vertreter der Morallehre: Die Folgen für alle Betroffenen müßten berücksichtigt werden, um festzustellen, ob eine Handlung richtig ist. Dazu gehöre, daß die Entscheidung verallgemeinerbar sein müßte und nicht nur nützlich für einen der Beteiligten. Daß Gebietsansprüche nach vielen Jahren verjähren bzw. verjähren sollten, ist überall sonst eine Selbstverständlichkeit.

Enteignungen

Die Siedler haben von Anfang an die Inbesitznahme des Bodens der Palästinenser, die Beeinträchtigung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und ihre Verdrängung angestrebt, und das mit großem Erfolg. In der Mandatszeit wurden diese Schritte durch die Blockierung des Mehrheitsprinzips in den Gremien durch die Siedler und die Engländer durchgesetzt. Die Siedler bekannten sich erst 1948 zu demokratischen Verfahren, als sie die Mehrheit im Staat bildeten. Während der Mandatszeit kaufte der Jüdische Nationalfond 6–7 % des palästinensischen Bodens, 90 % davon von Großgrundbesitzern, die außerhalb von Palästina lebten. Gemäß der Satzung des Fonds durften die Grundstücke nur zugunsten von Juden verwendet werden. Nichtjuden durften sie weder kaufen noch pachten. Nach der Flucht und Vertreibung von 750.000 Arabern 1948 beschlagnahmte der neue Staat ihr gesamtes Eigentum und zwar ohne Entschädigung. Inzwischen hat der Staat mindestens 65–75 % des Bodens der im Lande gebliebenen Araber, die inzwischen Staatsbürger geworden waren, enteignet. Da die oben erwähnte Klausel des Fonds kraft eines Gesetzes das gesamte Eigentum, das dem Staat in die Hände gefallen war, betrifft, ist das Ergebnis recht unbehaglich: 93 % des Bodens in Israel kann von Nichtjuden, auch wenn sie Staatsbürger sind, weder gekauft noch gepachtet werden. Seit der Eroberung von Restpalästina 1967 hat bisher jede israelische Regierung die räuberische Inbesitznahme des besetzten Gebietes vorangetrieben: 60 % des Westjordanlandes, 30 % des Gazastreifens und 6 km2 von Ostjerusalem.
Wenden wir uns nun der Beeinträchtigung der einheimischen Wirtschaft zu. Die palästinensischen Bauern waren keine Versager in Sachen Landwirtschaft, bevor die jüdischen Siedler kamen. Sie erwirtschafteten einen großen Überschuß und verkauften ihn an die Türkei und Europa. Nach Berichten europäischer Konsule genossen alle Schichten des Volkes trotz einer hohen türkischen Besteuerung einen gewissen Wohlstand. Reisende, die sich in der Landwirtschaft auskannten, schwärmten von den Oliven- und Orangenhainen, den Weinbergen, den Getreidefeldern und dem Weideland.4

Wirtschaftliche Depression

Die Ländereien, die der Jüdische Nationalfond in der Mandatszeit kaufte, machten 20 % der landwirtschaftlich genutzten Flächen aus. Die Siedler hatten durch ihre überragenden finanziellen und technischen Mittel große Wettbewerbsvorteile, die sie mit Erfolg einsetzten. Was die Industrie betrifft, hatten die Einheimischen nur kleine Werkstätten mit wenig Angestellten. Auch ihre Entwicklung wurde durch die Siedler gebremst. Wahrscheinlich hätten sie wie in den Nachbarländern eine bescheidene Industrie aufgebaut, wenn die Kolonisierung nicht stattgefunden hätte. Mit der Entstehung des israelischen Staates wurde die Entwicklung der in Israel verbliebenen Palästinenser stark beeinträchtigt. Das geschah u.a. durch die Enteignung ihrer Grundstücke und die Bevorzugung von Juden bei der Wasserverteilung und der Vergabe von Entwicklungshilfe an die Gemeinden. Eine Folge war, daß die arabischen Arbeiter weitgehend – nach der Untersuchung eines israelischen Wissenschaftlers zu 70 % – von jüdischen Arbeitgebern abhängig wurden. Nach der Eroberung von Restpalästina 1967 ergriff Israel eine Reihe von wirtschaftlichen Maßnahmen, die auch dort schlimme Folgen für die Palästinenser hatten:
-Die Öffnung der Gebiete für israelische Waren. Damit war eine Kraft entfesselt, mit der sich die Wirtschaft der besetzten Gebiete nicht messen konnte.
-Subventionen nur für israelische Unternehmen.
-Hohe Importzölle gegen die Einfuhr von nicht-israelischen Waren in die besetzten Gebiete.
-Enteignung von Land und Entnahme von Wasser. Jüdische Siedler durften neue Brunnen bauen, die palästinensischen Bauern jedoch nicht.
-Hindernisse zur Entwicklungshilfe von außen durch schwierige Genehmigungsverfahren.5
Nun zu der Frage der Verdrängung und des Bevölkerungsaustausches. Die zionistische Führung hat in der Öffentlichkeitsarbeit beteuert, daß sie mit den Einheimischen friedlich zusammenleben wollte. Doch hat es immer zu ihrem Denken gehört, daß die Einheimischen ganz oder zum größten Teil das Land verlassen müßten. Zwei Beispiele: Chaim Weizman, der erste Präsident Israels, bat England 1934, die Araber anderswo anzusiedeln. Josef Weitz, der Leiter des Jüdischen Nationalfonds, schrieb 1967 in der Zeitung der israelischen Arbeiterpartei: „Es muß klar sein, daß es in diesem Land keinen Platz für beide Völker gibt. Es gibt keinen anderen Weg als die Umsiedlung der Araber von hier in ein Nachbarland.“ Wann immer der Fond Ländereien kaufte, bestand er darauf, daß die Käufer die arabischen Pächter und Landarbeiter, die den Boden bearbeiteten, entfernten, damit Juden an ihre Stelle treten konnten. Die Histadrut, die zionistische Gewerkschaft, setzte jüdische Betriebsinhaber unter Druck, nur jüdische Arbeiter zu beschäftigen. Eine hebräische Zeitung berichtete 1934: „Tausende Felachen-Familien haben Nablus verlassen. Tausende, die geblieben sind, haben keine Einkommensquelle. Armut ist überall.“ Der amerikanische Zionistenführer und Richter im Supreme Court Brandeis erklärte, daß „sich die arabische Frage von selbst lösen würde, weil die arbeitslosen Araber bestimmt auswandern würden“.
Es kann kaum einen Zweifel darüber geben, daß der weitaus größte Teil der 750.000 Palästinenser, die 1948 aus dem Gebiet geflüchtet sind, wo der Staat Israel entstanden ist, vertrieben wurden. Das gleiche Flüchtlingsschicksal mußten 1967 250.000 weitere Palästinenser (und 100.000 Syrer) erdulden. Die Zahl der in den besetzten Gebieten beheimateten Palästinenser, die inzwischen „freiwillig“ ausgewandert sind, ist gewiß sehr groß. Das liegt z. T. an den oben erwähnten wirtschaftlichen Maßnahmen, die die palästinensische Entwicklung weitgehend gelähmt haben. Von großer Bedeutung sind auch die umfangreichen Enteignungen und die Besiedlung des Gebiets durch die Israelis. Die Schließung von Schulen und Hochschulen war ein weiterer Anlaß, das Land zu verlassen. Was soll ein junger, begabter Mensch tun, wenn er sich nicht angemessen entwickeln kann und es demütigend findet, am Wohnungsbau für jüdische Siedler zu arbeiten? Nicht zuletzt ist anzunehmen, daß die berechtigte Furcht vor einer monatelangen Inhaftierung ohne Anklage oder vor Folter, die seit Anfang der Besatzung üblich war, manch einen zum Aufgeben bewegt hat.6

Die „Sicherheitsbedürfnisse“

Immer wieder stellen Israelis die Behauptung auf, sie und ihr Staat befänden sich in Lebensgefahr. Damit werden u.a. „Gegengewalt“, Gebietserweiterungen und die Verweigerung von Verhandlungen mit den Palästinensern gerechtfertigt. Ohne Frage, palästinensische Kämpfer haben Grenzüberfälle und Terroranschläge auf Israelis unternommen. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Sind die Kriege, die Israel geführt hat, dem Land aufgezwungen worden, wie behauptet wird? Der Kürze halber gehe ich hier nur auf einige wesentliche Tatsachen ein. Nach israelischen Verlautbarungen hätten die arabischen Staaten den UNO-Teilungsplan für Palästina abgelehnt und Israel angegriffen. Es stimmt, daß alle arabischen Staaten mit Ausnahme von Jordanien – der einzige arabische Staat, der eine schlagkräftige Armee besaß – den Plan in der Öffentlichkeit ablehnten. Aber es gab damals Geheimgespräche zwischen den zionistischen und den arabischen Führern. Die Protokolle sind inzwischen zugänglich gemacht worden. Jetzt wissen wir, daß die arabischen Führer dem Plan im wesentlichen zustimmten und nur geringfügige Grenzänderungen wünschten. Sie wußten, daß sie sich im Kampf gegen die militärisch überlegenen zionistischen Streitkräfte nicht hätten messen können. Weiterhin sind sie nur in den im Teilungsplan vorgesehenen „arabischen Teil“, nicht aber in den „jüdischen Teil“ einmarschiert. Es ging ihnen wohl darum, die weitere Vertreibung von Palästinensern zu verhindern. 300.000 waren schon vor der Ausrufung des Staates geflohen.7 Die arabische Welt rief nach Gegenmaßnahmen. Übrigens war im Plan vorgesehen, daß die Juden, die erst 30 % der Bevölkerung ausmachten, 54 % des Landes, einschließlich der ertragreichen Küste, bekommen sollten.
Der Junikrieg 1967 war ein Angriffskrieg von israelischer Seite. Ägypten hatte nicht angegriffen und war nicht im Begriff anzugreifen, als Israel losschlug. Der israelische Botschafter in der UNO behauptete das Gegenteil: „Die Endlösung stand bevor“. Die militärische Überlegenheit Israels war schon mehrmals unter Beweis gestellt worden. Ägypten war weder militärisch noch wirtschaftlich in der Lage, einen Krieg zu führen. Später haben auch vier Mitglieder des damaligen Generalstabs zugegeben, daß sie gewußt hätten, daß Nasser keine Angriffsabsichten hatte.8 Als Rechtfertigung für den von Israel begonnenen Libanonkrieg behauptete der israelische Botschafter in den UNO, dies sei eine notwendige Verteidigungsmaßnahme. Die PLO hätte wiederholt Angriffe über Israels Nordgrenze durchgeführt. Doch der UNO-General, der die Vorgänge an der Grenze beobachtet hatte, berichtete, daß die PLO seit dem Waffenstillstand zwischen Israel und der PLO elf Monate zuvor äußerste Zurückhaltung geübt hätte. Israel seinerseits hätte den Waffenstillstand hunderte Male von der Luft aus und von der See verletzt. Mehrere israelische Zeitungen berichteten, daß die Regierung sich nicht vor palästinensischer Gewalt, sondern vor der Verhandlungsbereitschaft der Palästinenser fürchtete.9
Als Unterzeichner des Genfer Abkommens hat Israel eine Reihe von Verpflichtungen auf sich genommen und inzwischen in den besetzten Gebieten vielfach dagegen verstoßen. Es handelt sich um die oben erwähnten Enteignungen und Besiedlungen, Inhaftierungen ohne Anklage, Folter und Ausweisungen aus den besetzten Gebieten.10 Zur Rechtfertigung wurden auch in diesen Fällen Sicherheitsbedürfnisse vorgeschoben, doch läßt die völkerrechtliche Verpflichtung keine Ausnahme zu.

Verhandlungen?

Israel hat sich lange geweigert, mit den Palästinensern zu verhandeln. Die PLO sei ein terroristischer Verband und wolle Israel mit Gewalt auslöschen. In ihrer Satzung hat die PLO von 1968 die Auffassung vertreten, daß ein bewaffneter Kampf das einzige Mittel zur Befreiung Palästinas wäre. Als Ersatz für den jüdischen Staat forderte die PLO einen einheitlichen Staat für Juden und Araber. Diese Satzung wurde 1973 nach einer harten Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung geändert. Nun forderte sie eine Zweistaatenlösung durch Verhandlungen. Sie bot die gegenseitige Anerkennung und einen Gewaltverzicht als ersten Schritt an. Für Israel kamen Verhandlungen zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage. Die PLO wurde nach wie vor als Terroristenverband bezeichnet, und es wurde behauptet, daß ein Palästinenserstaat neben Israel der erste Schritt zur Zerstörung Israels wäre. 1976 befürworteten die „Frontstaaten“ (Ägypten, Jordanien und Syrien) und die PLO eine Beschlußvorlage des Sicherheitsrats der UNO, die eine Zweistaatenlösung vorsah. Israel war dagegen. Die USA legten ein Veto ein. Der Fahd-Plan von 1981, der inhaltlich das gleiche besagte, wurde von allen arabischen Staaten, einschließlich des Irak, unterstützt, er brachte aber nichts.
Erst 1993 begannen Verhandlungen in Oslo zwischen Israel und der PLO. Präsident Clinton agierte als Vermittler. Arafat saß am kürzeren Hebel und mußte äußerst ungünstige Bestimmungen annehmen. Wenn Arafat nicht zugestimmt hätte, hätten die Israelis ihn wohl nicht als Verhandlungspartner anerkannt und nicht aus dem Exil zurückgelassen. Seine Gegenspieler in den besetzten Gebieten, die die erste Intifada (1987–1990) geführt hatten, wären mit diesen Bestimmungen nicht einverstanden gewesen. Es wurde ausgehandelt, daß die israelischen Truppen sich aus Jericho und dem Gazastreifen, ausgenommen die jüdischen Siedlungen und noch zu vereinbarende Teile des Westjordanlandes, zurückziehen und den Palästinensern die Selbstverwaltung – nicht die Souveränität – übergeben sollten. Eine Beendigung der Enteignungen, Besiedlungen und Ableitung des Wassers wurde nicht vereinbart. Arafat mußte sich verpflichten, die Besatzungsmacht und die Siedler vor seinen eigenen Leuten zu schützen. Gespräche über die Zukunft von Ost-Jerusalem, die Grenzen und die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, sollten erst zum Schluß aller Verhandlungen stattfinden. Während der folgenden sieben Jahre zogen sich die israelischen Truppen mit Schneckengeschwindigkeit zurück.
Im Juli 2000 drängten Clinton und Barak Arafat zu einem Treffen in Camp David, wo alle offenen Fragen verhandelt werden sollten. Arafat zögerte zuerst, er meinte, daß man sich auf ein so wichtiges Treffen gut vorbereiten müßte. Zuvor müßten beide Seiten weitgehend einig sein, und Israel müßte seine Versprechen bezüglich der Freilassung von Gefangenen und eines weiteren Truppenabzugs einhalten. Clinton wollte schon allein aus Prestigegründen einen Erfolg als Vermittler. Die Verhandlungen endeten jedoch ohne Ergebnis. Es wurde keine Verlautbarung von Clinton, Barak oder Arafat abgegeben. Von der israelischen Seite wurde die Auffassung verbreitet, daß Barak das Blaue vom Himmel angeboten hätte. So z. B. der damalige israelische Botschafter in Deutschland, Primor, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Barak sei bereit gewesen, die „Kontrolle“ über einen Teil von Jerusalem zurückzugeben. Was heißt hier „Kontrolle“? Welche Teile waren gemeint? Was geschah eigentlich in Camp David? Nach Berücksichtigung der Stellungnahmen von Beteiligten beider Seiten berichtete die Londoner Zeitschrift „Middle East International“, daß Barak nur die Selbstverwaltung in Ost-Jerusalem „angeboten“ hätte, die die Palästinenser schon besaßen. Ohne die Souveränität würde Israel die Enteignung und Besiedlung von Ost-Jerusalem fortsetzen dürfen. Ein enger Berater Clintons in Camp David, Robert Malley, schrieb in der New York Times, daß Arafats Vorstellungen über die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge die jüdische Mehrheit in Israel nicht gefährden würde. Barak hat sich zu der Frage von Rückkehr oder Entschädigung nicht geäußert. Auch hätte er nie ein echtes Angebot gemacht. Seine Gesprächsbeiträge faßte er in Worte, die nur als Denkanstöße gedeutet werden könnten. Die Standpunkte der MEI und Malley sind gewiß glaubwürdig, zumal sie der Auffassung von Peres entsprechen, die er in seinem Buch „Die Versöhnung“ vertreten hatte: Israel behält ganz Jerusalem und die großen jüdischen Siedlungen, eine Rückkehr der Flüchtlinge wäre ausgeschlossen. Auch er übergeht die Frage von Entschädigungen.11

Die zweite Intifada¹²

Kennzeichnend für die zweite Intifada, im Gegensatz zu der ersten, ist die beiderseitige Anwendung von Gewalt. Während der ersten Intifada 1987/90 bestand der Widerstand mit geringen Ausnahmen aus einfallsreichen, gewaltlosen Maßnahmen und gelegentlichen Steinwürfen. Heute ist das anders. Allerdings stehen die israelischen Kampfhandlungen und ihre Folgen in keinem Verhältnis zu den Anschlägen, die die Aufständischen verübten. Die Palästinenser kämpfen mit Steinen, Handfeuerwaffen, selbstgebastelten Bomben und Mörsern, dazu kommen die Selbstmordattentäter. Etwa 1.000 Israelis (Soldaten und Zivilisten) sind ums Leben gekommen. Auch israelisches Eigentum wurde zerstört. So bedauerlich diese Verluste sind, sind sie im Vergleich zu den Verlusten der Palästinenser gering.
Die israelische Seite benutzt gummiummantelte Stahlgeschosse, Scharfschützengewehre, Raketen aus Panzern sowie Kampfhubschraubern und F-16-Bomber. Hier nur einige Hinweise auf die Folgen der israelischen Kampfhandlungen: Hunderte von Wohnungen in Städten und Flüchtlingslagern sind zerstört worden. Etwa 3.000 Palästinenser sind umgekommen. Zahlreiche Obst- und Olivenplantagen sind vernichtet worden. Ebenso Stromleitungen, Rundfunk- und Fernsehanlagen, der Hafen und der Flughafen im Gazastreifen. In einer Winternacht wurden 500 Menschen obdachlos, als Panzer auf Wohngebäude schossen. Von der EU geförderte Treibhäuser, Bewässerungsanlagen und eine halbe Million junger Bäume wurden vernichtet. Eine Reihe von Attentaten auf angebliche Terroristen mit „Zufalls opfern“ haben sich ereignet. Neuerdings wird eine Mauer gebaut, die in die besetzten Gebiete hineinreicht. Sie trennt Juden von Arabern und Araber voneinander, was ihre Lebensumstände weiter verschlechtert. Qalquilia ist von der Mauer umzingelt. Am einzigen Tor stehen Soldaten, die, wie überall an den Straßensperren in den besetzten Gebieten, unberechenbar sind. Während über einen möglichen Abzug der Soldaten aus dem Gazastreifen geredet wird, ist die Stadt Gaza weitgehend in Schutt und Asche gelegt worden. Von Panzern abgefeuerte „Flechetten“ (Pfeile, die in alle Richtungen fliegen) töteten eine Mutter und ihre zwei Söhne in ihrem Weingarten. Die israelische Luftwaffe vollbrachte ein Attentat in einem Wohngebiet mit einer 1.000 Kilogramm schweren Bombe.
Die israelischen Kampfhandlungen werden folgendermaßen gerechtfertigt: sie seien Vergeltungs- und Vorbeugungsmaßnahmen gegen palästinensische Gewalttäter. Sie dienten der Sicherheit der israelischen Bürger und des Staates. „Israel kämpft um seine Existenz.“. Man habe keine andere Wahl als weiter zu kämpfen, bis die Gegner ihre Waffen strecken. Erst dann kämen Verhandlungen in Frage. Neuerdings sagte Sharon, er würde „schmerzhafte Zugeständnisse“ machen, sogar einen Palästinenserstaat erlauben. Arafat sei verantwortlich für die Gewalt, er müßte die Einstellung der Kampfhandlungen erzwingen. Letztendlich sei Israel nicht nur Opfer, das sich ununterbrochen verteidigen müßte, sondern es leiste als Bündnispartner der USA einen Beitrag zum Kampf gegen „den Terrorismus“.

Kampf gegen den Terrorismus?

Wer übt hier Vergeltung? Die ersten Schläge in der langen Gewaltspirale kamen von israelischen Soldaten. Am Tag nach Sharons herausfordernder Rede auf dem Vorplatz der Al Aqsa Moschee töteten sie sieben Demonstranten. Daraufhin strömten Palästinenser massenhaft auf die Straßen und die Fatah-Jugend eilte heran, um der Herausforderung zu begegnen. Die harten israelischen Maßnahmen haben der Vorbeugung nicht gedient, viel eher haben sie die Palästinenser gereizt. Der Bestand des israelischen Staates war überhaupt nicht gefährdet. Seine hochgerüstete moderne Armee bekämpfte Aufständische, die nur ganz einfache Waffen hatten. Die israelischen Streitkräfte haben zugeschlagen, wann und wo sie wollten. Keine Macht greift ein, um sie davon abzuhalten.
Solche Maßnahmen gegen palästinensische Zivilisten und ihre Lebensgrundlagen sind oft nach Angriffen palästinensischer Kämpfer ergriffen und so mit Sicherheitsgründen gerechtfertigt worden. Doch, wie oben erwähnt, verstoßen sie mit der Anwendung von Kollektivstrafen gegen das Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in besetzten Gebieten und können vom Völkerrecht her nicht gerechtfertigt werden. Was die Attentate auf politische Führer bzw. angebliche Terroristen mit zahlreichen „Zufallsopfern“ angeht: Sie sind ein Zeichen für die Mißachtung rechtsstaatlicher Verfahren durch den Staat Israel, der sich lauthals preist, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Es geht der Regierung nicht nur darum, politische Führer oder potentielle Terroristen auszuschalten. Es fällt auf, daß die gezielten Tötungen weitergingen, obwohl die palästinensischen Kämpfer einschließlich der Selbstmordattentäter eine längere Pause eingelegt hatten. Oder die palästinensischen Splittergruppen waren im Begriff, sich über eine Waffenruhe zu einigen. Offenbar ging es der Regierung darum, eine gewaltsame Antwort von der palästinensischen Seite herauszufordern.
Sharons Unterstellung, Arafat sei verantwortlich für die Gewalt und kann bzw. muß die palästinensischen Kämpfer ausschalten, widerspricht seinem eigenen zivilen Geheimdienst, demzufolge Arafat gleich nach dem Ausbruch der Gewalt versucht habe, einen Waffenstillstand durchzusetzen. Damit wäre er jedoch überfordert gewesen. Auch Arafats viele vergebliche Aufrufe an die palästinensischen Kämpfer, die Gewalt zu beenden und politische Maßnahmen einzusetzen, wurden von Sharon nicht zur Kenntnis genommen. Sharons Unterstellung ist aus zwei Gründen lachhaft: Erstens haben seine Streitkräfte Anschläge auf Arafats Sicherheitsleute und die Selbstverwaltungsbehörde verübt. So schwächten sie ihn und stärkten damit die palästinensischen Kämpfer, die alle Hoffnung auf eine Verhandlungslösung aufgegeben hatten. Zweitens haben die mächtigen israelischen Streitkräfte es selbst nicht geschafft, die Fatah-Jugend, Hamas und Dschihad auszuschalten.
Die Behauptung stimmt nicht, daß es keinen anderen Weg zu einer friedlichen Lösung gäbe als die Fortsetzung der Gewalt gegen die Palästinenser, bis sie bedingungslos aufgeben. Arafat hat mehrere Vorschläge gemacht, die die beiderseitige Gewalt hätten mindern oder gar beenden können:
-Ein gemeinsamer Fernsehauftritt von Sharon und Arafat, in dem sie zu einem Waffenstillstand aufrufen.
-Internationale Beobachter, die ihre Berichte veröffentlichen würden.
-Schutztruppen wie auf dem Balkan und in Afghanistan.
-Wenn die israelische Regierung überzeugende Schritte unternehmen würde, die völkerrechtswidrige Besatzung zu beenden und einem lebensfähigen palästinensischen Staat nicht entgegen zu stehen, käme der bewaffnete Aufstand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem Ende.
Wenn Sharon wirklich eine Friedenslösung gewollt hätte, hätte er zumindest Arafats Angebot eines Waffenstillstands aufgreifen müssen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Verhandlungen stattfinden, während gekämpft wird. Sharon war jedoch nicht bereit, den Palästinensern Zugeständnisse zu machen. Dazu sagte er: „Gewalt darf nicht belohnt werden“. Ist diese Aussage auch auf Israel anzuwenden? Offenbar kommen Verhandlungen mit dem gewählten Vertreter der Palästinenser gar nicht in Frage. Sharon will ihnen einen Diktatfrieden aufzwingen. Die Tatsache, daß er nur mit dem amerikanischen Präsidenten über die neue Mauer und einen möglichen Abzug (besser Truppenverschiebung) aus dem Gazastreifen gesprochen hat, sind weitere Belege dafür. Gleichzeitig stellt er die Wahrheit auf den Kopf, wenn er Arafat – seinen Sündenbock – als Friedensfeind abstempelt. Zum Abschluß dieser Bemerkungen noch ein Wort über das Selbstbild der israelischen Führer als Mitstreiter gegen den weltweiten Terrorismus. Diese Selbstdarstellung steht im Widerspruch zum Staatsterrorismus, den sie selbst treiben. Die Raketen und Bomben, die sie auf angebliche Terroristen und als Kollektivstrafe auf Wohngegenden werfen lassen, haben viele Zivilisten getötet. Die Täter müssen dieses Ergebnis mit Sicherheit erwartet haben, und sie nahmen es in Kauf. Das erfüllt doch den Tatbestand „Terrorismus“, wie man ihn im Westen versteht: Anschläge auf Zivilisten für politische oder militärische Zwecke.
Bedenken wir: Zu Beginn der Oslo-Verhandlungen glaubten 80 % der Palästinenser in den besetzten Gebieten an den Friedensprozeß. Im Februar 2000 glaubten nach Jahren fruchtloser Verhandlungen nur noch 11 % daran. Ende 2001 billigten 80 % die Selbstmordanschläge. Die Gründe für die Bereitschaft junger Palästinenser, ihr Leben gegen eine überwältigende Macht aufzuopfern, sind die Jahre der gewaltsamen Unterdrückung, Demütigungen und Verzweiflung, die sie erlebt haben. Aus denselben Gründen steht das Gros des Volkes jetzt hinter ihnen und ihren Taten. Hierzu hat Wolfgang-Günther Lerch, Nahostkenner, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben: „Israel hat bis heute nicht verstanden, daß es an ihm ist, größere Konzessionen gegenüber den Palästinensern zu machen. Die Gewaltausbrüche sind brutale und ohnmächtige Befreiungsschläge der kollektiven Psyche der Palästinenser, die zudem das Gefühl haben, daß kaum jemand in der Welt sich noch um das an ihnen nach dem Ersten Weltkrieg begangene Unrecht kümmert.“

Kenneth Lewan, Prof. em., Dr., geboren 1925 in Chicago. Im Zweiten Weltkrieg schwer verwundet. Studium der Politik und der Rechte an der Harvard University, Promotion in München. Rechtsanwalt und Rechtsberater für ein Ministerium und für den Kongreß in Washington. Professuren in New York, Indiana und Hagen. Zahlreiche Veröffentlichungen in englischer und deutscher Sprache, zuletzt:
Die Zweite Intifada, Zwiespalt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Fischer & Fischer A.G., Frankfurt, 2002.

Anmerkungen

1 Vgl. Giselher Wirsing, Engländer, Juden und Araber in Palästina, Jena, 1939, S. 7–16.
2 Flores, Die Entwicklung der palästinensischen Nationalbewegung, S. 91–94; Mejcher, Palästina in der Politik europäischer Mächte und der USA 1918–1948, S. 163 ff., beide In: Mejcher, Helmut / Schölch, Alexander, Die Palästina-Frage 1917–1948, Paderborn, 1981.
3 Zu den verschiedenen Rechtfertigungen siehe Lewan, Ist Israel Südafrika?, Tossens, 1993, S. 51– 68.
4 Polkehn, Klaus, Palästina: Reisen im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin, 1986, S. 143–165.
5 In Lewan, Ist Israel …, a. a. O., S. 26–34; Lewan, Die palästinensischen Gastarbeiter in Israel, S. 159 ff., In Wolfgang Freund, Gastarbeiter, Neustadt/Weinstraße, 1980.
6 Lewan, Ist Israel …, a. a. O., S. 22/23.
7 Simha Flapan, Die Geburt Israels, München, 1988.
8 Ausführlich in Lewan, Sechs Tage und zwanzig Jahre, Berlin, 1988, S. 13–18. Zusammenfassung in Lewan, Die Zweite Intifada – Zwiespalt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frankfurt, 2002, S. 140–143.
9 Noam Chomsky, Fateful Triangle, London, 1990, S. 181–328.
10 Ausführlich in Watzal, Ludwig, Feinde des Friedens, Berlin 2001, S. 192–226.
11 Lewan, Die Zweite Intifada …, a. a. O., S. 9–17. Ein weiterer Beleg: In einem Brief vom 7. August 2002 hat Herr Joachim Koch, Ministerialrat a. D. mir mitgeteilt, daß nach seinen Erfahrungen in 25 Jahren multilateraler Verhandlungen ernstgemeinte Angebote bei internationalen Verhandlungen immer schriftlich unterbreitet werden.


 
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