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Auf dem Weg nach Westen kam Ankara nicht bis Europa

Von Stephan Baier

Ein EU-Beitritt der Türkei würde Europa türkischer machen, nicht umgekehrt


„Batiya dogru“, Richtung Westen! lautete die Parole der reformorientierten türkischen Intellektuellen vor hundert Jahren, gegen Ende des Osmanischen Reichs. Mustafa Kemal, genannt Atatürk, wollte den modernen türkischen Nationalstaat nach den Idealen der Französischen Revolution gestalten. Mit großer Brutalität bekämpfte Atatürk die osmanisch-islamischen Traditionen, „europäisierte“ Politik und Rechtssystem.

Ab 1923 verbot er schrittweise alles, was bis dahin die islamische Identität der türkischen Gesellschaft ausgemacht hatte: Sultanat und Kalifat, Scharia und islamische Gerichtshöfe, Brüderorden und theologische Bildungsanstalten, den muslimischen Freitag und den islamischen Kalender, den Fastenmonat Ramadan und das Arabische als Schriftsprache des Koran.
Männer mussten plötzlich europäische Hüte statt dem traditionellen Fez tragen, Muezzine in türkischer statt arabischer Sprache zum Gebet rufen. Für den Islam hatte Atatürk nur Verachtung: „Der Islam ist höchstens gut für verweichlichte Araber, nicht für Türken, die Krieger und Männer sind!“ Den Aufstand der Kurden von 1925, der mehr religiös als national motiviert war und sich gegen die „gottlose laizistische Regierung“ richtete, schlug er brutal nieder. Die ideologischen Fundamente der modernen Türkei wurden: Säkularismus, Nationalismus, Etatismus, Republikanismus, Reformismus und Populismus. Darin sah Atatürk die Europäisierung der Türkei.
Das türkische Militär, das im Nationalen Sicherheitsrat eine bedenklich dominante Stellung einnimmt, sieht sich als Hüter des Kemalismus und putschte mehrfach gegen demokratisch gewählte Regierungen, um diese Ideologie (und vermeintliche Westorientierung) zu schützen. Der Nahost-Experte Peter Scholl-Latour meint deshalb mit einigem Recht, dass mit dem EU-Beitritt und der dafür nötigen Demokratisierung eine Re-Islamisierung einhergehen würde: „Denn die westliche Orientierung des Landes beruht nicht auf der Aufklärung, sondern auf der Macht der Armee. Es ist die Armee, die den Kemalismus, also die laizistische Ordnung der Türkei garantiert.“

Annäherung an Europa?

1964 trat ein Assoziierungsabkommen der Türkei mit der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) in Kraft; 1996 die Zollunion mit der EU. 1997 erklärten die christdemokratischen Regierungschefs in der EU – darunter damals Helmut Kohl und Romano Prodi – ein EU-Beitritt der Türkei sei „nicht akzeptabel“. Das Echo aus Ankara war unmißverständlich: „34 Jahre lang sind wir von der EU belogen und betrogen worden“, meinte ein türkischer Diplomat. Der damalige türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz warf insbesondere Helmut Kohl vor, er wolle die Europäische Union zu einem „Club der Christen“ machen. Islamisten sahen sich in ihren Warnungen bestätigt und nannten Europa einen „imperialistischen Christenclub“.
Überraschender war die Reaktion Europas auf diese Polemiken: Der luxemburgische Ministerpräsident und damals amtierende EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker, ein Christdemokrat, beteuerte, die EU sei „kein Christenclub, sondern ein Club mit Spielregeln“. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer begründete im Herbst 1999 sein Eintreten für die Türkei als gleichberechtigten EU-Beitrittskandidaten ausdrücklich damit, daß die EU „keine christliche Glaubensgemeinschaft“, sondern nur eine Interessens- und Wertegemeinschaft sei. In einer Rede vor dem Deutschen Bundestag meinte Fischer am 30. April 2004 zu den Beitrittsambitionen der Türkei: „Die Frage ist letztendlich, ob die Grundwerte der europäischen Aufklärung, der europäisch begründeten Moderne mit einem modernen Islam, mit einer modernen Demokratie, mit einer modernen Zivilgesellschaft und mit einer modernen Volkswirtschaft verbindbar sind. Wenn das die entscheidende Frage ist, dann ist die Position der Union, die Mitgliedschaft der Türkei abzulehnen, falsch, und sie könnte fatale Konsequenzen haben.“
Das Europäische Parlament dementierte überflüssigerweise im November 2000 ausdrücklich, daß die EU ein „exklusiver christlicher Club“ sei: Ein „Klima des Vertrauens“ solle zwischen der Türkei und der EU geschaffen werden, „in welchem die Türkei die Europäische Union nicht als einen ‚exklusiven christlichen Club’, sondern als eine Wertegemeinschaft versteht, welche nicht zuletzt Toleranz für andere Religionen und Kulturen einschließt.“ Der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz, heute SPE-Fraktionschef, beeilte sich zu erklären, Europa gründe nicht auf den christlichen, sondern auf den Werten der Aufklärung. Damit sollte wohl suggeriert werden, dass jedes Land diesen Prozess der Aufklärung (ist gleich Europäisierung) gehen könne, wenn es sich nur die Mühe mache, die eigenen archaischen Traditionen einschließlich der Glaubenstraditionen hinter sich zu lassen. Genau dies wollte Atatürk.
Genau dies aber ist in der europäischen Aufklärung nicht geschehen: Im Gegensatz zu Atatürks importierter anti-islamischer Revolution hat die abendländische Aufklärung die christliche Wurzel Europas nicht ausgerissen. Auch dort, wo Europa heute heidnisch bzw. säkular ist, bleibt es vom christlichen Menschenbild, von christlichen Prinzipien (etwa Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl) zutiefst geprägt. Diese Prägung ist nicht einfach eine individuelle oder kollektive Willensentscheidung, sondern gewachsene Tradition. Sie ist Teil der europäischen Identität.
Die umfassendere Frage lautet also: Gibt es überhaupt so etwas wie eine europäische Identität? Davon ging die EU bisher aus, weil sie einen Beitritt an zwei Bedingungen knüpfte: an die Zugehörigkeit des Bewerberstaates zu Europa und an dessen Bekenntnis zu den Werten der EU. Ganz in diesem Sinn heißt es auch in der Europäischen Verfassung: „Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen.“
Japan, Australien oder Kanada können der EU grundsätzlich nicht beitreten, weil sie einfach keine europäischen Staaten sind. Selbst wenn diese Länder alle „Kopenhagener Kritierien“ erfüllen und sich zu den Werten Europas bekennen sollten, kommt ein Beitritt nicht in Frage: Die EU versteht sich nicht als eine Etappe zum Weltstaat, sondern ausdrücklich als Union europäischer Staaten und Völker. Was aber Europa umfasst, ist nirgendwo klar definiert. Für Coudenhove-Kalergi war in den 20er Jahren fraglich, ob Großbritannien und Russland zu Europa gehören. Heute wird niemand – außer den Briten selbst – Großbritannien außerhalb Europas sehen und fast niemand Russland innerhalb Europas.
Die zweifellos europäischen Länder Serbien oder Weißrussland können zumindest so lange nicht beitreten, wie sie die europäischen Werte nicht achten. Diese „Werte der Union“ definiert die Europäische Verfassung folgendermaßen: „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.“
Im Versuch der Türkei, Mitglied der EG und später der EU zu werden, hat man fatalerweise die erste Frage ignoriert und sich auf die zweite konzentriert: Der Auftrag an die Kommission war ab 1999, die Türkei exakt an den selben Maßstäben und Kritierien zu messen, an denen auch die mitteleuropäischen Kandidatenländer gemessen wurden: „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben.“ Ob und wie weit dies für die Türkei zutrifft, hatte Verheugen zu prüfen.
Statt sich zunächst die Frage zu stellen, ob die Türkei überhaupt ein europäisches Land – ein Teil der Identität Europas – ist, versuchte man die Unmöglichkeit eines türkischen Beitritts an der Verwirklichung konkreter Werte, an der Menschenrechtslage, an der Minderheitenproblematik etc. festzumachen. Das hatte drei fatale Folgen: Erstens wurde die EU dadurch unglaubwürdig, weil sie zwar von der Türkei eine Respektierung der kurdischen Minderheit fordert, aber alte EU-Mitglieder wie Frankreich oder Griechenland die Existenz von Minderheiten auf ihrem Staatsgebiet einfach leugnen. Zweitens machte sich die EU zum permanenten Kritiker der türkischen Politik und der türkischen Gesellschaft, was für ein gutnachbarschaftliches Verhältnis eher abträglich ist. Drittens weckte die EU die Erwartungshaltung, dass sie die Türkei als Beitrittskandidat und als Mitglied akzeptieren müsse, wenn alle Forderungen erfüllt sind.

Pragmatische Abwägung

Premier Yilmaz meinte 1997 schlicht: „Unser Wertesystem entspricht dem Westeuropas!“ Er dachte dabei an die Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution. Tatsächlich aber war es Atatürks Ideologie des Nationalismus, die einem Volksgruppenrecht für die Kurden im Weg stand; war es Atatürks Ideologie des Säkularismus und Laizismus, die einer wirklichen Religionsfreiheit im Weg stand; war es Atatürks Ideologie des Estatismus, die einem Kompromiß in der Zypernfrage im Weg stand.
Leichter als seinen kemalistischen Vorgängern fällt es dem frommen Muslim Erdogan, auf Wunsch der EU von den Atatürkschen Prinzipien abzurücken. Die islamistische AKP-Regierung konnte die von der EU geforderten Gesetzesreformen umsetzen, die Todesstrafe abschaffen, die Folter verbieten, den Kurden mehr Minderheitenrechte geben, in der Zypern-Frage Flexibilität beweisen. Nicht die westlich-säkularen Erben Atatürks, sondern der Islamist Erdogan brach den Widerstand und erreichte nach gigantischen Reformanstrengungen, daß die EU-Kommission im Oktober 2004 Beitrittsverhandlungen empfehlen konnte, und daß der EU-Gipfel im Dezember beschloß, diese am 3. Oktober 2005 zu beginnen.
Folgendes sind nun die pragmatischen Argumente der Befürworter eines türkischen EU-Beitritts:
lMan könne nicht von dem Ziel abrücken, das man der Türkei jahrzehntelang vor Augen gehalten habe. Deshalb sei nur die Vollmitgliedschaft ein anständiges Angebot. – Aber: Die einst in Aussicht gestellte EWR-Mitgliedschaft ist durch die Zollunion weitgehend erfüllt; die heutige EU ist etwas wesentlich anderes als die EWG von 1964.
lDie Türkei habe riesige Reformen geschafft, insbesondere in den vergangenen zwei Jahren. Dieser Kurs werde unter dem wachsamen Auge der EU-Kommission fortgesetzt, bis die Türkei politisch, rechtlich und gesellschaftlich volles Europa-Niveau erreicht. – Aber: Wenn die Perspektive der EU-Mitgliedschaft tatsächlich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führt, warum lösen wir dann nicht so den israelisch-palästinensischen Konflikt, warum demokratisieren wir nicht durch Beitrittsperspektive den Nahen und Mittleren Osten?
lEs gebe keine „systematische Folter“ mehr. Ankara gehe gegen folternde Polizisten mit einer „Politik der Null-Toleranz“ vor. – Aber: Auch nicht-systematische Folter ist ein Problem; es geht nicht nur um die Rechtslage, sondern auch um die Rechtspraxis.
lDie Mitgliedschaft sei geostrategisch wichtig: Bereits im „Kalten Krieg“ habe sich die Türkei als verläßlicher NATO-Partner der USA, als Freund Israels und als Wirtschaftspartner Europas erwiesen. Heute sei die Türkei ein stabilisierender Faktor inmitten der Krisenherde des Balkan, des Nahen Ostens und der Kaukasus-Region. – Aber: Eine EU-Mitgliedschaft Ankaras bekehrt aber keinen arabischen Diktator, sondern macht die Türkei dem arabischen Raum nur noch fremder.
lEine Ablehnung der Türkei würde dieses Land in die Hände der islamischen Fundamentalisten treiben. Mit diesem Argument wirbt etwa Jörg Haider für den Beitritt der Türkei: „Eine Türkei, die von Europa zurückgewiesen wird, würde ein fundamentalistisch-islamischer Staat werden.“ Auch Verheugen ist überzeugt, daß ein Zurückweisen der Türkei alle Reformen zunichtemachen und einen Rückfall der Türkei in finstere Zeiten bewirken würde. – Aber: Wenn das Eis wirklich so dünn ist, sollten wir die Türkei keinesfalls beitreten lassen!
lUmgekehrt würde die Aufnahme der Türkei beweisen, daß der Islam mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit vereinbar ist. – Bitte: Zuerst der Beweis, dann die Integration.
lDie unterentwickelte Türkei gilt als großer Zukunftsmarkt (junge Arbeitskräfte, Wirtschaftswachstum) und als ökonomische Brücke zu anderen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Fakt ist, daß an der europäisch-türkischen Zollunion bisher v. a. die Europäer verdienten. – Aber: Die Türkei wäre das größte und einwohnerstärkste Land der EU und auch das ärmste, wirtschaftlich schwächste. Es hätte das größte Stadt-Land-Gefälle, die größten sozialen Spannungen, die höchste Inflations- und Arbeitslosenrate, das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen. Da 35 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig sind, würde ein Beitritt der Türkei nach heutigem EU-Agrarsystem die Europäer mehr kosten als die 10 Beitritte des Jahres 2004. Die Mit gliedschaft der Türkei würde zum Kollaps der gemeinschaftlichen Agrarpolitik führen.
lDie Migration sei eine Chance, meinen viele Experten: Die Türkei habe jene Jugend, die dem vergreisten Europa fehle. Das demographische Defizit in Europa fordere den Beitritt der Türkei und die baldige Freizügigkeit für die Türken. Die Migration führe vor allem in jene Länder, wo bereits viele Türken leben: also nach Deutschland. – Aber: Verkraftet Deutschland einen Zuzug von 5 bis 10 Millionen Türken?
lAlles unterhalb der Vollmitgliedschaft werde von den Türken als Beleidigung, als nationale Zurückweisung und Schmach empfunden. Die Folge wäre eine Eiszeit zwischen Ankara und den Europäern. – Falsche Versprechen hier, Erpressungsversuche dort!
Die EU kann zwar einem Beitrittskandidat ihre Verordnungen und Bedingungen aufzwingen, doch ab dem Beitritt ist jedes Land ein uneingeschränkt gleichberechtigter Mitspieler und Mitgestalter in der EU. Wird die Türkei EU-Mitglied, dann wäre sie mit einer Fläche von 780.000 Quadratkilometern das größte Land der Europäischen Union; würde sie an mehr nicht-europäische Staaten grenzen als jedes andere EU-Mitgliedsland: nämlich an Syrien, den Irak, den Iran, Armenien, Georgien und – über das Schwarze Meer hinweg – an Rußland und die Ukraine; wäre sie mit heute 71,4 Millionen Einwohnern und einem Bevölkerungswachstum von 1,6 Prozent rasch das einwohnerstärkste Land der EU; würde sie (nach derzeitigem EU-Recht) 8 Milliarden Euro jährlich an Strukturhilfen und (laut Agrarkommissar Fischler) weitere 11,3 Milliarden an Agrarförderung aus dem EU-Haushalt bekommen; würde der Islam – nach der Katholischen Kirche – zur zweitgrößten Glaubensgemeinschaft in der EU.

Welches sind Europas Werte?

Die Grundsatzfrage jedoch lautet: Ist die Türkei schon ein europäisches Land, wenn sie wie ein solches funktioniert? Geht es nicht mehr um die – wenn auch in Widersprüchen, inneren Kämpfen und Brüchen gereifte – Identität Europas, sondern nur mehr um die formale Erfüllung von „Beitrittskriterien“?
Angesichts des mittlerweile mehrjährigen Streits um die Verankerung des christlichen Erbes in der Europäischen Verfassung muß man doch fragen, warum das vereinte Europa meint, eine Wertegemeinschaft zu sein, wenn es die Bezugsquelle jener Werte nicht mehr anzugeben vermag, die Europa lange vor seiner politischen Einigung als geistige Einheit konstituiert haben. Zugegeben: Europas geistige Entwicklung ist ebenso bunt, vielgestaltig und widersprüchlich wie seine politische. Weder in seiner Kultur noch in seiner Philosophie gibt es eine kontinuierliche Entwicklung, sondern Brüche und Widersprüche.
Dennoch waren die Gründerväter des vereinten Europa und viele Staatsmänner bis vor kurzem noch in der Lage, aus diesem Mosaik das Gemeinsame und Verbindende, das Kontinuierliche und Tragende zu erkennen, und damit auch Werthaftes von Wertlosem zu unterscheiden. Selbst ein Liberaler wie der deutsche Bundespräsident Theodor Heuss konnte sagen, Europa sei auf drei Hügeln errichtet: auf der Akropolis, dem Kapitol und Golgotha. Gemeint war damit das Ineinanderwirken von hellenistischer Philosophie, römischem Rechtsdenken und christlicher Heilsbotschaft. Tatsächlich haben diese drei Komponenten das in Europa weitgehend auch politisch für verbindlich erklärte Bild vom Menschen und seiner Würde geprägt – und damit die Grundlage aller Menschenrechte gelegt.
Europa ist bis heute ohne die Kenntnis des Neuen Testaments, der griechischen Philosophie und des römischen Rechts- und Staatsdenkens nicht zu begreifen. Vermutlich ist auch Amerika nicht ohne die „Pilgrims“ zu verstehen, China nicht ohne Konfuzius und die arabische Welt nicht ohne Mohammed. Ganz sicher ist, dass sich quer durch alle Verschiedenheit und bunt-schillernde Vielfalt des „alten Kontinents“ die gemeinsame Farbe des christlichen Erbes – und seiner Bestreitung! – zieht. Papst Johannes Paul II. konnte deshalb 1982 in Santiago de Compostela behaupten, „dass das europäische Wesen unverständlich ist ohne das Christentum“.
Wie deutet der Papst dieses „europäische Wesen“? Er definierte: „Auch noch in unseren Tagen ist die Seele Europas eins, denn sie hat neben ihrem gemeinsamen Ursprung genau die gleichen christlichen und menschlichen Werte; hierzu gehören etwa die der menschlichen Würde, des tiefen Gefühls für Gerechtigkeit und Freiheit, der Arbeitsamkeit, der Unternehmungsfreude, der Liebe zur Familie, des Respekts vor dem Leben, der Toleranz und der Sehnsucht nach Zusammenarbeit und Frieden.“ Europa sei der Kontinent, der „am meisten zur Entwicklung der Welt beigetragen hat: ebenso auf dem Gebiet des Denkens und des Arbeitens, wie auch auf dem der Wissenschaft und Künste“.
Wenn der Papst dem alten Europa solche Komplimente macht, dann nicht aus Naivität über die Schattenseiten der europäischen Geschichte und die blinden Flecken der Gegenwart. Er spricht vielmehr wie der gütige, altersweise Vater, der seinem Bengel, der eben Nachbars Fenster zertrümmert hat und reumütig nach Hause kommt, sanft über den Kopf streichelt und sagt: „Du bist ja doch ein gutes Kind!“ Gute Kinder waren die Europäer wahrlich selten in ihrer Geschichte: Sie prügelten sich in der Familie krankenhausreif, schlugen die Nachbarskinder (und bekamen von diesen Schläge), zertrümmerten manchen Nachbars Fenster und machen auch heute oft gar nicht den Eindruck, als seien sie endlich erwachsen, vernünftig und verantwortungsbewusst geworden.
Und doch hat der gute Vater Recht, wenn er dem Lausebengel über die Kopf streicht und sagt: „Du bist ja doch ein gutes Kind!“ Damit nämlich macht er ihm klar, daß all seine bösen Taten den guten Wesenskern vielleicht verdunkeln, aber nicht zerstören können. Und der Papst (als guter Pädagoge, Psychologe und Seelsorger) blieb in Santiago de Compostela nicht dabei, Europas Identität zu analysieren. Er schloß vom Wesen auf das Ziel, von der Identität Europas auf seine Sendung, indem er „an dich, altes Europa“ appellierte: „Finde dich wieder selbst. Sei du selbst. Schau auf deine Ursprünge. Belebe deine Wurzeln. Lass jene wahren Werte wieder aufleben, die deine Geschichte ehrenvoll machten und dich unter den anderen Erdteilen herausheben.“
Es war die Christianisierung Europas, die aus dem Vorgefundenen – einschließlich griechischer Philosophie und römischen Rechts – jenen Kontinent geformt hat, den wir Europa nennen. Das Christentum ist deshalb heute nicht nur ein gemeinsames „Erbe“ der Europäer, denn zu diesem Erbe gehören auch Hypotheken wie die Weltkriege oder der Kommunismus, sondern es bleibt eine identitätsstiftende Größe. Ohne Christentum hätte es weder die vielgerühmte Aufklärung noch den Sozialstaat noch die Idee unveräußerlicher Menschenrechte gegeben.
Der liberale italienische Rechtshistoriker und -philosoph Paolo Prodi meint: „Unsere Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit der Freiheiten und Garantien, konnte sich im Abendland aufgrund der historischen Koexistenz verschiedener Ordnungen entwickeln, das heißt aufgrund der Konkurrenz verschiedener Normenordnungen, aufgrund einer Pluralität von Foren, vor die der Mensch gerufen wurde, um über seine Handlungen Rechenschaft abzulegen.“ Die Geschichte des Abendlandes war, so beobachtet Prodi richtig, eine ständige und facettenreiche Konkurrenz „zwischen der Sphäre des Heiligen und der Macht“.
Dies ist aber ein Erbe jener Gewaltenteilung, die Jesus selbst seinen Jüngern lehrte, als er sagte: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört; und Gott, was Gott gehört!“ (Mt 22,21). Weder der alte Orient noch die antike Welt, weder die außerchristlichen Kulturräume unserer Tage noch die totalitären Ideologien im Abendland kannten bzw. kennen diese Trennung von politischer und religiöser Autorität. Diese Unterscheidung begrenzt jede staatliche Macht, befreit die Politik von der Irrationalität des Mythischen und Numinosen. Der Staat ist dann aber auch nicht mehr das Absolute, sondern hat den Menschen in seiner Gott-gegebenen Würde zu respektieren und zu achten. Dies ist ein ganz spezifischer Beitrag des Christentums zur Identität Europas: Fundament wahrer Rechtsstaatlichkeit, persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Gerechtigkeit.
Die Übernahme italienischer, deutscher oder schweizerischer Handels- oder Strafgesetze (wie unter Atatürk) oder die Übernahme von EU-Richtlinien und Verordnungen (wie unter Erdogan) schafft noch keinen Raum des Gemeinwohls, der Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit. Voraussetzung dafür ist auch ein gesellschaftliches Bewusstsein, das sich nicht per Verordnung oder Gesetz herstellen lässt. Dabei geht es nicht um ein geistesgeschichtliches Detail, sondern tatsächlich um „das Überleben unserer kollektiven Identität als abendländische Menschen“, um nochmals Paolo Prodi zu zitieren.
Systematisieren wir die Frage nach der Identität Europas, dann können wir feststellen:
-Die Türkei ist kein notwendiger, konstitutiver Teil der Europäischen Identität. Ein vereintes Europa ohne Frankreich oder ohne Deutschland ist undenkbar; ein vereintes Europa ohne die Türkei ist denkbar.
-Die Türkei hat als Erbe eines großen Reiches und einer großen Geschichte eine eigene, türkische Identität, die – wie jene Europas auch – seit hundert Jahren stark im Wandel ist. Ob diese türkische Identität mit der europäischen kompatibel ist, ist mindestens fraglich, also ein schwer kalkulierbares Risiko.
lDie inneren Spannungen in der Türkei sind durch Atatürks Reformen nicht beseitigt, sondern verschärft worden. Wir haben hier einerseits eine säkulare Rechtsordnung, einen laizistischen Staat und andererseits eine zutiefst islamische Gesellschaft, ja sogar islamische Renaissance.
-Die Türkei kann als Mitglied wenig zum Fortschritt Europas und wenig zur Lösung der Probleme Europas beitragen. Umgekehrt kann die EU wenig zur Lösung der türkischen (gesellschaftlichen und politischen) Probleme beitragen.
Die Konfrontation läuft nicht zwischen Freunden und Gegnern der Türkei, wie es noch vor wenigen Jahren beim Kampf um die türkisch-europäische Zollunion war. Es geht vielmehr um die Frage, ob die EU eine Vollmitgliedschaft der Türkei wollen und verkraften kann. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre es Ankara gegenüber sowohl anständiger und als auch ehrlicher, eine solide Partnerschaft jenseits der Mitgliedschaft zu suchen, anstatt den EU-Beitritt in Aussicht zu stellen.

 

 
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