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Deutschland, Land der Kapitalismuskritik

Von Jürgen Schwab

Anmerkungen zu Münteferings Heuschrecken


Deutschland ist traditionell das Land der Kapitalismuskritik. Wenn man einmal von der zeitgenössischen „Neuen Mitte“ absieht, von diesem neoliberalen Milieu, um das sich Gerhard Schröder (SPD), Joschka Fischer (Grüne), Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) streiten, so ist die Ablehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems genau das, was wir lagerübergreifend und über die Zeiten hinweg als „typisch deutsch“ bezeichnen können. Damit ist freilich über die Alternative zum Kapitalismus noch nicht viel gesagt. Das Angebot reicht von sozialdemokratischer Gewerkschaftspolitik, über alle möglichen Spielarten von Sozialismus und kommunistischer Planwirtschaft, die Idee der Volksgemeinschaft, die der Nationalismus vertritt, bis hin zu katholischer Soziallehre und protestantischer Sozialethik.

Der freie Unternehmergeist und das freie Spiel von Angebot und Nachfrage sind ambivalent: Zum einen entfesseln freier Markt und Privateigentum an Produktionsmitteln die Leistungsbereitschaft des Unternehmers, Mut zu Risiko und Innovation; zum anderen kann sich schrankenlose Marktfreiheit schädlich für das Gemeinwohl eines Staatsvolks auswirken: Konkurrenz wird vernichtet, Monopole und Oligopole bestimmen den „Markt“, Wirtschaftskriminalität breitet sich aus, einflußreiche wirtschaftliche Lobbyisten kaufen sich politische Entscheidungen, ungehemmter Kapitalismus stört den sozialen Frieden und schädigt die Umwelt – wobei sich dies alles im Zeitalter der „globalen Amerikanisierung“ weltweit auswirkt.
Der Antipol zum kapitalistischen System ist der Kommunismus. Unter letzterem verstand Aristoteles ein Staatswesen, in dem der Gemeinbesitz dominiert. Daß sich eine solche „Ordnung“ verhängnisvoll für das Gemeinwesen auswirkt, war dem griechischen Philosophen bewußt. Aristoteles plädierte dafür, „die Vorteile des Kommunismus und des Privatbesitzes“ miteinander zu verbinden. Rund 2000 Jahre später propagierten die Autoren des Kommunistischen Manifests (1848) das System, das Aristoteles verworfen hatte. Der Trierer Rabbinersohn Karl Marx und der Barmer Fabrikantensprößling Friedrich Engels forderten die Verstaatlichung sämtlicher Produktionsmittel, darüber hinaus die Diktatur des Proletariats und die proletarische Weltrevolution. Wie sich dieses Programm auswirkt, konnte man ein paar Jahrzehnte später im „Ostblock“ besichtigen. Zu unterscheiden ist freilich das kommunistische Programm, das mit einem nationalen Politikansatz nicht vereinbar ist, von der zutreffenden Analyse des Kapitalismus, wie sie im Kommunistischen Manifest ausgebreitet wird:
„Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation [Ausbeutung] des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen.“ Da erscheint selbst die „Reaktion“, das Ancienne Régime, in besserem Licht: „Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘.“

Demokratiekritik des Papstes

Da kommt selbst Joseph Kardinal Ratzinger, nunmehr Benedikt XVI., nicht umhin, der „marxistische[n] Demokratiekritik“ etwas abzugewinnen, die man „nicht einfach beiseite schieben“ könne. Dies läßt den katholischen Traditionalisten zu durchaus revolutionären Fragen gelangen: „Wie frei sind Wahlen? Wie weit ist der Wille durch Werbung, also durch Kapital, durch einige Herrscher über die öffentliche Meinung manipuliert? Gibt es nicht die Oligarchie derer, die bestimmen, was modern und fortschrittlich ist, was ein aufgeklärter Mensch zu denken hat. Die Grausamkeit dieser Oligarchie, ihre Möglichkeit öffentlicher Hinrichtungen, ist hinlänglich bekannt. Wer sich ihr in den Weg stellen möchte, ist Feind der Freiheit, weil er ja die freie Meinungsäußerung behindert.“
Der geistliche Würdenträger hat auch kein Vertrauen in die „Willensbildung in den Gremien demokratischer Repräsentation“, denn wer „möchte noch glauben, daß das Wohl der Allgemeinheit dabei das eigentlich bestimmende Moment ist?“ Und weiter: „Wer könnte an der Macht von Interessen zweifeln, deren schmutzige Hände immer häufiger sichtbar werden?“ Schließlich attestiert Ratzinger dem parlamentarischen System einen Hang zur „Unregierbarkeit“. Die „Freiheit des Ganzen“ sei in Gefahr.
In einer auf Vereinzelung ausgerichteten „Freiheit“ gerate der Mensch zum „mißratenen Geschöpf, zum Sein ohne Sinn“. Ratzinger greift eine wesentliche Sinnlosigkeit unter vielen heraus: „Zu groß ist die Zahl derer, die an den Früchten dieser Freiheit nicht teilhaben, ja überhaupt jede Freiheit verlieren: Arbeitslosigkeit wird erneut zum Massenphänomen; das Gefühl des Nicht-gebraucht-Werdens, der Überflüssigkeit foltert die Menschen nicht weniger als die materielle Armut. Skrupellose Ausbeutung macht sich breit.“
Diese Zeilen schrieb der Bayer vor sieben Jahren in einem Sammelband des Grazer Aula-Verlags. In seinem deutschen Vaterland gibt es heute fünf bis sechs Millionen Arbeitslose, die scheinbar keiner mehr braucht. Sie könnten sich bei künftigen Protestaktionen auf ihren Landsmann Benedikt XVI. berufen. Der polnische Papst Johannes Paul II. hatte die Völker des Ostens zum Sturz des Kommunismus ermuntert, sein deutscher Nachfolger könnte Gleiches zum Aufstand der Völker gegen die Diktatur des internationalen Kapitals leisten. Eine „Befreiungstheologie“ ist hierfür nicht nötig. Das ist nicht die Aufgabe der Kirche, sondern die von selbstbewußten Völkern und ihren Staaten.
Während der Protestantismus sehr schnell den autoritären Staat als modernes Ordnungsinstrument entdeckt hatte, orientiert sich die katholische Kapitalismuskritik eher an – heute zu Unrecht verpönten – mittelalterlichen Vorstellungen, in welchen insbesondere das Recht der kleinen Gemeinschaften (Ehe, Familie, Dorfgemeinschaft, Stammesregion) zur Geltung kommen soll. In diesem Sinne entwarf Othmar Spann seinen Wahren Staat (1921), demzufolge die Person wieder instand gesetzt bzw. ihrem natürlichen Stand untergeordnet werden soll. Der moderne Staatsbürger wäre somit aufgehoben, weshalb dieses Konzept nicht mit autoritären Staatsmodellen (faschistischer Staat unter Mussolini, Österreichs Ständestaat etc.) verwechselt werden darf, in denen sich der Staat ein berufsständisches Parlament untergeordnet hat (wie dies in Hegels Dichotomie von Staat und Gesellschaft angelegt ist); bei Spann wäre der Staat selbst nur ein Stand unter anderen.
Die Bezugnahme auf katholische Soziallehre und Staatsverständnis macht deutlich, daß der Kommunismus nicht das einzige Konzept ist, das vom deutschem Kulturraum aus seinen geistigen Ausgang zur Überwindung des Kapitalismus genommen hat. In der Weimarer Republik (1919–1933) stritten sich drei sozialistische Parteien um das richtige antikapitalistische Konzept. Die Sozialdemokratie war bereits als kapitalistischer Reparaturbetrieb diskreditiert, was die KPD versprach – Verstaatlichung der Produktionsmittel –, machte dem Mittelstand und der Großindustrie Angst, so daß die NSDAP – dem damaligen Geschmack entsprechend – der „antikapitalistischen Sehnsucht des deutschen Volkes“ (Gregor Strasser) am ehesten entsprach. Die Wirtschaftspolitik unter Hitler und Schacht schien nun am ehesten dem zu entsprechen, was Aristoteles vorwegnahm, nämlich der Kombination aus Privateigentum, Gemeinbesitz und wirtschaftlichem Strategiemonopol des Staates bzw. Primat der Politik. Auf die Errungenschaft dieses Modells weist neuerdings verstärkt die etablierte Geschichtswissenschaft hin. Als Bestseller erweist sich derzeit das Buch „Hitlers Volksstaat“ des Berliner Historikers Götz Aly. Daß von diesem NS-Modell die Westdeutschen noch jahrzehntelang zehrten, was nach 1945 unter der Losung „soziale Marktwirtschaft“ firmierte (zum Teil mit dem gleichen Personal an Wirtschaftsführern und Ökonomie-Professoren), sei nur am Rande angemerkt.

Münteferings Heuschrecken

Neuerdings bezeichnet Franz Müntefering kapitalistische Spekulanten als „Heuschrecken“. Der SPD-Vorsitzende wörtlich: „Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplatz sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschrecken über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.“ Da in der einsetzenden polemischen Debatte Müntefering klarstellte, daß er mit „Ungeziefer“ nicht verantwortungsbewußte und bodenständige Unternehmer meinte, sondern lediglich nomadisierendes Spekulationskapital, wurde dem SPD-Chef von „antifaschistischen“ Kritikern sofort vorgehalten, er unterscheide wohl – in böser deutscher Tradition! – zwischen „schaffendem und raffendem Kapital“. Was 1945 besiegt wurde und wovon sich die Deutschen damals „befreit“ zu haben behaupten, kann ja unmöglich einen Lösungsansatz für künftige Herausforderungen bieten.
Natürlich waren Münterferings „Heuschrecken“ nur eine Marotte, die im Landtagswahlkampf von Nordrhein-Westfalen Stimmen bringen sollte. Solche antikapitalistische Polemik, das weiß der SPD-Chef, kommt in Deutschland, besonders an Rhein und Ruhr, immer gut an – und das bis in den Mittelstand hinein. Daß die „Heuschrecken“ der SPD nicht den Wahlsieg beschert haben, dürfte daran liegen, daß dieser Kampagne die Glaubwürdigkeit fehlte. Die Wahlbürger, gerade die der Arbeiterschaft, merken allmählich, daß die Parteienkonkurrenz am wirtschaftlichen System nichts, aber auch gar nichts ändert. Denn wie die Wahl auch ausgeht, die „Neue Mitte“ gewinnt und somit die Globalisierung. Es ist nämlich der „Parteienstaat“, in dem sich die Parteien den Staat „zur Beute“ gemacht haben (Hans Herbert von Arnim), der die politische Voraussetzung für den Kapitalismus in der Wirtschaft ist. Der freien Konkurrenz von Parteien (Staat) entspricht die freie Konkurrenz auf dem Markt (Wirtschaft). Eine unabhängige Instanz (Repräsentant des Gemeinwohls) ist in beiden Sphären nicht vorgesehen, allenfalls ein „Nachtwächterstaat“ (Adam Smith), der zur „Dienstleistungsagentur der Gesellschaft“ (Günter Maschke) herabgerückt ist. Doch wer mag sich schon für einen „Staat“ einsetzen wollen, der nur ein Betrieb neben anderen Betrieben ist?
Nach liberalistischer Ideologie sollen die Wähler bzw. Marktteilnehmer darüber entscheiden, daß sich auf dem politischen bzw. wirtschaftlichen Markt das beste Angebot bzw. der geeignete Kompromiß für das Gemeinwohl durchsetzt. Soweit die Theorie des Liberalismus, die Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Dem steigenden Profit des Großkapitals stehen Massenentlassungen gegenüber. Im ehemaligen „Ostblock“ und in Fernost wird kostengünstiger produziert. Um gegenüber China und Indien konkurrenzfähig zu sein, müßten in unseren Breiten Lohnsenkungen bis weit unter die Armutsschwelle stattfinden. Die Katastrophe scheint unvermeidbar. Der Ruf nach Fichtes geschlossenem Handelsstaat (1800) liegt auf der Hand, doch ist dieses Konzept ohne Atomwaffenarsenal gleich zu den Akten zu legen. Solange die pax americana fest im Sattel sitzt, wird die Kapitalismuskritik weiterhin hohles Wahlkampfgetöse bleiben. Der „Souveränitäts“-Begriff wäre der Schlüssel zum Verständnis des internationalen Finanzkapitals, wobei die Frage nach der Herrschaft die Innen- wie die Außenpolitik betrifft. Das Ende des Kapitalismus, das Ferdinand Fried (vom Tat-Kreis um Hans Zehrer) im Jahr 1931 vorzeitig ankündigte, wird nur über den selbstherrlichen Staat verwirklichbar sein. Unterdessen möchte man Franz Müntefering zurufen: Wer über den Staat nicht reden möchte, soll vom Kapitalismus schweigen!

Die Ratzinger-Zitate sind folgendem Aufsatz entnommen:
Joseph Kardinal Ratzinger: Freiheit und Wahrheit.
In: 1848. Erbe und Auftrag. Hrsg. von Otto Scrinzi und Jürgen Schwab.
AULA Verlag, Graz 1998, S. 83–99.

 
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