Archiv > Jahrgang 2004 > NO I/2004 > Deutsche in Ungarn 

Deutsche in Ungarn

Von Markus Freilinger

Die Geschichte der Deutschen in Ungarn reicht bis ins Mittelalter zurück. Was in Zeiten der Überbevölkerung gar nicht mehr vorstellbar scheint, war bis weit in die Neuzeit für die Mächtigen Europas bittere Realität: Viele Regionen waren noch nie besiedelt oder durch Pest und Krieg entvölkert und mußten wieder urbar gemacht werden, um dem Adel Steuereinnahmen zu bringen. Gerade im südosteuropäischen Raum wurden nach den Türkenkriegen verstärkt Menschen aus dem Deutschen Reich angesiedelt, um die Bevölkerungslücke, die die Kriege verursacht hatten, auszugleichen. Von den Adeligen gesucht waren tüchtige Bauern und Handwerker. Mutige junge Deutsche machten sich auf und begannen ein neues Leben in einer ungewissen Zukunft.

Im Jahre 1918 wurde sowohl Ungarn als auch Österreich Republik. Die alte Donaumonarchie ging unter. Melancholiker sagen, die Heimat habe die Altösterreicher verlassen. Natürlich spielte auch in Ungarn die Nationalitätenfrage eine immer bedeutendere Rolle und besonders in der Zwischenkriegszeit nahm der Druck auf die Donauschwaben, die die bedeutendste Gruppe unter den Deutschen in Ungarn sind, enorm zu. Doch diese auf eine Madyarisierung hinauslaufenden Maßnahmen waren nichts gegen das, was über die Ungarndeutschen nach der sozialistischen Machtübergabe 1945 hereinbrach.
Mehr als 100.000 der ursprünglich 500.000–600.000 Ungarndeutschen wurden vertrieben, 60.000 in die Sowjetunion verschleppt und in Zwangsarbeitslagern jahrelang konzentriert. Viele hielten der Brutalität nicht stand. Am 15. März 1945 verkündete die Provisorische Regierung des Generalobersten Béla Miklós von Dálkoni ein Bodenreformgesetz. Danach wurde der „Grundbesitz der Landesverräter, der führenden Pfeilkreuzler, der Nationalsozialisten und anderer Faschisten, ferner der Kriegsverbrecher und Volksfeinde“ beschlagnahmt. Darunter fielen allerdings auch die Mitglieder des Volksbundes der Deutschen. Die Enteignungen geschahen auf kollektiver Basis und ohne Verhandlung des Einzelfalles durch ordentliche Gerichte. Als Grund für die Ausweisung, die automatisch mit dem Verlust des gesamten Vermögens verbunden war, reichte unter anderem die Mitgliedschaft beim Volksbund der Deutschen in Ungarn. Dies war die offizielle, behördlicherseits genehmigte Vertretung der Deutschen gegenüber der ungarischen Regierung bis 1945. Ein weiterer Grund war die Einberufung zur Waffen-SS. Auch in diesem Fall war es so, daß es ein Abkommen zwischen der deutschen und der ungarischen Regierung gab, wonach die Ungarndeutschen zur Waffen-SS eingezogen werden durften. Bis 1989 erlebte „das Deutsche“ viele Phasen. In den fünfziger Jahren bis hin zum Verbot total negiert, lockerte das Regime die Zügel nach und nach. Vielfach ließ man deutsche Vereine zu, hielt sie allerdings nieder und nützte sie, um die Volksgruppe auszuspionieren und unter Kontrolle zu halten. Bis heute herrscht unter der ungarischen Bevölkerung, und da macht es keinen Unterschied, welche Volksgruppe man betrachtet, große Verunsicherung hinsichtlich nachrichtendienstlicher Aktivitäten, die heutzutage natürlich nicht mehr Gefängnis und Zwangsarbeit zur Folge haben. Seit 1989 sind die Methoden deutlich subtiler geworden. Mißliebige Personen werden beispielsweise so lange verleumdet, bis sie selbst die eigenen Freunde fallen lassen. Auch allzu engagierte Deutsche sind so unter Druck gesetzt worden. Die Vielzahl der Vereine, die nach 1989 entstanden sind, geben Anlaß zur Hoffnung. Vorsicht ist trotzdem geboten, denn auch deutschsprachige Vereine können zur Assimilation mißbraucht werden. Das Mißtrauen ist groß. Zu oft hatte das Engagement in Vereinen für die jeweiligen Personen negative Folgen. Das Ziel der Einschmelzung der Deutschen in das Madjarentum wurde von maßgeblichen ungarischen Stellen bis heute nicht aufgegeben. Deutsch war bis in die fünfziger Jahre als Sprache von Zeitungen, Radio und TV-Sendungen, als Unterrichtssprache, bei Gottesdiensten, bei Theateraufführungen, ja selbst am Arbeitsplatz verboten. Dadurch wuchs eine Generation heran, für die ihr eigenes Idiom nur noch eine „Großmuttersprache“ war und deren eigene Kinder Deutsch weder sprachen noch verstanden. Deutsch als kulturvermittelnde Sprache blieb verpönt, und noch gegen Ende der achtziger Jahre war es riskant, die Reste der mündlich überlieferten Kulturgüter der Ungarndeutschen auch nur aufzuzeichnen. Heute sind die ehemals vielen deutschen Dialekte so gut wie ausgestorben und spielen nirgends mehr eine Rolle.

Bleibt die anfangs engagierte ungarische Minderheitenpolitik stecken?

Als 1993 ein neues Nationalitätengesetz beschlossen wurde, galt Ungarn als leuchtendes Vorbild für alle anderen Altösterreicher. Und der Verband der Volksdeutschen Landsmannschaften Österreichs (VLÖ), der sich für die materielle und moralische Wiedergutmachung der Altösterreicher einsetzt, hat Ungarn stets positiv herausgestellt. Gerade die Ungarn mußten ja leidvoll erleben, wie sehr die ungarischen Minderheiten in der damaligen Tschechoslowakei und in Rumänien unterdrückt wurden. Die Slowaken denken nicht daran, die Benešdekrete aufzuheben und die Ungarn, die ja davon gleichermaßen betroffen sind wie die Deutschen, zu entschädigen. Ganz ähnlich verhält es sich in Rumänien. Der (rumänische) Bürgermeister von Klausenburg (Cluj-Napoca), einer ehemals stolzen ungarischen Stadt mit bis heute hohem ungarischen Bevölkerungsanteil, ließ vor dem Denkmal des berühmten und bei den Ungarn sehr beliebten ungarischen Königs Matthias Corvinus sämtliche Parkbänke und Mistkübel in den Farben der rumänischen Fahne streichen. Corvinus wurde 1458 in Klausenburg geboren. Das Denkmal soll dokumentieren, daß es sich um eine ungarische Stadt handelt. Der Bürgermeister macht dem einen Strich durch die Rechnung, indem er seine rumänischen „Duftmarken“ hinterläßt. Das Minderheitenproblem ist den Ungarn also durchaus bewußt. Der damalige Staatspräsident Árpad Göncz entschuldigte sich anläßlich des Beschlusses des Wiedergutmachungsgesetzes von 1992, das den vertriebenen Ungarndeutschen eine Entschädigung versprach, formell für das, was geschehen war. Freilich sind diese Vorgänge auch vor dem Hintergrund einer in Aussicht gestellten Mitgliedschaft bei der EU zu sehen. Interessant ist auch folgendes Detail: Sein Nachfolger und derzeitiger Staatspräsident ist Franz Madl. Madl bekennt sich als Donauschwabe. In der Slowakei ist der Deutsche Rudolf Schuster Staatspräsident. Auch der Landwirtschaftsminister hat ungarischdeutsche Vorfahren. Sie alle wollen oder können bis heute nichts zur Verbesserung der Lage der eigenen Minderheit beitragen.

Zehn Jahre nach Beschluß des Entschädigungsgesetzes

Die Bilanz ist ernüchternd: Die Durchführung zeigte, daß die Beraubten nicht das eigentliche Ziel der Aktion waren. Das ungarische Entschädigungsamt rechnete den ehemaligen Eigentümern nur einen Bruchteil ihres einstigen Vermögens an und vergütete auch diesen nicht in Geld, sondern in Entschädigungsscheinen, deren Wert in kürzester Zeit auf einige Prozent ihres ursprünglichen Wertes abgesenkt wurde. Weitere Durchführungsbestimmungen prellten die Vertriebenen noch in mehrfacher Form, sodaß die „Entschädigung“ für den größten Teil von ihnen keinen nennenswerten Vorteil brachte. Die Ungarn hingegen haben sich in der billigst möglichen Form von einer historischen Belastung befreit, die ihnen auf dem Weg nach Europa hinderlich schien. Damit entpuppt sich das Entschädigungsgesetz von 1992 als eine Spielart jener außenpolitisch motivierten Gesetze, die in Deutschland und Österreich zwar unbekannt sind, die aber in Ungarn seit 1867 in aller Regel zur Anwendung kamen, wenn Interessen von Minderheiten angeblich wahrgenommen werden sollten, in Wirklichkeit allerdings unterlaufen wurden. Im Ergebnis hat kaum jemand nennenswerte Entschädigungen erhalten. Ungarn, das in dieser Frage anfangs so vorgeprescht ist und auch von der Vertretung der Altösterreicher, dem Verband der Volksdeutschen Landsmannschaften, als positives Beispiel angeführt wurde, ist bis jetzt an der tatsächlichen Umsetzung der Entschädigungszahlungen völlig gescheitert. Von der derzeitigen „liberalen“ Regierung, in deren Umfeld viele alte sozialistische Apparatschiks untergekommen sind, ist in Bezug auf die Minderheiten nichts zu erwarten. Die ungarische Gesellschaft ist nahezu gespalten in Regierungsanhänger und Regierungsgegner. Die Intelligenz und die Medien versuchen sich aus dem tagespolitischen Geschehen so gut wie möglich herauszuhalten, während die Regierung mit großer Brutalität ihre ganz persönlichen wirtschaftlichen Interessen verfolgt und weite Teile der Ungarn total verarmen. Dazu gehören auch viele Deutsche. Für Minderheitenschutz ist da kein Platz und schon gar kein Geld.

Die Minderheit heute

Sofort nach 1989 gründeten sich eine Vielzahl von Vereinen, die das deutsche Volkstum wiederbeleben wollten. Bei diesen Vereinen ist zu differenzieren in jene, die staatlicherseits gefördert werden und solche, die gänzlich unabhängig sind. Die sich privat über Wasser haltenden Initiativen stehen in großer Konkurrenz zu den staatlich geförderten Interessensvertretungen des Selbstverwaltungssystems. Die sogenannte „Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen“ bringt wenig bis nichts weiter und wird mehr als Sprungbrett ins Parlament für die Funktionäre denn als taugliches Mittel zur Vertretung der Ungarndeutschen gesehen. Eine eigene garantierte Parlamentsvertretung wurde bis heute nicht zugestanden. In den Gemeinden fehlen immer noch zweisprachige Beamte. Das Ergebnis der Volkszählung vom Februar 2001 aber zeigt, daß sich schon 62.000 Menschen (1990: 31.000) zur deutschen Nationalität bekennen. Von den Vertreibungen blieben allerdings 170.000 Menschen verschont, und es werden erst die nächsten Volkszählungen zeigen, ob es in Ungarn wieder modern wird, „deutsch“ zu sein. Dies wird auch von den vielen kleinen, aber nicht zu unterschätzenden Initiativen abhängen, in denen sich die Ungarndeutschen organisieren. In Fünfkirchen (Pécs) gibt es genauso wie in Budapest eine deutsche Redaktion des staatlichen Radios. Gymnasiasten produzieren dort eine halbe Stunde Radio pro Woche. Die Sendung wird auf Mittelwelle ausgestrahlt und die Jugendlichen erhalten sogar aus der Bundesrepublik Deutschland Post. Genauso ist die Gemeinschaft Junger Ungarndeutscher fixer Bestandteil vieler deutschsprachiger Jugendlicher. Die Jakob Bleyer-Gemeinschaft kämpft wie schon ihr Namensgeber als Fels in der Brandung gegen Madyarisierungsversuche. Sie gibt das deutschsprachige Sonntagsblatt heraus, das als führende deutschsprachige Zeitung Ungarns auch im Ausland große Beachtung findet. Das quasi offizielle ungarndeutsche Wochenblatt ist die „Neue Zeitung“, die von der Stiftung für die nationalen und ethnischen Minderheiten Ungarns unterstützt wird. Daneben gibt es noch eine Reihe kleinerer, sehr spezifischer Blätter bis hin zu einer Wirtschaftszeitung.

Zukunft

Was immer wieder – besonders bei den Siebenbürger Sachsen – Erwähnung findet, ist, daß viele ausgesiedelte Deutsche in ihre alte Heimat zurückkehren würden. Dieses Gerücht hält sich zwar hartnäckig, niemand kann einem allerdings konkrete Familien oder Personen, bei denen dies der Fall ist, nennen. Sehr wohl kaufen sich bereits pensionierte Ungarndeutsche am Plattensee ein und verbringen die warme Zeit des Jahres mit deutscher Pension im billigen Ungarn. Dies bringt allerdings den verbliebenen Ungarndeutschen wenig. Sie sind weiterhin auf sich selbst gestellt und müssen die harten Bandagen, die Ungarn durch den EU-Beitritt angelegt wurden, wie ihre ungarischen Mitbürger ertragen.

Drehscheibe aller ungarndeutscher Aktivitäten ist das Haus der Ungarndeutschen in H-1054 Budapest; Lendvay u. 22. und die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen H-1026 Budapest; Júlia u. 9; www.ldu.du, Tel.: (+36/1) 212 91 51.

Zum Autor: Markus G. Freilinger ist Leiter der Öffentlichkeitsabteilung im Verband der Volksdeutschen Landsmannschaften Österreichs, der die Interessen der Altösterreicher der ehemaligen Donaumonarchie vertritt. www.vloe.at

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com