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Geschichtspolitik im Osten

Von Martin Schmidt

Tschechien, Polen und Rußland: Zwischen antideutscher Stimmungsmache und echter Versöhnungsbereitschaft

Geschichtspolitik wird als strategischer Umgang mit der Vergangenheit oder als „Kampf um das richtige Gedächtnis“ definiert. Wer sie östlich vom Bayerischen Wald und von der Oder in bezug auf das Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen studiert, erhält reichlich Anschauungsmaterial zur Dimension dieses schillernden Begriffs. Und er muß Geduld mitbringen, wenn nach Fortschritten bei der Aufarbeitung von im 20. Jahrhundert an Deutschen begangenen Verbrechen gesucht wird und die ansonsten vorherrschende weitgehende Beschränkung der Vergangenheitsbewältigung auf die Untaten des Dritten Reiches nicht befriedigt.

Wie schwierig eine unideologische, an den historischen Tatsachen orientierte Erinnerung an deutsche Opfer auch fast 60 Jahre nach Kriegsende noch immer ist, hat sich zuletzt erneut in Tschechien gezeigt. Dieses europäische Herzland, das über Jahrhunderte hinweg seine wirtschaftliche wie kulturelle Blüte einer Symbiose von tschechischen und deutschen Einflüssen verdankte, tut sich mit dem an den (Sudeten-) Deutschen begangenen Unrecht bekanntlich besonders schwer.

Gedenktafel für das Aussiger Massaker

Am 31. Juli dieses Jahres galt es, an eines der schlimmsten Ereignisse der unmittelbaren Nachkriegszeit zu erinnern: das Massaker von Aussig. Die Opfer waren damals Deutsche und die Täter zumeist Tschechen. Über 2.000 Bewohner der nordböhmischen Stadt wurden ermordet, darunter zahlreiche Kleinkinder, Frauen und Greise. Tschechische Revolutionsgardisten und einige Rotarmisten verprügelten mit weißen Armbinden gekennzeichnete Einheimische mit Brechstangen und Zaunlatten, warfen sie wahllos in die Elbe und ballerten mit Maschinengewehren und Pistolen auf all jene, die sich schwimmend zu retten versuchten. Der Fluß trieb die Leichen bis weit nach Sachsen hinein. Im betreffenden Zeitraum wurden in den dortigen Ufergemeinden etwa 80, nicht näher identifizierte Tote angeschwemmt, die aber wahrscheinlich nur zum Teil in Aussig umgekommen waren. Zu weiteren Gewalttaten kam es außerdem vor dem Bahnhof, auf dem Marktplatz und dem Brückenplatz.
Vorangegangen war eine vermutlich von tschechischen Agenten inszenierte Explosion des Munitionsdepots in Schönpriesen, die deutschen „Werwolf“-Saboteuren angelastet wurde. Offensichtlich sollte ein Vorwand für einen großangelegten „Racheakt“ an Sudetendeutschen geliefert werden, um bei den Teilnehmern der gerade laufenden Potsdamer Konferenz den Anschein zu erwecken, daß ein weiteres Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in diesem Teil Europas nicht gelingen könne. So wollte man suggerieren, daß nur eine Vertreibung der letzteren vergleichbare Exzesse für die Zukunft verhindern könne. Der am 25. August verstorbene Peter Glotz, ein sozialdemokratischer Vordenker böhmischer Herkunft, stellte fest: „Die Massenmorde (…) in Aussig, Brünn, Postelberg, Landskron, Wekelsdorf und anderen Orten waren nicht einfach ‚Übergriffe‘. Sie gehörten zum Plan; da zwar nicht Stalin, wohl aber die Westmächte inzwischen an ihren eigenen Zusagen, die Vertreibung zuzulassen, zweifelten, wollte die erste tschechische Nachkriegsregierung vollendete Tatsachen schaffen.“
Der brutale Plan der nationalistischen Prager Politiker hatte Erfolg: Zwei Tage nach den blutigen Ereignissen, also am 2. August, machten die alliierten Siegermächte im Potsdamer Abkommen den Weg frei für die „Überführung deutscher Bevölkerungsteile“ aus dem Sudetenland, den ostdeutschen Provinzen und aus Ungarn. Aus Aussig verließen gemäß entsprechenden Aufzeichnungen aus dem Stadtarchiv 50.905 Personen ihre Heimat.
Genaue Opferzahlen für den 31. Juli sind angesichts der chaotischen Zustände des Sommers 1945 schwer festzustellen, zumal sich die tschechische Regierung weigert, die in Prager Archiven befindlichen Unterlagen über die Exzesse zur Einsicht freizugeben. Die deutschen Angaben schwanken zwischen 1.000 und 2.700 Toten und beruhen im wesentlichen auf Zeitzeugenberichten.
Auf der politischen Ebene begegnet die tschechische Seite diesem sehr unschönen Kapitel der eigenen Nationalgeschichte mit Desinteresse oder gar Zynismus. Die Brücke, von der so viele Aussiger Deutsche in den Tod gestürzt wurden, erhielt ausgerechnet den Namen des für die gleichnamigen berüchtigten Vertreibungsdekrete verantwortlichen Ex-Präsidenten Benesch. Tschechische Täter vom 31. Juli werden unter Verweis auf das am 8. Mai 1946 beschlossene Straffreiheitsgesetz (Amnestiegesetz) nicht verfolgt. Die Aufstellung einer Benesch-Statue vor dem Prager Außenministerium verdeutlichte noch am 16. Mai 2005 die anhaltend unkritische Bewertung dieses Mannes, ja seine Verehrung als „große Persönlichkeit, vor allem während des Zweiten Weltkrieges“ (Regierungschef Paroubek).
Wenigstens hat sich die Prager Führung am 24. August – nach einem mehr als zweijährigen internen Ringen – endlich zu einer Entschuldigung an all jene Sudetendeutschen bereitgefunden, die sie zu den „aktiven Gegnern des Nationalsozialismus“ zählt und die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ebenfalls unter dem Entrechtungs- und Vertreibungsunrecht leiden mußten. Um ihre Schicksale zu würdigen und sie dokumentarisch aufzuarbeiten, hat die tschechische Regierung ein bis Ende September terminiertes und mit einem Finanz
umfang von einer Million Euro versehenes „Dokumentationsprojekt“ eingeleitet, erteilte jedoch allen Hoffnungen auf eine auch finanzielle Entschädigung der noch lebenden schätzungsweise 200 sudetendeutschen NS-Gegner eine Absage.
Die überfällige Informationskampagne zu dieser einst quantitativ durchaus beachtlichen Gruppe vermag nichts daran zu ändern, daß die Benesch-Dekrete unangetastet bleiben und in der breiten tschechischen Öffentlichkeit in bezug auf das millionenfache Unrecht an anderen unschuldigen Sudetendeutschen das pure Unwissen vorherrscht. Hinzu kommt – und das ist viel schlimmer – eine selbst die Massenvertreibungen einschließende Gleichgültigkeit.
Tschechische Nationalchauvinisten verbreiten die skandalöse These, daß in Aussig lediglich sechs Menschen umgekommen seien, und zwar als Folge einer spontanen Empörung der Bevölkerung aufgrund eines angeblich deutschen Sabotageaktes (eben jener bereits erwähnten Explosion). Diese Version ist schon insofern abwegig, als die angestammte Bevölkerung fast nur aus Deutschen bestand, nämlich rund 60.000, zu denen sich maximal 3.000 Tschechen gesellten. Historiker wie der Aussiger Stadtarchivar Vladimir Kaiser sind mit ihren abweichenden Darstellungen ernster zu nehmen, zumal Kaisers Schriften nicht durch erkennbare antideutsche Vorurteile auffallen. Der Archivar geht für den 31. Juli 1945 von 43–100 Toten aus, beruft sich allerdings ausschließlich auf offizielle lokale Dokumente aus damaliger Zeit.
Eine vom Deutschen Kulturverband, also einer der beiden großen Minderheitenorganisationen der Deutschen in Tschechien, vor zehn Jahren anläßlich des 50. Jahrestages der Aussiger Bluttat geplante Gedenkveranstaltung mußte nach Drohungen der im „Klub des tschechischen Grenzgebietes“ zusammengeschlossenen deutschfeindlichen links
extremen Kommunisten und rechtsextremen Republikanern abgesagt werden.

Gedenkfeier für Opfer des Brünner Todesmarsches

Doch seit einigen Jahren sind Ansätze für ein beginnendes Umdenken in (vor allem jüngeren) Teilen der tschechischen Bevölkerung auszumachen. Nachdem die mährische Hauptstadt Brünn bereits zu einer Gedenkfeier für die Opfer des am 31. Mai 1945 begonnenen „Brünner Todesmarsches“ geladen hatte, erinnerte am 31. Juli diesmal endlich auch die Kommune Aussig an einen der schwärzesten Tage der Ortsgeschichte. An der „Benesch-Brücke“ wurde eine zweisprachige Gedenktafel enthüllt, deren Aufschrift inhaltlich leider allzu dürftig ausfällt: „Zum Gedenken an die Opfer des Massakers am 31. Juli 1945“. Das vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds mitfinanzierte „Collegium Bohemicum“ in Aussig plant sogar den Aufbau eines „Museums der Deutschen in Böhmen“, das einstweilen aber noch unter einem unguten propagandistischen Stern steht, da es als „tschechische Antwort auf das Zentrum gegen Vertreibungen“ in Berlin konzipiert wird.
Studentenorganisationen wie die für eine an den Tatsachen orientierte tschechische Vergangenheitsbewältigung streitende Gruppe „Antikomplex“ oder Historiker wie Emanuel Mandler sind zwar Außenseiter und werden heftig attackiert, aber sie machen dennoch Mut. Mandler sorgte zuletzt für Aufsehen, als er in der „Mlada Fronta Dnes“ sowie in der deutschsprachigen „Prager Zeitung“ verkündete, die Vertreibung der Sudetendeutschen sei nicht die Folge der vorangegangenen Besatzung durch das Dritte Reich gewesen, sondern das Ergebnis einer Politik, die einen ethnisch reinen slawischen Staat zum Ziel hatte. Diese sei das Erbe Beneschs, zu dem sich mit der Denkmalsenthüllung in Prag auch die heutige politische Elite des Landes bekannt habe.
Staatspräsident Václav Klaus tat diese historisch keineswegs abwegigen Behauptungen schlichtweg als „Unverschämtheit“ ab, da „das, was nach dem Krieg geschah, einzig und allein eine Folge, aber nicht eine Ursache gewesen sein“ könne. Er erwies sich damit erneut als Repräsentant der tschechischen Bevölkerungsmehrheit, deren Sympathien er leider auch deshalb genießt, weil er in Sachen Vertreibung der einstigen deutschen Mitbewohner Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens eine Vogel-Strauß-Politik verficht.

Kein Abkommen für Kriegsopfer-Gräber

Diese Politik macht nicht einmal vor den Toten halt, wie die Ablehnung Tschechiens belegt, das unterschriftsreife Abkommen mit Deutschland über die Gräber von Kriegsopfern zu unterzeichnen. Grund ist die Weigerung, die zwischen Mai 1945 und 1949 im Gefolge des Krieges in der Region umgekommenen deutschen Zivilisten, Flucht- und Vertreibungstoten in den Geltungsbereich des Vertrages einzubeziehen. Bei der Aushandlung des Textes hatten die tschechischen Abgesandten diesem Punkt noch zugestimmt.
Auf lange Sicht erscheint die in breiten Bevölkerungsteilen Tschechiens bis heute regelrecht kultivierte Deutschenfeindlichkeit aber ein Auslaufmodell zu sein. Ähnliches gilt für Polen, das in dieser Beziehung bereits größere Fortschritte aufzuweisen hat.

Soldatenfriedhöfe in Oberschlesien

Doch auch zwischen Oder und Bug treffen die Bewußtmachung des reichen deutschen Kulturerbes innerhalb des heutigen polnischen Staates sowie die Erinnerung an das im 20. Jahrhundert auch Deutschen zugefügte Unrecht auf massive Widerstände. Seit einigen Jahren hat sich das öffentliche Klima für diese historische Aufarbeitung sogar wieder verschlechtert. Ein immer stärkerer Nationalradikalismus durchzieht das gesellschaftliche Leben; zu seinen Kennzeichen gehören der strenge Katholizismus und eine ausgeprägte Deutschen- und Judenfeindlichkeit. Seine Sprachrohre findet er in verschiedenen durchaus erfolgreichen Parteien sowie einem nicht unerheblichen Teil der Presse, insbesondere den Boulevardblättern. Die schlimmsten Ausmaße erreicht diese Form von Fundamentalismus immer dann, wenn Wahlen bevorstehen. Selbst angesehene Publikationen wie die Zeitschrift „Wprost“ versuchen in schlechter Regelmäßigkeit, mit deutschfeindlichen Sticheleien Leser zu gewinnen. Man kann Vergleiche mit der Situation in England ziehen, wo ein Teil der Presse ebenfalls gern das antideutsche Feindbild pflegt und damit in breiten Bevölkerungsschichten Stimmung macht, während zumindest in gehobenen akademischen Kreisen bei der Haltung zu Deutschland differenzierter gedacht wird.
Leider zeitigt der neuerliche „Antigermanismus“ in Polen konkrete Folgen auf vielen (geschichts-)politischen Feldern. Internationale Bekanntheit erlangte der einstimmige Beschluß des Sejms von Ende 2004, die Warschauer Regierung aufzufordern, von Deutschland Reparationen zu verlangen. Beispielhaft sei zudem auf die weniger schlagzeilenträchtige, bereits in Taten umgesetzte Forderung der deutsch-polnischen Stiftung „Pamiec“ hingewiesen, alle in den deutschen Siedlungsgebieten Oberschlesiens begrabenen Wehrmachtsangehörigen in zwei Sammelfriedhöfen zusammenzuführen. Die 1994 gegründete, von Berlin aus finanzierte Stiftung zur Pflege der rund eine halbe Million deutschen Soldatengräber in der Republik Polen wendet sich damit gegen das bisher zugestandene Recht der heimatverbliebenen deutschen Bevölkerung, die Gräber in den Dörfern zu behalten, sofern sie dort gepflegt würden. Sie verletzt damit die Gefühle etlicher Oberschlesier, deren vielschichtige Identität sich auch aus der Präsenz dieser Gräber sowie der zahlreichen Kriegerdenkmäler speist, deren deutscher Charakter ebenfalls zum Ziel immer neuer Anfeindungen seitens der Behörden und besagter national-katholischer polnischer Chauvinisten geworden ist.
Darüber hinaus gibt es populärwissenschaftliche Projekte wie die erstmals im September 2004 im Warschauer Königsschloß gezeigte Ausstellung „Größte Härte – Verbrechen der Wehrmacht in Polen. September/Oktober 1939“, deren fachliche Mängel und propagandistischer Ton gleichfalls auf deutschfeindliche Motive hindeuten.

Polnische Versöhnungsbereitschaft

Andererseits lassen sich echte Versöhnungsbemühungen einer wachsenden, speziell jüngeren Bildungsschicht beobachten, die dem westlichen Nachbarn und dessen geschichtlichen Hinterlassenschaften jenseits von Oder und Neiße offen gegenübersteht. Beispiele für ihr Wirken gibt es zuhauf. So konnte am 10. März 2005 in der oberschlesischen Metropole Kattowitz – allen Anfeindungen zum Trotz – das vor dem Zweiten Weltkrieg zerstörte Denkmal des Stadtgründers Richard Holtze dank einer Privatinitiative in Kopie wiedererstehen. Ebenfalls in Oberschlesien wurde am 17. Juni in Eintrachthütte bei Schwien
tochlowitz eine Gedenkstätte am früheren Eingangstor des berüchtigten polnischen Nachkriegslagers „Zgoda“ eingeweiht. Bei den dort seit nunmehr zehn Jahren stattfindenden Trauerfeiern sprach diesmal mit dem Oppelner Konsul übrigens erstmals (!) ein bundesdeutscher Repräsentant.
Von rund 6.000 Inhaftierten waren zwischen Februar und November 1945 auf dem zuvor vom NS-Regime als Lager genutzten Gelände nachweislich über 1.500 Menschen – zumeist deutsche Oberschlesier – umgekommen. Der 1995 ins Ausland geflüchtete einstige Lagerleiter Salomon Morel kann trotz mehrmaliger polnischer Auslieferungsgesuche und empörter Reaktionen der wenigen noch lebenden Opfer seinen Lebensabend unbehelligt in Israel verbringen. Tel Avivs Justizminister Lapid bezeichnete Morels Untaten als verjährt und lehnt eine die Verjährung aufhebende Einstufung der Taten als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ab.
Wie weit dagegen mittlerweile bei einem Teil der polnischen Eliten die Versöhnungsbereitschaft mit den Deutschen geht, wurde kürzlich durch die öffentlich geäußerten Forderungen erkennbar, man solle nicht ausschließlich auf das im Februar gemeinsam mit der alten rot-grünen Regierung Schröder (sowie unter Beteiligung der Slowakei und Ungarns) gestartete „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ als Alternativmodell zum „Zentrum gegen Vertreibungen“ setzen. Statt dessen solle sich die polnische Seite bewußt am letztgenannten Vorhaben des Bundes der Vertriebenen (BdV) am geplanten Standort Berlin beteiligen.
Eines gilt es gerade angesichts des in Berlin wie in Wien bestehenden offiziellen Desinteresses an den jenseits der Grenze beheimateten Landsleuten und ihrer Geschichte hervorzuheben: Im Osten gibt es langsame Fortschritte auf dem schwierigen Weg einer an den historischen Realitäten ausgerichteten, beiden Seiten gerecht werdenden Darstellung und Bewertung des von Totalitarismen verschiedenster Art geprägten 20. Jahrhunderts, das nicht zuletzt ein „Jahrhundert der Vertreibungen“ war. Immer mehr Menschen weigern sich, die Verbrechen des Dritten Reiches als Rechtfertigung für die Massenvertreibungen von Deutschen zu verstehen. Peter Glotz stellt in seinem am 9. September posthum erschienenen Buch „Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers“ fest: „Jedes Volk ist eine vertrackte Mischung aus Tätern, Mittätern, Mitläufern und Opfern. Wir (die BdV-Vorsitzende Erika Steinbach und Glotz selbst; Anm. d. Verf.) haben nie bezweifelt, daß das deutsche Volk im Griff Hitlers viel zu viele Täter, Mittäter und Mitläufer hatte. Das ist aber kein Grund, der deutschen Opfer, die es gab, nicht zu gedenken. (…) Dabei kann ich die Aufregung in der durch grundstürzende Veränderungen hin und her gebeutelten politischen Klasse Polens noch am ehesten verstehen. Unverständlicher ist mir die deutsche Babyboom-Linke, die so tut, als seien die Polen Unmündige, denen man die Wahrheit nicht zumuten und jede Exaltation nachsehen müsse.“

750 Jahre Königsberg

Aber nicht nur hinsichtlich Polens und Tschechiens befleißigt sich die bundesdeutsche Politik einer oft erschreckenden Sprachlosigkeit oder betreibt Schönwetterdiplomatie. Ähnlich verhält sie sich in bezug auf den heute zur Russischen Föderation gehörenden Nordteil der alten deutschen Provinz Ostpreußen. Dies wurde auf peinliche Weise durch die Art unterstrichen, wie sich Kanzler Schröder gemeinsam mit „seinem Freund“ Putin bei den 750-Jahr-Feiern der Hauptstadt Königsberg präsentierte. Das Jubiläum erreichte seinen Höhepunkt vom 1.–3. Juli und stand unter dem historisch widersinnigen Titel „750 Jahre Kaliningrad“. Als der Deutsche Orden die Pregelstadt Mitte des 13. Jahrhunderts unter dem Namen Königsberg gegründet hatte, dachte selbstverständlich noch niemand an Stalins Gefolgsmann Kalinin, der als Namenspatron mehr als indiskutabel ist.
Ein weiteres Anzeichen für die vielfach als anormal zu bewertende Lage dieser russischen Exklave ist die Denkmalkultur Königsbergs. Neben erhaltengebliebenen bzw. erneuerten Denkmälern aus deutscher Zeit, beispielsweise für Immanuel Kant und Friedrich Schiller, gibt es Monumente für Zar Peter d. Gr. und den Dichter Alexander Puschkin, aber auch für besagten Kalinin, den russischen Offizier, der für die Versenkung des deutschen Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ verantwortlich war, sowie für sowjetische Astronauten, die in der Metropole lebten.
Wie krampfhaft die heutigen Lokalpolitiker und Bewohner zum Teil der wenigen russischen Spuren in Ostpreußen gedenken, zeigen zwei im Jubiläumsjahr 2005 neu hinzukommende Denkmäler. Eine bereits eingeweihte Plastik ist dem weißrussischen Renaissance-Schriftsteller, Wissenschaftler und Übersetzer Franzisk Skorina gewidmet, der nur deshalb geehrt wird, weil er um 1530 einige Jahre in Königsberg gelebt hat. Auf dem Papier der Planer steht zudem eine Gedenkstätte für den russischen Oberst Pjotr Bagration (1765–1812), der sich einst bei Preußisch-Eylau (russ.: Bagrationowsk) und Friedland den Invasionstruppen Napoleons entgegenstellte.
Das größte originär russische Prestigeobjekt ist der Neubau einer pompösen „Christi-Erlöser-Kathedrale“ in Königsberg. Begonnen wurde er im Juni 1996 mit der Grundsteinlegung durch Präsident Jelzin bzw. dem ersten Spatenstich am 25. August 1997. Die Einweihung dieser einem Moskauer Vorbild nachempfundenen orthodoxen Kirche erfolgte nun am 3. Juli im Rahmen der 750-Jahr-Feiern. Der gewaltige Bau ist – nach der neben dem Kreml stehenden baugleichen Moskauer Basilius-Kathedrale – der größte seiner Art in der Russischen Föderation.
Alles in allem liegt das Schwergewicht der städtebaulichen Maßnahmen dennoch eher in der Anknüpfung an das alte ostpreußische Erbe. Dabei soll dem Gebiet ein Teil seiner vom homo sovieticus geschändeten Seele zurückgegeben werden. Besonders symbolträchtig ist der 1992 vom damaligen Gouverneur Matotschkin per Ukas angeordnete Wiederaufbau des Königsberger Doms. Dessen Ausführung gibt zwar einigen Anlaß zur Klage. Aber immerhin: Das Gotteshaus steht heute wieder an seinem alten Platz auf der Dominsel. Im Turmbereich wurde im April 1998 zudem ein kleines – allerdings noch recht dürftiges – Kant-Museum eröffnet, das das an die Kirche angebaute Grabmal des berühmtesten Sohnes der Stadt in sinnvoller Weise ergänzt.
Darüber hinaus gibt es seit 1994 Pläne, in unmittelbarer Nachbarschaft des Doms auch die alte Universitätsbibliothek (Collegium Albertinum) auf dem Kneiphof in neuer Gestalt wiederzuerrichten. Rechtzeitig zum Stadtjubiläum wurde das Königstor instandgesetzt; die im Inferno des Frühjahrs 1945 abgeschlagenen Köpfe der dort angebrachten drei preußischen Herrscher verdeutlichen in ihrem strahlenden Weiß die letztlich unumgängliche Präsenz des alten Preußen. Seit Juni gibt es überdies ein von der niedersächsischen Stadt Bodenwerder gestiftetes Denkmal für den „Lügenbaron“ Freiherr von Münchhausen. Und noch im Laufe dieses Jahres soll – dank finanzieller Unterstützung der „Stiftung Königsberg“ und der „Zeit-Stiftung“ – ein Denkmal für Herzog Albrecht von Preußen (1490–1568) entstehen. Da dieser im Jahre 1544 die Königsberger Universität „Albertina“ gründete, wird das Monument seinen Platz wahrscheinlich vor dem Hauptgebäude der heutigen russischen Universität finden. Diese könnte, einer Anregung ihres Rektors Andrej Klemeschew folgend, schon bald den Namen des großen Philosophen Immanuel Kant tragen. Ein Denkmal für den ebenfalls in Königsberg geborenen romantischen Schriftsteller E. T. A. Hoffmann war für das Jubiläum geplant, wurde dann aber doch (noch) nicht fertiggestellt.
Die Königsberger Stadtarchitektin Kondakowa erklärte während des internationalen Architektursymposiums zur Innenstadt-Entwicklung Mitte Juni sogar, daß sie sich einen teilweise Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten preußischen Königsschlosses vorstellen könne.
Was die Perspektiven des nördlichen Ostpreußen angeht, so werden derlei Manifestationen der Bewußtseinsbildung langfristig auch politische Folgen haben. Die schrittweise wirtschaftliche und politische Einbindung der von EU-Mitgliedsstaaten umschlossenen Region in die Europäische Union sowie ihre endgültige Versöhnung mit dem deutschen Erbe sind wohl nur eine Frage der Zeit. Ein solcher Prozeß ist im Interesse der Mehrheit der heutigen Bewohner ebenso wie der litauischen und polnischen Nachbarn, und er wäre selbstverständlich im Interesse aller Deutschen, insbesondere der aus Ostpreußen vertriebenen.
Welchen Gewinn diese und andere erfreuliche Entwicklungen im Osten für die deutsche Kulturnation zu bringen vermögen, hängt nicht zuletzt von der Haltung des bundesdeutschen Staates ab. Dieser zeigt im Innern wie nach außen noch immer ein ausgeprägtes antinationales geschichtliches Desinteresse. Ob das nach einem Machtwechsel in Berlin anders wird und eine neue, möglicherweise unionsgeführte Regierung beispielsweise ihre zugesagte Unterstützung des von Rot-Grün abgelehnten „Zentrums gegen Vertreibungen“ in Berlin wahr macht (und gegebenenfalls in welcher Form), ist nicht sicher. Am Geld dürfte es nicht liegen, wenn man bedenkt, daß in der Bundesrepublik selbst in wirtschaftlich immer schlechteren Zeiten immense Summen für eine fast ausschließlich um die „anderen Opfer“ kreisende Geschichtspolitik zur Verfügung stehen. So soll 2006 in Berlin für 1,4 Millionen Euro erstmals eine große Gedenkstätte für die Zwangsarbeiter des Dritten Reiches entstehen. Für die schätzungsweise 2 Millionen deutschen Zwangsarbeiter, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu Hunderttausenden in der Sowjetunion und anderswo schufteten und nur in seltenen Fällen überlebten, ist etwas Derartiges nicht einmal geplant. Auch Entschädigungen gibt es keine.
Während seit 2003 mit dem Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ viel Geld zugunsten ehemaliger NS-Zwangsarbeiter nach Polen, in die Ukraine oder nach Rußland geflossen ist, erteilte der Bundestag vergleichbaren Forderungen hinsichtlich deutscher Zwangsarbeiter eine klare Absage. Die Begründungen, wie sie zum Beispiel die SPD-Abgeordnete Marga Elser abgab, stellen gerade eingedenk der anderweitigen finanziellen Freizügigkeit dem Selbstverständnis bundesdeutscher Politik ein schmachvolles Zeugnis aus: „Die Schicksale deutscher Zwangsarbeiter sind eine Folge der deutschen Schreckensherrschaft. (…) Die Gesetzgebung über die Abwicklung von Kriegs- und Nachkriegsfolgen sollte abgeschlossen werden. Die Finanzlage des Bundes beweist, daß wichtige Aufgaben der Zukunftsvorsorge sträflich vernachlässigt werden würden, wenn die kommenden Jahre durch neue Zahlungen für die Vergangenheit belastet würden.“
Über einen Schlußstrich der materiellen Vergangenheitsbewältigung kann man ja diskutieren, nur müßte dieser dann eben alle Entschädigungslasten umfassen. Er dürfte aber keineswegs in eine Geschichtslosigkeit einmünden, die die Opfer des letzten Jahrhunderts der Kriege, Vertreibungen und Totalitarismen vergessen ließe und die nationale Entortung beschleunigen würde. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Marschewski von der Arbeitsgruppe Vertriebene und Flüchtlinge forderte deshalb: „Eine Aufarbeitung sind wir den Opfern und uns selbst schuldig.“ Und er ergänzte: „Gerade, weil der Zweite Weltkrieg von Deutschland ausgegangen ist, ist es die Aufgabe Deutschlands, denen eine Anerkennung zu gewähren, die besonders für alle Deutschen gelitten haben.“

 
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