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Die Reichsidee

Von Jürgen Schwab

Ein Konzept für Europas Zukunft?


Schon mehrfach hat die „Neue Ordnung“ sich historisch mit der Reichsidee befaßt. So hat im Heft 4/00 Thomas Jentzsch von der Priesterbruderschaft St. Pius X die Aufgabe des Heiligen Römischen Reiches aus traditionell katholischer Sicht beleuchtet; Martin Schwarz spürte im selben Heft der Reichsidee im Spannungsfeld von Katholizismus und Heidentum nach und im Heft 1/03 versuchte Heinrich Dassel, das Selbstverständnis des mittelalterlichen Kaisertums zu umreißen.*
In dieser und den folgenden Nummern der „Neuen Ordnung“ geht es nun um die Frage, welche Bedeutung der Reichsbegriff heute noch haben kann. Ist er durch die Herausbildung der Nationalstaaten einerseits und das Entstehen der Europäischen Union andererseits historisch bereits überholt und damit obsolet geworden? Oder bietet der schillernde Begriff des „Reiches“ noch immer konkrete Inhalte, die bei der künftigen Gestaltung Europas eine Rolle spielen sollten? Gibt es überhaupt eine zukunftsfähige Reichsidee und wie kann sie aussehen? – Besonders jüngere Autoren werden sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Auch die Stimmen nichtdeutscher Publizisten sollen einbezogen werden. Den Anfang macht Jürgen Schwab, der sich als Buchautor und Organistor der „Deutschen Akadamie“ mit dieser Thematik bereits mehrfach auseinandergesetzt hat. Politisch ist Jürgen Schwab in der NPD tätig.

„Eine Träne für das alte Reich“ vergoß unlängst Michael Stürmer. Der etablierte bundesrepublikanische Historiker ließ sich zu dieser Gefühlsregung ausgerechnet in seiner Kolumne hinreißen, die in der Tageszeitung Die Welt erscheint.1 Das Springer-Blatt, das laut seines Tendenzschutzes der Freundschaft mit den USA und Israel verpflichtet ist, hat sich bislang nicht als Forum für Reichspatrioten positioniert. Gerade deshalb ist es bemerkenswert, daß Stürmer in dieser Zeitung schreibt:
„Im Vergleich mit dem Absolutismus in Frankreich, Spanien oder Schweden oder mit der britischen Parlamentsoligarchie war das alte Reich Inbegriff des Pluralismus, des friedlich-schiedlichen Ausgleichs, des Genossenschaftswesens und der Rechtlichkeit. […] Es gab nach 1945 wahrhaftig Grund, die NS-Diktatur als soziale Revolution und Nihilismus zu begreifen. Zehn Jahrhunderte deutscher Geschichte aber als zwanghafte Vorgeschichte abzutun – dazu bestand kein Grund.“2
Das Zitat Stürmers macht deutlich, daß den Deutschen ihre Geschichte und vor allem ihre über 1.000 Jahre andauernde Reichsgeschichte gestohlen wurde. Die Ursache dafür reicht bis zur alliierten Konferenz von Teheran vom 28. November bis zum 1. Dezember 1943 zurück. Auf der Teheraner Konferenz gab US-Präsident Franklin Delano Roosevelt das psychologische Kriegsziel aus, daß nach dem Sieg über Deutschland das „Konzept des Reiches“ nicht im Bewußtsein der Deutschen bleiben dürfe und dieses Wort „Reich“ aus der Sprache der Besiegten gestrichen werden solle. In einem Memorandum für den US-Außenminister vom 6. April 1945 bekräftigte Roosevelt noch einmal sein Vorhaben, das Wort „Reich“ aus dem deutschen Sprachschatz zu eliminieren.3 Diese linguistische Entmündigung sollte schon alleine als Herausforderung für gegenwärtige deutsche Denker gelten.

Reichsbegriff und Reichsidee

Vom religiösen und mythologischen Bedeutungsgehalt einmal abgesehen, ist das Reich die politische Ordnung, in der die Deutschen seit über 1.000 Jahren lebten. Der Begriff „Reich“ ist laut Herkunftswörterbuch des Duden-Verlages germanisch-keltischen Ursprungs und bedeutete so viel wie „Herrscher, Fürst, König“. Somit wäre der Begriff „Reich“ personifizierbar in einer Herrschergestalt. Daneben trat die Bedeutung im Sinne von „einem Herrscher untertäniges Gebiet, Herrschaftsbereich“, was einem Territorium gleichkommen würde. Zudem galt auch noch die ganz allgemeine Bedeutung von „Herrschaft, Macht“. Im Deutschen bezeichnete das Wort einerseits das (deutsche) „Reich“, andererseits auch die Stände des Reiches – somit also sowohl die Gesamtheit des Reiches als auch seine territorialen Bestandteile.4
Der Reichsbegriff selbst sollte heute allerdings im öffentlichen Raum sparsam verwendet werden, da die Gegenwartsdeutschen – außerhalb kleiner nationaler Zirkel – mit ihm nichts Positives, Sinnstiftendes mehr verbinden können. Deshalb hat auch der Verfasser in der vorausgegangenen Begriffsbestimmung durchgehend die Vergangenheitsform gewählt. Vermutlich würde bei einer gegenwärtigen Umfrage herauskommen, daß das ‚Reich’ für ‚Hitler’ und ‚Auschwitz’ stehe, also für ein Zerrbild des Dritten Reiches. Würde man heute einer nationalen Partei empfehlen, mit dem Begriff des ‚Reiches’ Wahlkampf zu betreiben, also Plakate und Flugblätter zu beschriften, so würde man diese zur Erfolglosigkeit einladen. In diesem Sinne kritisierte Hans-Dietrich Sander die „Reichskabbalistik“5 und den „Gesetzes- und Verfassungsfetischismus“6 des Deutschen Kollegs7, dessen Aktivisten sich gegenseitig überbieten, mit „reichstreuen Grüßen“ ihre Briefe abzuschließen und auch sonst diesen Begriff recht inflationär gebrauchen. Was gut gemeint sein mag, kann auf einer vorschnell eröffneten „Reichsspielwiese“8 Schaden nehmen. Solange die Reichsidee in Vergessenheit geraten ist, sollte man mit der bloßen Worthülse vom ‚Reich’ nicht hausieren gehen.

Die vielfältige Reichstradition

Viel einfacher als die Frage zu beantworten, was die Reichsidee in ihrer Vielfalt bedeutet, dürfte zu erklären sein, was mit ihr unvereinbar ist. Für den amtierenden Außenminister der BRD, Joseph Fischer, steht fest: „Kein Land ist gegenwärtig so wenig reichsorientiert wie die Bundesrepublik Deutschland.“9 Den Grund hierfür nennt uns einer der Väter des BRD-Grundgesetzes, Carlo Schmid (SPD), der die BRD „als die Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft“ bezeichnete.10 Die BRD ist also das Anti-Reich auf deutschem Boden, auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 1973 erklärte, daß die BRD zwar nicht „Rechtsnachfolger“ des deutschen Reiches, aber dennoch „teilidentisch“ mit ihm sei. Die vermeintliche Teilidentität soll wohl erklären, daß irgend ein pseudostaatliches Gebilde nach 1945 für diverse „Wiedergutmachungsforderungen“ und „Gebietsabtretungen“ den Ansprechpartner darstellen mußte.
Demgegenüber sind sowohl die BRD als auch die (bereits verblichene) DDR und die Republik Österreich Reichszerteilungsstaaten, die – als bloße Teilnachfolger – niemals völkerrechtlich legitimiert sind, für das Deutsche Reich als Ganzes zu sprechen, das seit der von den Alliierten vorgenommenen Verhaftung der Reichsregierung Dönitz am 23. Mai 1945 handlungsunfähig ist. Zumindest in diesem einen Punkt, der völkerrechtlichen Lage Deutschlands, kommt eine Fundamentalopposition um den Reichsbegriff nicht herum. Der mögliche Hinweis, das Dritte Reich habe die Reichsidee verfehlt, wäre an dieser Stelle irreführend, da es hier ausschließlich um den Traditionsbruch seit dem 23. Mai 1945 und die völkerrechtliche Position geht, die zu verteidigen ist. Mit dieser völkerrechtlichen Feststellung ist selbstverständlich nicht gesagt, daß gegenwärtige Reichspatrioten systempolitisch an das Dritte Reich anknüpfen sollten.
Grundsätzlich ist der Reichsbegriff ein offener Begriff, der nicht begrifflich eindeutig und widerspruchslos festgelegt werden kann. Die Reichsidee ist vielfältig, besitzt mehrere Traditionsstränge und ist nicht selten widersprüchlich. Eine ausschließliche Fixierung auf eine alternative nationalstaatliche Ordnung der Deutschen, die beispielsweise um einen „Reichsverfassungsentwurf“ bzw. eine „Verfassung des Vierten Reiches“11 kreist, verfehlt den gesamten Bedeutungsgehalt des Reichsbegriffs deshalb, weil hierbei zum einen der supranationale Bezug der Reichsidee komplett unterschlagen wird, zum anderen geht die Frage nach der geeigneten Staats- und Regierungsform am Thema vorbei, da die Reichsidee in dieser Hinsicht geschichtlich völlig offen ist. Denn in der über 1.000 Jahre langen (deutschen) Reichsgeschichte finden wir – bezogen auf das Gesamtreich – Epochen der Erbmonarchie ebenso vor wir wie solche der Wahlmonarchie, bei der die Kurfürsten den deutschen König wählten. Hinzu kommen in der jüngeren Zeit republikanische Phasen – wie die Weimarer Republik und das Dritte Reich.
Zudem hat das ‚Reich’ eine metaphysische bzw. religiöse Dimension. Und auch bei dieser Thematik gibt es verschiedene Traditionsstränge. Mit der Reichsgeschichte verbunden ist die Geschichte der zunächst heidnischen germanischen Stämme ebenso wie das abendländische Christentum. Zu dieser reichen Kultur des ‚Reiches’ gehören demnach die ‚betenden Hände’ Albrecht Dürers, die christlich inspiriert sind, ebenso wie das germanische Nibelungenlied.
Die Frage, welche Religion eines Tages wieder im Reich vorherrschen wird, dürfte offen sein. Wahrscheinlich wird weder das Christentum noch das Heidentum die allein vorherrschende Religion sein, sondern beide werden sich als Teile eines erneuerten Ganzen, einer neuen Reichstheologie begreifen müssen, derzufolge der Staat als Repräsentant des allgemeinen Interesses über den besonderen Interessen von Kirchen und Verbänden stehen wird. Wir sollten heute vielmehr im Sinne von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Philosophie der Geschichte12 sowohl das germanische Heidentum als auch das Christentum als lediglich historisch-geistige Entwicklungsstufen begreifen, die das deutsche Volk und die europäischen Völker insgesamt hindurchzugehen haben, um diesen Religionstypen in ihrer ursprünglichen Form allmählich zu entschlüpfen, damit – in dialektischer Weise – aus dem zuvor bestandenen, Heidentum (These) und Christentum (Antithese), eine neues Drittes (Synthese) entstehen kann.
Nach dieser Einschätzung wird es hinter das Jahr 4 96 nach Christi kein Zurück geben, als der Franken-König Chlodwig I. den katholischen christlichen Glauben annahm und somit den Abfall der Germanen vom Heidentum einleitete. Dieser Katholizismus überwand daraufhin das arianische Christentum, dem einige Stämme, vor allem der Ost-Germanen anhingen. Aber es wird auch hinter das Jahr 1517 kein Zurück geben, als Martin Luther seine „95 Thesen über den Ablaß“ an das Tor der Wittenberger Schloßkirche schlug. Denn von nun an gibt es zumindest zwei christliche Konfessionen in Deutschland und dazu noch manche Anhänger des Heidentums, von denen alle nicht behaupten können, die Mehrheit der Deutschen hinter sich zu haben, von den Konfessionslosen, wie der Verfasser, einmal abgesehen.

Welche Völker umfaßt das Reich?

Umstritten ist ebenso, ob der Reichsbegriff auch im Plural oder ausschließlich im Singular zu wenden ist. Hiermit ist nicht in ersten Linie der Sinn oder Unsinn einer chronologischen Abfolge gemeint (Erstes, Zweites, Drittes Reich), sondern die globale Dimension. Kann es neben einem deutschen bzw. mitteleuropäischen Reich noch andere Reiche geben? Carl Schmitt plädierte dafür, den Reichsbegriff in das Völkerecht aufzunehmen13, womit klar sein dürfte, daß der deutsche Völkerrechtler die Existenz mehrerer Reiche voraussetzte, womit die christlich-mittelalterliche Vorstellung von dem einen Reich, das es universal nur geben könne, durchbrochen wäre.
Vielfältig sind auch die Möglichkeiten der geopolitischen Erstreckung der – auf Europa bezogenen – Reichsidee. Der Verfasser hält allerdings die Vorstellung, das ‚Reich’ an sich müsse sich territorial auf Gesamteuropa erstrecken bzw. Europa habe ein ‚Reich’ zu sein14, für nicht zutreffend. Wir sollten vielmehr davon ausgehen, daß Europa aus mehreren Reichen bestehen kann, da es potentiell auch mehrere europäische hegemoniale Ansprüche gibt. So trifft sich die deutsch-österreichische Hegemonialbestrebung mit der italienischen, russischen und türkischen auf dem Balkan15, die deutsche und die französische in der Schweiz, in Elsaß-Lothringen und den  Benelux-Staaten, die deutsche und die russische im Baltikum und der deutsch-österreichische Gebietsanspruch mit dem italienischen in Südtirol – um nur wenige Beispiele zu nennen.
Wenn wir Rußlands nichteuropäische Gebiete mitberücksichtigen, wäre die Vorstellung von einem „Reich Europa“ umso mehr absurd. Natürlich müßte es uns darum gehen, – um es in der Sprache Carl Schmitts auszudrücken – eine völkerrechtliche Großraumordnung zu denken, die von Lissabon bis Wladiwostok reicht. In diesem Großraum hätte der Grundsatz vom „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ zu gelten.16 Die Pervertierung eines solchen Konzepts bestünde lediglich in der irrigen Annahme, ein solcher Raum könnte dauerhaft von einer Hauptstadt aus regiert und befriedet werden. Dieses auf Dauer zum Scheitern verurteilte Unternehmen wurde bereits viermal in der Geschichte versucht: Von Rom aus versuchte dies Julius Cäsar, von Paris aus Napoleon, von Berlin Adolf Hitler und von Moskau Josef Stalin. Der Versuch, Europa dauerhaft von einer Hauptstadt aus zu regieren, kann dauerhaft nicht gelingen, weil dies die Kräfte eines einzelnen Reichsvolkes übersteigen würde und zudem nur mit erheblichem Zwang, sprich Unterdrückung, gegen die Völker verbunden wäre. Deshalb ist eine auf Gesamteuropa, zuzüglich Sibirien angelegte Großraumordnung immer in mehren hegemonialen Teilräumen zu denken, die von zumindest drei Hauptstädten bestimmt wird. Naheliegend ist dabei die Achse Paris-Berlin-Moskau. Was die Berliner und Wiener Perspektive, also die deutsche Reichsidee betrifft, so bestehen geschichtlich zumindest fünf geopolitische Räume. Natürlich ist es lagebedingt in dem ein oder anderen Fall möglich, die Ansätze zu kombinieren:
-Der kerneuropäische Raum: Das wäre Deutschland und seine westlichen Nachbarn, also Deutschland, Frankreich und die Beneluxstaaten. Das entspräche in etwa dem alten Frankenreich ohne Reichsitalien.
-Der zwischeneuropäische Raum: Das wäre der Raum ‚zwischen’ Deutschland und Rußland, also Deutschland und seine östlichen Nachbarn, Ostmitteleuropa und der Balkan. Hiermit würde man die Idee der Ostkolonisation von Preußen und Österreich wieder aufgreifen. Es würde sich dabei um eine heterogene Völkergenossenschaft handeln: germanische sowie west- und südslawische Völker. Hinzu kämen Esten, Ungarn, Rumänen und vielleicht noch kleinere muslimische Völker (u.a. Bosnien).
-Die südliche Erstreckung: Das wäre Deutschland und Italien. Geschichtlich könnte man hier ans mittelalterliche Reich, vor allem an das der Hohenstaufen, aber auch an die sogenannte ‚Achse’ Berlin-Rom von Hitler und Mussolini anknüpfen. Als Stolperstein würde sich hierbei das Südtirolproblem erweisen.
-Das großgermanische Reich: Hierbei würde der Schwerpunkt auf dem Rassebegriff liegen. Geographisch wäre das vor allem Deutschland und seine nördlichen Nachbarn: Dänemark, Norwegen, Schweden, aber auch die Niederlande (Holland und Flandern). Kritisch zu hinterfragen wäre, ob Deutschland und Skandinavien überhaupt eine geopolitische Einheit bilden. Der Hinweis von großgermanischen Propagandisten, auch romanische und slawische Völker könnten in ein solches Konzept eingebunden werden, ist reine Wunschvorstellung, da diese Völker sich immer als zweitklassig in einem explizit großgermanischen Reich empfinden würden. Noch so gut gemeinte Entkräftungsargumente wie: Die Spanier haben die Westgoten, die Norditaliener die Langobarden, die Nordfranzosen die Franken, die Polen die Vandalen, die Russen und Ukrainer die Waräger als Vorfahren, gehen ins Leere und werden dort als ‚Pangermanismus’ interpretiert.
-Der nordeurasische Großraum: Das heißt Europa, einschließlich Rußland und Sibirien. Dieser großräumige Ansatz wurde bereits eingangs dieser Betrachtung angesprochen.
Ein solches Konzept ist nicht mittels einer festgefügten Reichsordnung, sondern nur mittels einer Achse, durch einen loseren Verbund mehrerer hegemonialer Sphären möglich. Als Vordenker können wir Carl Schmitt17, Ernst Jünger18 und Ernst Niekisch anführen. Niekisch plädierte für eine germanisch-slawische Synthese, die sich allerdings gegen den Westen, gegen das romanische Europa und die angelsächsische Welt zu richten hätte.19

Kaiser- und Königreich zugleich

Ein Reich benötigt eine klare Herrschaftsstruktur, die vor allem von einer Unterscheidung von Zentrum und Peripherie auszugehen hat. Im Zentrum steht immer das Reichsvolk, das die Reichsgenossen an der Peripherie führt. Die Reichsfähigkeit ist dann gegeben, wenn die Führenden ihre Verantwortung für das Ganze und die Geführten den Nutzen aller erkennen und damit Überheblichkeit und Unterdrückung im Bewußtsein beider Seiten ausbleiben.
Am Anfang aller Bemühungen sollte die Herrschaftsfähigkeit des Reichsvolkes stehen. Solange der deutsche Kern – gerade auch in bevölkerungspolitischer Sicht – weiterhin dahinfault, sind alle – oben genannten – geopolitischen Varianten reine Luftschlösser. Erst wenn der deutsche Kern wieder kernig geworden ist, also alle Spielarten von Fremdherrschaft und Verausländerung (wirtschaftlich, kulturell, militärisch und bevölkerungspolitisch) abgeschüttelt sind, wird sich das weitere – eine begabte Regierungsmannschaft vorausgesetzt – von selbst ergeben. Die oben genannten geopolitischen Möglichkeiten wären dann je nach Lage umsetzbar. Zuallererst müssen jedoch die Deutschen wieder staatsfähig werden. Deshalb ist die Wiedergewinnung eines souveränen Nationalstaats die Grundvoraussetzung und eben nicht der Widerspruch zur Verwirklichung der Reichsidee. Das (deutsche) Reich ist deshalb Nationalstaat und überstaatlicher Großraum zugleich. Die Verwirklichung der Reichsidee ist freilich erst mit Erreichen des letzten (überstaatlichen) Stadiums gegeben.
Daß beide Pole des ordnungspolitischen Denkens der Deutschen zwingend aufeinander angewiesen sind, lehrt uns das Lexikon des Konservatismus, das dem Reichsbegriff Gültigkeit zumißt – „gleichlautend sowohl für das Regnum wie für das Imperium […].“20 So war ja der oberste weltliche Herrscher des ‚Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation’ deutscher König und römischer Kaiser zugleich; und daneben hatte er noch andere Titel, wie die Hohenstaufen Herzöge von Schwaben waren. Der ‚deutsche König’ war im Prinzip der Vorläufer des Staatsoberhauptes des deutschen Nationalstaates, als ‚römischer Kaiser’ jedoch hatte er einen übernationalen und überstaatlichen Herrschaftsanspruch, der dem Ideal nach die gesamte Christenheit, also damals das gesamte europäische Abendland umfaßte.
Mit dem Titel des ‚römischen Kaisers’ war die Idee der translatio imperii verbunden, derzufolge es nur ein Reich geben könne und dieses Reich von den Römern an die alten Franken des fränkischen Gesamtreiches und von diesen auf die Deutschen des Ost-Frankenreiches übertragen worden sei. Die Deutschen haben dieses Reich inne seit der Kaiser-Krönung Ottos des Großen im Jahre 962. Einen gesamtdeutschen König haben wir aber bereits seit dem Jahr 911, als Konrad I. von den deutschen Herzögen zum deutschen König gewählt wurde. Somit reicht sowohl die deutsche Reichstradition als auch die Tradition des deutschen (vormodernen) Nationalstaats jeweils bis ins 10. Jahrhundert zurück. In diesem Sinne hat das ordnungspolitische Denken der Deutschen zwischen dem Nationalstaat und der supranationalen Reichsidee zu verlaufen. Zwischen diesen beiden Polen muß die richtige Mitte gefunden werden. Wer das ‚Reich’ nur als Nationalstaat versteht, würde einer erneuten ‚Einkreisung’ Deutschlands das Wort reden, wobei am Ende der Entwicklung das finis germaniae stehen würde. Hingegen käme ein supranationales Reich, dem ein staatsfähiger deutscher Kern fehlen würde, einem handlungsunfähigen „Monstrum“ gleich, das bereits Samuel Pufendorf im Heiligen Römischen Deutscher Nation erkannt hatte,21 das – nach dem Ende der Hohenstaufen (1250) – zwar viel Transzendenz, aber wenig Herrschaft besessen hatte.
Dieses Verhängnis ist dann in den folgenden Jahrhunderten durch die unselige Hausmachtpolitik der Habsburger, die den deutschen Kern vernachläßigte, und durch die eigensinnige Reichsfeindlichkeit der Hohenzollern, die vor räuberischen Überfällen (1740 auf Schlesien) und Bündnissen mit Frankreich und England nicht zurückschreckte, auf die Spitze getrieben worden. Als dann aus den reichsfeindlichen „Piefkes“ Reichspatrioten geworden waren, näherte sich das kleindeutsche Bismarckreich (1871– 1918) strukturell dem von vielen Deutschen lange ersehnten Ideal des Nationalstaats an.
Daß Österreich aus diesem kleindeutschen Reich ausgegrenzt blieb und dieses Gebilde auch sonst wenig der überstaatlichen Perspektive der Reichsidee entsprach, ist wohl im ersten Falle der geschichtlichen Notwendigkeit, im zweiten der Übermacht an Feinden zuzuschreiben gewesen, der sich das Zweite Deutsche Kaiserreich – im Bund mit Österreich-Ungarn – im Ersten Weltkrieg leider nicht erfolgreich erwehren konnte.
Auch der Weltkriegsteilnehmer Adolf Hitler scheiterte gut zwei Jahrzehnte später an einer Übermacht an Feinden. Freilich war die totale Niederlage im Jahr 1945 auch auf das eigene Versagen zurückzuführen. Der Sieg wäre immerhin möglich gewesen, wenn man zum einen rechtzeitig erkannt hätte, daß – gerade im Verhältnis zu den angelsächsischen Mächten – der Rassebegriff zwar ein naturwissenschaftlicher, aber eben kein politischer (Gemeinschafts-) Begriff ist. Zum anderen hätte man – zugunsten der eigenen Glaubwürdigkeit – das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das man ein paar Jahre zuvor aus der Position der Schwäche gegenüber dem System der Pariser Vorortverträge selbst eingefordert hatte, in der nunmehrigen Position der Stärke, auch anderen, vor allem den slawischen Völkern zugestehen müssen.22 – Aus dieser Fülle an mehr als tausendjähriger reichischer Erfahrungen sind die Lehren für eine künftige deutsche Reichspolitik zu ziehen. Die Umsetzung derselben bedingt freilich den globalen Sturz des Gegenreiches, der Vereinigten Staaten von Amerika.

Anmerkungen

1 Michael Stürmer in Die Welt vom 16. Oktober 2003.
2 Ebd.
3 Quelle: Die F. D. Roosevelt-Papers, einzusehen in der F.D.R.-Library roosevelt.liberary@ nara.gov
4 Günther Drosdowski (Hg.): Duden. Das Herkunftswörterbuch, Bd. 7. 2. Aufl., Dudenverlag, Mann heim/Wien/Zürich 1989, S. 581.
5 Hans-Dietrich Sander in Staatsbriefe 10/1999.
6 Hans-Dietrich Sander, ebd., 2/2000.
7 Dem Deutschen Kolleg gehören u.a. Reinhold Oberlercher, Horst Mahler und Uwe Meenen an.
8 Hans-Dietrich Sander in Staatsbriefe 2/2000.
9 Joseph Fischer im Gespräch mit dem französischen Politiker Jean-Pierre Chevènement, veröffentlicht in Die Zeit, Nr. 26/2000.
10 Rede des Abgeordneten Dr. Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, am 8. September 1948. Aufgezeichnet in „Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle“, Band 9, herausgegeben vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Oldenbourg Verlag, München 1996, Seite 20 ff.
11 Hiermit ist der Entwurf von Reinhold Oberlercher gemeint, der einer ausschließlich staatspolitischen Diskussion sicherlich gute Denkanstöße liefert, jedoch den Reichsbegriff in seiner gesamten Bedeutung verfehlt. Quelle: www.deutsches-kolleg.de
12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen der Philosophie der Geschichte. Werke 12. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1986. S. 413–540 („Die germanische Welt“).
13 Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht. (Erstausgabe, Kiel 1939) Duncker & Humblot, Berlin 1991, S. 49–63 („Der Reichsbegriff im Völkerrecht“)
14 Vgl. zu dieser Position die Schrift von Bernhard Schaub: Reich Europa. 3. Auflage im Verlag WotansWort, Kreuzlingen 2003, S. 39. Rußland gehört allerdings nach dieser Konzeption nicht zum europäischen „Reich“, es bildet vielmehr ein eigenes.
15 Die Türkei ist freilich aus europäischer Sicht als raumfremde Macht zu erkennen.
16 So der auszugsweise Titel der bereits erwähnten Schrift Carl Schmitts.
17 Vgl. ebd.
18 Vgl. Ernst Jünger: Der Friede. Fritz Rampf, Stuttgart 1985, S. 23.
19 Vgl. Ernst Niekisch: Europa betet. (Erstveröffentlichung 1930) Zitiert nach: Ernst Niekisch. Widerstand. Ausgewählte Aufsätze aus seinen „Blättern für sozialistische und nationalrevolutionäre Politik“. Uwe Sauermann (Hg.). Sinus-Verlag. Krefeld 1982, S. 43–55, hier S. 49.
20 Christoph von Thienen-Adlerflycht: Reich, in: Lexikon des Konservatismus. Caspar von Schrenck-Notzing (Hg.). Leopold Stocker Verlag, Graz 1996, S. 446–453, hier S. 446.
21 Samuel Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches. (Erstausgabe 1667) Reclam Verlag, Stuttgart 1994, S. 106.
22 Hierbei ist besonders der nationalsozialistische Imperialismus im Osten hervorzuheben. Vgl. Alfred Rosenbergs Aufzeichnungen in der Nürnberger Todeszelle, veröffentlicht unter dem Titel: Großdeutschland. Traum und Tragödie. Rosenbergs Kritik am Hitlerismus, Heinrich Härtle (Hg.). 2. Auflage im Selbstverlag H. Härtle,  München 1970, S. 149 ff.

 
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