Archiv > Jahrgang 2004 > NO I/2004 > Als Courage noch keine Floskel war 

Als Courage noch keine Floskel war

Von Generalleutnat Franz Uhle-Wettler

Zur Entlassung General Günzels

Einige Ereignisse aus der Zeit des Untertanengeistes können einen Maßstab zur Beurteilung heutiger Ereignisse, zum Beispiel der Entlassung des Generals Reinhard Günzel, geben. Dieser wurde wegen eines unterstützenden privaten Briefes an den Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann innerhalb kürzester Frist als militärischer Vorgesetzter des „Kommando Spezialkräfte“entlassen.

Wer den Geist vergangener Epochen und vergangener Heere, also auch den Untertanengeist anhand von Beispielen schildern will, steht vor einigen Schwierigkeiten. Er darf seine Beispiele nicht aus verborgenen oder gar dunklen Winkeln hervorziehen, denn so ließe sich fast alles „beweisen“. Er muß also seine Beispiele dort suchen, wo die Maßstäbe einer Epoche zu erkennen sind. Vermutlich sind diese Maßstäbe, wie alle Gebote, nicht immer beachtet worden. Aber solange die Maßstäbe von hohen Instanzen gesetzt und weithin anerkannt wurden, können sie wohl das Klima einer Zeit illustrieren.

Gehorsamsverweigerung aus Ehrgefühl

1815 setzten der preußische König Friedrich Wilhelm III. und der Feldmarschall Gebhard Fürst Blücher einen Maßstab. Einige der Blüchers Armee unterstellten sächsischen Regimenter hatten, wenigstens nach Blüchers Ansicht, gemeutert. So befahl Blücher dem Kommandierenden General des Armeekorps, dem die sächsischen Regimenter unterstanden, einem General von Borstell, die sieben Rädelsführer zu erschießen und die Fahne des meuternden Garde-Grenadierbataillons zu verbrennen. Die Vollstreckung der Strafe gegen die Rädelsführer konnte Borstell nicht verhindern, doch er ließ die Fahne nicht verbrennen, denn das zu tun wäre „unehrenhaft“. Borstell verweigerte also eindeutig und zudem im Kriege, kurz vor der Schlacht von Waterloo/Belle Alliance, einen Befehl. Zugleich warf er unausgesprochen Blücher vor, Unehrenhaftes befohlen zu haben – damals ein schwerwiegender Vorwurf. Borstell wurde von einem Kriegsgericht zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt.
Was ist daran bemerkenswert? Nur das, was folgte: Der König empfand das Urteil zwar als zu milde, bestätigte es aber „In Rücksicht auf seine früher gut geleisteten Dienste“, die also nicht durch eine einmalige Tat ausgelöscht wurden. Und Blücher, den Borstell so schwerwiegend beschuldigt hatte? Blücher bat den König, Borstell die Strafe zu erlassen. Der König folgte Blüchers Bitte und ernannte Borstell sogar zum Chef einer Brigade. Damals wurden also einmalige Fehltritte, wenn es denn welche waren, nicht mit einem Scherbengericht geahndet.
1847, also inmitten des deutschen Untertanengeistes, verteidigten bayerische Offiziere Ehre und Ehrgefühl sogar gegen den eigenen Monarchen. König Ludwig I. war rettungslos der Tänzerin Lola Montez verfallen, erhob sie zur Gräfin von Landsfeld und räumte ihr sogar Einfluß auf die Politik ein. Aber die Offiziere boykottierten die junge „Dame“. Schließlich versuchte der alternde König, den Boykott durch Befehle zu brechen. Die Offiziere weigerten sich offen, dem königlichen Willen zu entsprechen, und die Flügeladjutanten, deren Lage wegen ihrer sehr persönlichen Bindung an den Monarchen besonders peinlich war, baten sämtlich um Rückversetzung zur Truppe. Als der Kriegsminister, General Freiherr von Hohenhausen, auf strikten Befehl des Königs einen Abend in der Landsfeldschen Villa verbracht hatte, blieb ihm zur Wiederherstellung seiner Ehre vor seinen Kameraden und der Öffentlichkeit nur die Möglichkeit, um seine Entlassung zu bitten. Daß von Hohenhausen diese Konsequenz nicht scheute, wurde ihm besonders anerkannt, da er kein Vermögen besaß und hoch verschuldet war. Ein Jahr später dankte der König ab.
1874 widersprach wiederum ein bayerischer Untertan dem eigenen König. Ludwig II. hatte sich in den Kopf gesetzt, den Leutnant Eckbrecht Graf Dürckheim-Montmartin zu seinem Adjutanten zu ernennen und damit zum Oberleutnant zu befördern, obwohl vor dem Grafen noch 106 andere Offiziere zur Beförderung heranstanden. Trotz massiven Protests des Kriegsministers, des Generals Freiherr von Prankh, vollzog der König die Beförderung dank seiner königlichen Vorrechte selbst. Daraufhin schrieb Prankh an den Kabinettssekretär des Königs einen Brief, den wörtlich wiederzugeben gerade heute zweckmäßig ist: „Euer Hochwohlgeboren! Leutnant Graf Dürckheims vorzugsweise Beförderung, ganz geringfügig hinsichtlich der Person, gereicht im Prinzip und in den Consequenzen nicht zum Wohle Seiner Majestät und Allerhöchst ihrer Armee, folglich auch nicht zu jenem des Landes. Artikel VII des Ministerverantwortlichkeits-Gesetzes zeichnet mir klar den Weg vor, den ich in einem solchen Falle zu gehen nicht allein berechtigt bin, sondern mich auch verpflichtet erachten kann (d.h. Rücktritt). Nichts einfacher, nichts logischer und nichts sicherer. Wenn ich nun gleichwohl im gegebenen Falle diesen Weg noch nicht betrete, so mögen Seine Majestät daraus erkennen, wie schwer es mir fällt, dem Allerhöchsten Willen entgegen zu treten, was mich aber in Zukunft nicht hindern darf, meine Pflicht zu erfüllen und das Wohl seiner Majestät und der Armee auch gegen den Allerhöchsten Willen zu wahren. Ich stelle Ihnen gern anheim, von diesem Briefe bei Seiner Majestät Gebrauch zu machen, und benütze schließlich diese Gelegenheit zu erneuter Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung, mit welcher ich bin Euer Hochwohlgeboren ergebener Freiherr von Prankh.“

Courage trotz diplomatischer Verwicklungen

Um 1880 war ein Oberleutnant Schmidt von einem Küstriner Infanterieregiment zu einem Sportlehrgang nach Berlin kommandiert worden. Als Offizier war er „hoffähig“, wie man damals sagte. Bei einem Empfang drängte er sich mit seinem Teller vom Kalten Buffet weg und trat dabei dem kaiserlich-russischen Botschafter unbeabsichtigt auf die Zehen. Der Botschafter warf dem jungen Offizier in aller Öffentlichkeit des Berliner Hofes einige grobe Beleidigungen an den Kopf. Am folgenden Tag bat Schmidt, der Ehrengerichtsordnung folgend, seinen Regimentskommandeur, in dem Ehrenhandel zu vermitteln und notfalls seine, Schmidts, Duellforderung zu überbringen. Doch der Kommandeur verwies auf die seit dem Berliner Kongreß bedrohlich verschlechterten Beziehungen zum Zarenreich und weigerte sich. Auch der Brigade- und der Divisionskommandeur werteten die Duellforderung als „Politikum“, wie man heute sagt, und wiesen Schmidt ab. Schließlich wandte sich Schmidt an den kommandierenden General des Armeekorps. Dieser fuhr zum Botschafter. Der Botschafter war bestürzt – er bot eine förmliche Entschuldigung an, Schmidt wurde hinzugebeten, er nahm die Entschuldigung an, und damit war der Vorfall bereinigt. Aber beendet war er noch nicht. Denn anschließend fuhr der General zu Wilhelm I., König von Preußen.
Wenig später erhielten Schmidts Regiments-, Brigade- und Divisionskommandeur den Abschied. Sie hatten die Ehre eines ihnen unterstellten, also anvertrauten Offiziers nicht geschützt.
Ein weiteres Beispiel: Um die Jahrhundertwende diente einer der Söhne des preußischen Königs und deutschen Kaisers Wilhelm II. im Potsdamer Kürassierregiment Gardes du Corps, das als das vornehmste aller preußischen Regimenter galt. Der Regimentskommandeur, Oberst Freiherr von Bissing, ein typischer Junker, wies den Prinzen wegen einer Nachlässigkeit in, wie der Prinz meinte, überaus scharfer Form zurecht. Der Prinz erzählte das seinem Vater. Doch damit meldete er auch den Vorfall unter Umgehung aller Zwischenvorgesetzten dem „Obersten Kriegsherrn“, wie es in der Terminologie jener Zeit hieß. Als Vater mag es Wilhelm II. gedrängt haben, den Vorfall aufzugreifen, doch als König und Kaiser hätte er wohl besser geschwiegen. Er gab bald dem Regimentskommandeur sein Missfallen deutlich zu erkennen. Woraufhin der Oberst den Prinzen zu sich befahl und ihn „wegen Umgehung des Dienstweges“ disziplinar bestrafte. Damit kritisierte er offensichtlich auch seinen König, der das Verhalten seines Sohnes genutzt hatte. Doch das hat in der Zeit des Untertanengeistes einer Laufbahn nicht geschadet; Bissing stieg unter Wilhelm II. noch zum Generalobersten auf.

Der Hauptmann von Köpenick

Noch ein Beispiel aus der Zeit des Untertanengeistes: Um 1900 schwärzte der Vorwärts, die Zeitung der SPD, den Finanzminister Johannes von Michel an. Er veröffentlichte einen Brief des Studenten von Michel an Karl Marx: „Kommunist und Atheist wie Sie, glaube auch ich, daß nur auf den Trümmern der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung eine neue und bessere Welt entstehen kann.“ Ein Bekenntnis zu Karl Marx und zum Kommunismus war keine Empfehlung für den Finanzminister eines Königreichs. Aber der Kaiser und König beantwortete das Entlassungsgesuch des Angeschwärzten mit einem Telegramm: „Vom jugendlichen Ungestüm zum staatsmännischen Wirken.“ Damit war solch ein Fall damals erledigt. Natürlich muß man auch den „Hauptmann von Köpenick“ erwähnen, einen Vorfall, der nebenbei auch die heutige Darstellung des deutschen Untertanengeists gut illustriert. 1910 beschloß ein arbeitsloser Schuster namens Wilhelm Voigt, seine Lage nachhaltig zu verbessern. Er verschaffte sich eine Hauptmannsuniform, unterstellte sich einige zufällig des Weges kommende Soldaten, verhaftete mit ihnen den Bürgermeister des Berliner Vororts Köpenick, beschlagnahmte die Stadtkasse und zog mit reicher Beute davon. Aber zeigt der Vorfall Untertanengeist, wie heute oft behauptet wird? Die Soldaten und Beamten haben Voigt wohl für einen wirklichen Hauptmann gehalten, sonst hätten sie ihm nicht gehorcht.
Wahrscheinlich haben sie geglaubt, ein Hauptmann des Königs von Preußen könne nicht Unrecht tun. Ein Staat, der bei seinen Bürgern ein solches Vertrauen genießt, ist zu beneiden – und selten geworden. Und man darf wohl auch erwähnen: Der Kaiser hat nur gelacht und die erste Gelegenheit zur Begnadigung genutzt. Auch aus der NS-Zeit ist ein Vorfall erwähnenswert. Das Reichskriegsgericht hat wahrlich Terrorurteile gefällt, wie heute zu Recht oft herausgestellt wird. Nicht zuletzt wurde das, was als „Wehrkraftzersetzung“ galt, oft gnadenlosen „Urteilen“ unterworfen. Doch sogar dieses Gericht hat 1940 und erneut 1942 geurteilt, selbst Äußerungen in dem doch recht umfangreichen Kreis eines Offizierskasinos dürften gegen die Betroffenen nicht verwendet werden, denn ein Offizierskasino sei kein öffentlicher Ort. Vor der Schilderung des letzten Vorfalls lohnt es sich, noch einmal weit zurückblicken. 1779 wurden Friedrich dem Großen die Akten des Prozesses eines Grafen Schmettau gegen einen Müller namens Johannes Arnold vorgelegt; mehrere Instanzen hatten gegen Arnold entschieden. Der König glaubte – irrtümlich -, Adel und Justiz hätten wiederum gegen einen „kleinen Mann“ entschieden. Er warf den Justizminister Freiherrn von Fürst und gleich noch Mitverantwortliche, Graf Finckenstein und Freiherr von Gersdorff, ungnädig aus dem Amt. Am gleichen Abend fanden zwei bemerkenswerte Ereignisse statt: Vor dem Schloß jubelte das Volk. Doch am Schloß vorbei fuhr die Berliner Gesellschaft, die Ungnade des Königs und des Volkes nicht fürchtend, in langer Reihe zum dem Gestürzten, um ihm ihre Teilnahme auszudrücken und zugleich die eigene Unabhängigkeit zu bekunden. Und auch der neue Justizminister von Zedlitz weigerte sich trotz der Ungnade Friedrichs des Großen, die (angeblichen) Rechtsbeuger zu bestrafen.
In der Bundesrepublik setzten Ende 2003 der Verteidigungsminister und sein Generalinspekteur ihren Maßstab. Ein General Günzel hatte einem Bundestagsabgeordneten seine Zustimmung zu dessen heftig umstrittener Rede mitgeteilt – nicht einmal in einem Offizierskasino, sondern in einem Privatbrief, der ohne Zutun des Generals bekannt wurde. Der Verteidigungsminister erklärte den General öffentlich als „verwirrt“. Er entließ ihn, wie der Minister öffentlich erklärte, „nicht ehrenvoll“ binnen weniger Stunden aus der Bundeswehr. Der Entlassungsurkunde fehlte die sonst übliche Formel, die Verabschiedung erfolge mit Dank für die geleisteten Dienste. Den Stil der Entlassung kennzeichnet eine weitere Facette: Während dem General seine Entlassungsurkunde ausgehändigt wurde, teilte ein Offizier dem wartenden Fahrer mit, er möge nach Hause fahren, denn der General werde entlassen und dürfe dann einen Dienstwagen nicht mehr nutzen – der Fahrer, ein Gefreiter, wartete dennoch, er hatte wohl eine andere Auffassung von Anstand als ein Oberstleutnant aus dem Gefolge des Ministers.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com