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Charisma

Von Dr. Angelika Willig

Das große Geheimnis in der Politik

Das Wort „Charisma“ ist in aller Munde. Doch kaum einer weiß es zu definieren. Viele haben eine ungeheure Vorstellung davon, was das Charisma alles vermag. Hätten wir einen Politiker mit dem nötigen Charisma, so hört man immer wieder in nationalen Kreisen, dann sähe es im Land bald anders aus. Die Vorbehalte der Wähler gegen nationale Parteien schmölzen wie Schnee an der Sonne. Jörg Haider, der die FPÖ zu ihrer heutigen Bedeutung führte, soll ein „gewisses Charisma“ gehabt haben und ebenso der Begründer der deutschen Republikaner, Franz Schönhuber. Auch der US-Präsident Barack Obama ist mit einem Charisma ausgestattet, dem sein Friedensnobelpreis mangels entsprechender Verdienste hauptsächlich zu verdanken sein wird.

Charismatische Fähigkeiten“ beschränken sich nicht auf Politiker, sondern werden auch an Unternehmern, Künstlern und Sportlern gerühmt. Doch scheint das Charisma eine desto wichtigere Rolle zu spielen, je weniger es um präzise und überprüfbare Qualitäten geht. Wer schneller läuft als alle anderen oder eine bahnbrechende Erfindung macht, braucht keine geheimnisvolle Ausstrahlung, um berühmt zu werden. Umgekehrt gibt es offenbar charismatische Menschen, die – genau besehen – nur wenig leisten. Es scheint sich um eine Art Zauber zu handeln, der die Urteilsfähigkeit des Publikums hemmt.

Religiöser Ursprung

Der Eindruck ist nicht ganz falsch. „Charisma“ heißt griechisch „Gabe“ oder „Geschenk“. Gemeint ist ursprünglich ein Geschenk Gottes. Das Wort findet sich zuerst im Neuen Testament, besonders bei Paulus. Es bezeichnet in erster Linie die Begabung zum Empfangen von Inspirationen oder Erleuchtungen und verleiht dem Träger eine eigene religiöse Autorität. In der Bibel wird zwischen verschiedenen charismatischen Eigenschaften unterschieden: „Diese Zeichen aber werden denen folgen, die glauben: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, sie werden in neuen Sprachen reden, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden. Kranken werden sie die Hände auflegen, und sie werden sich wohl befinden.“ (Markus-Evangelium 16; 17-18)
Der Soziologe Max Weber hat den Begriff zuerst auf das Gebiet der Politik übertragen. Er unterscheidet drei verschiedene Arten von Herrschaft: Die traditionale Herrschaft legitimiert sich durch eine bestimmte Überlieferung, die rationale Herrschaft durch Vernunft und die charismatische Herrschaft durch die unmittelbare Wirkung der Persönlichkeit. In der Schrift „Wirtschaft und Gesellschaft“ heißt es: „Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets durch Wunder – gesicherte freie aus Vertrauen zum Führer geborene Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist die Pflicht der zur Anerkennung dieser Qualitäten Aufgerufenen. Diese Anerkennung ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene ganz persönliche Hingabe.“
Max Weber weist auch darauf hin, daß die Wirkung des Charismas von einer außergewöhnlichen, in der Politik von einer revolutionären Situation abhängt. Wird es alltäglich, so geht die Herrschaft in eine traditionale oder rationale Form über.

Romantisches Beispiel

Das Phänomen des politischen Charismas wird von E. T. A. Hoffmann (1776–1822) in seiner Erzählung „Klein Zaches, genannt Zinnober“ beispielhaft geschildert. Man hat von hier sogar Parallelen zur Zeitgeschichte gezogen und dem Dichter eine prophetische Ader nachgesagt.
Klein Zaches ist der Sohn einer bettelarmen Frau, die sich fortwährend darüber beklagt, daß Gott sie neben ihrer Armut noch mit einem „behinderten“ Kind gestraft hat. Zaches ist nicht nur für sein Alter viel zu klein, er hat auch eine häßliche, gnomenhafte Gestalt und eine unangenehm schnarrende Stimme, die nur Unsinnigkeiten von sich gibt. Der Dichter bezeichnet ihn bald als „Kobold“ und bald als „Wurzelmännchen“.
Eines Tages schläft die Mutter am Wegesrand erschöpft ein. Da erscheint eine schöne Fee namens Rosabelverde und streicht mit ihren Händen durch das struppige Haar des Kindes. Sogleich wird es glänzend und seidig. Doch das ist nicht die einzige Veränderung, die durch das wunderbare Eingreifen der Fee hervorgerufen wird. Von dem Augenblick an verzaubert Klein Zaches jeden Menschen, dem er begegnet, und nimmt ihn vollkommen für sich ein. Als erstes erklärt sich der Pfarrer bereit, ihn zu adoptieren, und gibt ihm eine höhere Erziehung und Ausbildung. Sie ändert zwar nichts an dem abstoßenden Äußeren, dem trivialen Gerede und der kreischenden Stimme des Zaches, der sich nun anspruchsvoll „Herr Zinnober“ nennt. Doch mit Hilfe seiner unheimlichen Fähigkeit, die Leute für sich einzunehmen, gelingt ihm eine glänzende Karriere im Staatsdienst. Schließlich wird er sogar Minister mit diversen Orden. Sein Trick besteht darin, daß immer, wenn jemand anders etwas Kluges und Sympathisches äußert, alle Zuhörer automatisch glauben, Zinnober habe gesprochen. Wenn einer einen guten Vorschlag macht, glauben alle, er käme von Zinnober, und der eigentliche Urheber ist augenblicklich vergessen. Selbst dann, wenn einer mit künstlerischen Darbietungen glänzt, wenden sich alle Zinnober zu und applaudieren ihm. Auch sein unverändert häßliches Äußeres wirkt in den Augen des Publikums schön und anziehend. Die Herzen der Frauen fliegen dem Wicht nur so zu.
Die Formulierungen, die Hoffmann für den merkwürdigen Fall findet, passen auffallend gut zum Phänomen des Charismas: „Nur zu gewiß ist es, daß irgendein düstres Geheimnis, irgendein böser Zauber verstörend in mein Leben getreten“, denkt der junge Student und Nebenbuhler von Zinnober. „Es muß mit ihm irgendeine geheimnisvolle Bewandtnis haben, und sollt ich an alberne Ammenmärchen glauben, ich würde behaupten, der Junge sei verhext und könne es, wie man zu sagen pflegt, den Leuten antun.“ Wenn es von dem Staat, in dem sich dies zutrug, gar heißt: „Ich verlasse einen Ort, in dem die Leute sämtlich närrisch sind, der einem großen Irrenhause gleicht“, so kann man eine gewisse Parallele zu der heute vielfach unbegreiflichen Hitlerbegeisterung, die in den 1930er Jahren die Massen ergriff, feststellen. Herr Zinnober verhält sich höchst unverschämt und anmaßend, aber niemand setzt ihm irgendeinen Widerstand entgegen – dank des unerklärlichen Zaubers, den er ausübt.

Grenzen der Vernunft

Erst als seine Ehe mit einem schönen und vornehmen Mädchen in die Nähe rückt, beginnt das Blatt sich zu wenden. Der Nebenbuhler, ein hübscher sympathischer Jüngling, der durch Zinnober unverschämt verdrängt wurde, geht daran, das Geheimnis von dessen Anziehungskraft zu lösen. Er deckt die Verbindung mit der zauberkräftigen Fee auf und erfährt, daß das „Charisma“ von Klein Zaches alias Zinnober in drei einzelnen Haaren liegt, die man ihm ausreißen muß, um die Verstrickung zu lösen. Endlich gelingt das auch, und plötzlich erkennen alle früheren Bewunderer, daß der geniale Minister und charmante Plauderer nichts ist als eine „scheußliche Mißgeburt“. Seine Mutter taucht auf und bestätigt die dunkle Herkunft des vermeintlichen Adligen. Es ist, als ob dem ganzen Land die Schuppen von den Augen fallen, und der Betrüger nimmt ein klägliches Ende.
Der Dichter beläßt es nicht bei diesem Märchen, das keines ist, sondern ergänzt die Erzählung mit politischen Andeutungen. Sie geben bereits einen Hinweis, wie das Ganze ursprünglich zu deuten ist. In dem Land, in dem die Handlung spielt, ist soeben die Aufklärung eingeführt worden. Ein neuer Herrscher hat sich vorgenommen, allen Aberglauben auszutreiben und nur nach der Vernunft zu regieren. So sind sämtliche Feen aus seinem Reich vertrieben worden, und nur die Fee Isabelverde hat sich, unter dem Decknamen Rosenschön, heimlich in einem Damenstift einquartiert. Wer an übersinnliche Dinge glaubt oder gar Zauberei betreibt, wird verfolgt und eingesperrt. Es soll vollkommen nüchtern, regelhaft und bürokratisch zugehen. Offensichtlich macht sich Hoffmann über diese philisterhafte Ordnung lustig. Die unter- und überirdischen Mächte, so ist seine Überzeugung, lassen sich nicht verbieten. Wer es versucht, wird von ihnen umso sicherer hereingelegt.
Und genau das ist es, was die Fee mit ihrem Werkzeug Klein Zaches tut. Sie macht die Vernunftordnung des Staates lächerlich und führt die aufklärerische Haltung ad absurdum, indem sie einem kleinen Widerling mittels Zauberkraft die Fähigkeit verleiht, zum Machthaber aufzusteigen, vor dem alle auf den Knien liegen. Das Charisma, das einzelne Menschen aus unerfindlichen irrationalen Gründen mitbekommen haben, setzt sich über alle eingeübten Vernunfthaltungen hinweg und führt die Magie in die Politik wieder ein. So lehrt es die Geschichte von Klein Zaches. Manches erinnert an das Volksmärchen vom „Dornröschen“, wo zwölf Feen zur Taufe der kleinen Prinzessin geladen sind und jede dem Kind eine Gabe mit in die Wiege legt. Die dreizehnte Fee ist nicht eingeladen worden und rächt sich mit einem Fluch. Auch in diesem Märchen wird die natürliche Anlage – heute würde man es genetische Disposition nennen – durch das Bild einer magischen Gabe umschrieben. Solche unwägbaren Einflüsse lassen sich, wie E. T. A. Hoffmann betont, durch keine politische Aufklärung aus der Welt schaffen. Sie spotten gegebenenfalls jeder volkspädagogischen Bemühung.

Charisma-Training für Manager

Geht man von dieser Erzählung aus, dann sind zwei Kriterien für das Charisma entscheidend: erstens entzieht es sich dem begründeten Urteil. Es beruht gerade nicht auf Eigenschaften, die allgemein als positiv anerkannt sind wie gutes Aussehen, überdurchschnittliche Intelligenz, profunde Bildung, Spezialkenntnisse, rhetorische Schulung, geübtes Auftreten. Klein Zaches ist in allem das Gegenteil und geht dennoch überall als Sieger hervor.
Zweitens läßt sich Charisma nicht durch Übung oder Training erlernen, obwohl genau das heutzutage behauptet wird. Für teures Geld versuchen blasse und durchschnittliche Menschen, die bei ihrer Umgebung keinen großen Eindruck hinterlassen, sich in diversen Kursen etwas von dem begehrten Zauber anzueignen. Als Eigenschaften charismatischer Führungspersönlichkeiten im Management werden folgende Qualitäten aufgeführt: 1) eine attraktive und zugleich überzeugende Vision zu vermitteln, 2) eine Vorbildfunktion wahrzunehmen, 3) die Mitarbeiter herauszufordern und zu besonderen Leistungen zu inspirieren, 4) die persönlichen Stärken und Schwächen der anderen weiterzuentwickeln und 5) sie zu eigenständigen kreativen Problemlösungen anzuregen. Doch mit solchen Vorzügen wird man vielleicht ein guter Manager, aber kein Charismatiker. Denn der hier gekennzeichnete Chef müht sich ständig ab, den Ansprüchen seiner Mitarbeiter und seines Unternehmens zu genügen. Genau das tut der Charismatiker nicht. Er ist, wie er ist, weil er seine Richtlinien von hoch oben oder von tief drinnen, auf keinen Fall aber von außen erhält.
Es stimmt zwar, daß unser fieser kleiner Held von einem unerschütterlichen Selbstbewußtsein durchdrungen ist und niemals irgendwelche Zweifel an seiner Wirkung hegt. Das ist in der Tat eine wichtige Voraussetzung, um zu einer charismatischen Wirkung zu gelangen. Wer nicht mit sich selbst identisch ist, sondern unsicher und ständig bereit, sich anderen anzupassen, scheidet von vornherein aus. Jedoch sind Selbstbewußtsein und Authentizität keineswegs eine hinreichende Bedingung für den Erfolg. Von sich eingenommen ist Zaches schon vor dem Eingreifen der Fee und auch nachher, als ihre Gabe unwirksam geworden ist. Trotzdem gelingt es ihm mit diesem Auftrumpfen allein keineswegs, irgendwelche Freunde zu gewinnen. Im Gegenteil, ein vom Schicksal benachteiligter Mensch, der auch noch unverschämt auftritt, verliert jeden Kredit. Selbstbewußtsein wirkt nur dann bestechend, wenn es beim Gegenüber auf eine entsprechende Anerkennung stößt. Und damit hätten wir beinahe schon die Definition von Charisma: Charisma ist eine authentische kompromißlose Haltung, sofern diese Haltung auch zum Erfolg führt. Das eine hat das Subjekt weitgehend in der Hand, das andere hängt nicht von ihm selber ab. Dabei handelt es sich um einen geheimnisvollen Vorgang, den der Normalmensch niemals durchschaut. Es gibt einerseits die Menschen, die dem Erfolg nachjagen, und es gibt andererseits diejenigen, die sich selbst treu bleiben. Aber nur wer den Erfolg durch eigene Aufrichtigkeit gewinnt, besitzt „Charisma“.
In der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ist Gott allein derjenige, der das Charisma wie einen Heiligenschein verleiht. In der romantischen Erzählung übernehmen geisterhafte Mächte diese Auswahl. Womit hat gerade Zaches das Glück verdient, das die Fee ihm schenkt? Erst ganz am Schluß erklärt Rosabelverde ihre Absichten. Sie hatte der kleinen Mißgeburt durch die wohltätige Gabe einen angenehmeren Charakter verleihen wollen und gehofft, daß er sich im Zuge der allgemeinen Sympathie moralisch bessern möge. Offenbar vergeblich. In der Sichtweise der Romantiker ist das Charisma nicht mehr an die göttliche Einwirkung gebunden und kann daher auch dämonische Züge annehmen. Hier sehen wir, wieso die Geschichte von „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach dem Zweiten Weltkrieg auch auf die Erscheinung Hitlers hin interpretiert werden konnte. Offenbar hatte der Dichter eine prophetische Ahnung, als er einen Helden entwarf, der trotz mangelnder Liebenswürdigkeit von allen geliebt wurde und dem trotz mangelnder Einsicht alle folgten. Der Grund liegt darin, daß die Verbindung zwischen Gott und den Menschen gelöst wurde und allerlei dunkle Mächte ihr Spiel mit uns treiben können. Immerhin ist es den guten Kräften möglich, den „Spuk“ zu beenden. Doch vor ähnlichen Erscheinungen geschützt sind wir keineswegs, wenn wir den Dichter richtig verstehen.

Hitler als Extremfall

Die geheimnisvolle Übereinstimmung einer starken Persönlichkeit mit ihrer näheren und weiteren Umgebung kann auf dem von Hegel sogenannten „Geist der Zeit“ beruhen. Die charismatische Person tritt als Verkörperung des jeweiligen Zeitgeistes auf und drückt mit ihren eigenen innersten Anliegen zugleich die Bedürfnisse ganzer Schichten, Epochen und Völker aus. Wenn man annimmt, daß der Zeitgeist nicht irgendeine Mode oder das Produkt feiger Anpassung ist, sondern vielmehr die reale historische Situation in einer allgemeinen Stimmung ausdrückt, dann kommt die Identifikation einer Person mit dem jeweiligen Epochencharakter beinahe einer göttlichen Legitimation gleich. Zumindest empfinden die Zeitgenossen es so und beugen sich entsprechend dieser Macht, die da aus dem Mund eines einzelnen spricht. In diesem Sinne hat sich Hitler auf die „Vorsehung“ berufen, die ihn „ausgewählt“ habe, gleichsam als ob es sich um eine göttliche Erwählung – um das Charisma im ursprünglichen Sinne – handele. Betrachtet man diesen Zusammenhang rein rational, so kann dahinter das Beispielhafte einer Einzelexistenz innerhalb einer bestimmten historischen Epoche stecken, ein gleichsam zufälliges Zusammenfallen von Einzelfall und historischer Notwendigkeit. Es ist wie auf der Bühne, wo ein einzelner Held in eine Situation gerät, in der er plötzlich für „die Gerechtigkeit“, „die Liebe“, „die Freiheit“ in paradigmatischer Weise eintreten muß. Entsprechend treten in der Geschichte immer wieder Konstellationen ein, wo bestimmten Einzelpersonen für Jahre oder Jahrzehnte eine ungeheure Bedeutung zuwächst. Man muß nicht annehmen, daß die Geschichte das Werk Gottes ist, auf jeden Fall entziehen sich solche Phänomene der Kontrolle durch den politischen Apparat oder eine demokratische Mehrheit.
Der Grund dafür, daß der erwünschte „charismatische Politiker“ für eine nationale Partei fehlt, mag also darin liegen, daß die entsprechende historische Konstellation noch nicht eingetreten ist. Solange hat es auch wenig Sinn, sich propagandistische Fähigkeiten anzutrainieren. Charisma kommt immer von einer höheren Macht und behält insofern etwas Religiöses. Unsere Politiker sind weitgehend gefeit davor, da ihnen bereits die erste Grundvoraussetzung fehlt, nämlich fest zu ihrer eigenen Sache zu stehen. Ein gewisses Charisma konnte man Politikern wie Franz Josef Strauß oder Helmut Schmidt nicht absprechen, weil sie den politischen Zustand im Freistaat Bayern oder der alten Bundesrepublik authentisch und entschlossen vertraten. In seinem Buch „Charismatiker und Effizienzen: Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik“ (2009) hat Franz Walter neben Konrad Adenauer auch Willy Brandt, Franz-Josef Strauß und sogar Helmut Kohl als Charismatiker benannt.

Zyniker wird Leitbild

Inzwischen aber ist das politische System bereits so unglaubwürdig geworden, daß die Politiker sich ständig von sich selbst distanzieren. Sie möchten nicht mit irgendetwas identifiziert werden, was sich bald schon als untauglich erweisen könnte. Es ist aber die Voraussetzung für ein charismatisches Auftreten, daß man den Mut hat, sich mit etwas zu identifizieren, was eventuell auch scheitern könnte. Wer in jedem Fall seine Position sichern will oder notfalls auf einen anderen Posten wechselt, ohne jemals den Absturz zu riskieren, kann immer nur eine „Charaktermaske“ bleiben, wie die linken Terroristen die bürgerlichen Politiker verachtungsvoll nannten. Die eklatante Zunahme von Charaktermasken und die Abnahme von Persönlichkeiten in der Politik sind aber nicht bloß in der Schwäche des Menschen begründet, sondern vor allem in einer Situation der Unklarheit und „Unübersichtlichkeit“ (Habermas). Das Risiko des Absturzes wird immer größer, wenn sich alles nur nach dem kurzfristigen Erfolg bemißt und keinerlei Grundsätze mehr gelten. Auch ohne direkten Bestechungsversuchen ausgesetzt zu sein, werden die Politiker von ihrer eigenen Angst korrumpiert. Worauf kann Angela Merkel sich in Deutschland noch verlassen? Was erhält noch allgemeine Zustimmung und bürgt für Erfolg? Entsprechend wirkt die Kanzlerin wie ein Huhn, das nur mühsam seine Aufregung verbirgt. Wo soll das Charisma in dieser Situation herkommen? Am meisten davon besitzt noch ein Zyniker wie Berlusconi, weil er das Publikum wenigstens durch seine freche Aufrichtigkeit beeindruckt.
Wer dagegenhalten will, müßte schon mit einer weitreichenden Vision und einer gewaltigen Risikobereitschaft ausgestattet sein. Vielleicht ist das innerhalb der Politik gar nicht mehr möglich und erfordert einen neuen Übergang in die religiöse Sphäre. Der Islam jedenfalls hat den Versuch dazu unternommen.

 

 

 

 

 
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