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Das seltsamste Land der Welt

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

In Österreich lernen schon Volksschüler ganz selbstverständlich den Text der Bundeshymne. So ist es wohl in jedem Land der Welt – mit Ausnahme Deutschlands. Während in den USA die Hymne bei jeder Wahlkampfveranstaltung inbrünstig erklingt, hat in der BRD die sächsische CDU mit dem Vorschlag die dritte Strophe des Deutschlandliedes an den Grundschulen zu unterrichten, für Diskussionen gesorgt. An „Einigkeit und Recht und Freiheit“ stoßen sich PDS, Grüne und SPD. Wozu aber hat ein Land eine Hymne, wenn nicht, um damit Gemeinsinn zu fördern? Wozu hält es an einer Hymne fest, wenn diese – wie unlängst geschehen – nicht einmal von einer bezahlten Künstlerin anläßlich einer offiziellen Feier fehlerfrei gesungen werden kann?
Auch ist wohl kein anderes Land auf dieser Erde denkbar, in dem architektonische Häßlichkeit als letztgültiger Auftrag der Geschichte dekreditiert würde. In Frankfurt am Main muß jetzt ein 1972 errichteter Waschbetonklotz unmittelbar neben dem „Römer“, dem historischen Ort der Kaiserkrönungen, aufgrund technischer Gebrechen wieder abgerissen werden. Eine Bürgerinitiative bildetete sich, die für eine zumindest teilweise Rekonstruktion des historischen Gebäudebestandes an dieser zentralen Stelle der Stadt eintrat, doch die Grünen wetterten sogleich gegen architektonischen „Revisionismus“. Ein Mitglied der städtischen Planungsjury erklärte bei einer Podiumsveranstaltung sogar, die unwiederbringliche Zerstörung der Altstadt Frankfurts sei die direkte Folge des deutschen Wahlergebnisses von 1933, während ein Psychoanalytiker hinzufügte, der Wunsch nach historisierender, harmonischer Architektur sei eine infantile „Geschichtslüge“, die von der „eigenen Schuld“ ablenken wolle.
Und während nicht nur in Frankreich der Höhepunkt des Nationalfeiertages eine große Militärparade ist, sondern überall auf der Welt solche Paraden die Sehnsucht des Volkes nach Größe – und nach circensenem – befriedigen, wurde in der BRD sogar der 50. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit an einem von Polizisten hermetisch abgeriegelten Ort gefeiert. „Dann war der Spuk vorbei“, schlossen öffentlich-rechtliche Fernsehsender ihre Berichterstattung über diesen großen Zapfenstreich. Jene Armee, die von der rot-grünen Bundesregierung erstmals wieder zu Kampfeinsätzen jenseits der Grenzen Deutschlands geschickt worden war, darf sich in der Öffentlichkeit schon lange nicht mehr zeigen. Während Bundeswehrsoldaten die Freiheit Deutschlands angeblich im Hindukusch verteidigen, würde die öffentliche Präsenz der gesetzlich stellungspflichtigen Grundwehrdiener in Uniform zu Straßenschlachten mit jenen linken Kräften führen, die den Politikern aller Bundestagsparteien schon lange willkommene Partner im „Kampf gegen rechts“ sind.
Endgültig in die Zone galoppierenden Wahnsinns tritt aber, wer den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit betrachtet. Da werden Politiker wegen eines Wahlslogans wie „Arbeit, Familie, Vaterland“ attackiert, weil findige Historiker behaupten, eine ähnlich klingende Wortkombination wäre irgendwann von irgendeiner NS-Gliederung auch einmal verwendet worden. Da ist jede Parole verboten, die einmal im Dritten Reich als Leitspruch gebraucht wurde, selbst wenn sie heute nur mehr Fachhistorikern bekannt ist. „Unsere Ehre heißt Treue“ gilt schon als freche Wiederbetätigung, obwohl kein menschliches Gemeinwesen ohne die Tugenden von Ehre und Treue Bestand haben kann, auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht. Gleichzeitig aber kann eine rechtsextreme Kameradschaft den Spruch „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“ ohne weitere Probleme verkünden, weil diese Parole ein Phantasieprodukt ist und mit originalen Leitsprüchen von NS-Organisationen nicht verwechselt werden könne. Dafür wurden schon ausgewiesene Antifaschisten verurteilt, weil sie ein durchgestrichenes Hakenkreuz auf ihrem Gewand appliziert hatten. Durchgestrichen oder nicht, die braven Antifas trugen das Kennzeichen einer verbotenen Organisation und machten sich damit strafbar.
Die Beschäftigung mit der NS-Zeit hat damit den Charakter eines Exorzismus‘ erreicht: Wie im magischen Denken die unbedarfte Aussprache des Namens eines Dämons diesem Macht verleiht, so darf heute in der BRD von der NS-Vergangenheit offenbar nur gesprochen werden, wenn gleichzeitig mittels bestimmter sprachlicher Rituale eine Art Bannzauber über die beschworenen Geister der Vergangenheit geworfen wird. Das funktioniert natürlich nicht; gerade weil sich die BRD ausschließlich als Antithese zum NS versteht, hält sie die Geister der Vergangenheit künstlich am Leben. Diese sind aber eben auch „von gestern“ und daher für die Lösung heutiger Fragen unbrauchbar.
Ob die Bundesrepublikaner jemals zu einer geistig-emotionalen Gesundheit zurückfinden werden? Aus heutiger Sicht spricht wenig dafür. Das deutsche Volk scheint sich aus der Weltgeschichte verabschieden zu wollen. Doch die Geschichte kennt viele Beispiele für überraschende Wendungen und Wiedergeburten. Wer mit einfachen Menschen in Deutschland spricht, draußen am flachen Lande oder in den Kneipen der Arbeiterbezirke, erlebt einen Menschenschlag, der so gar nicht zu dem von den Medien vermittelten Bild passen will. Daher gibt es wohl noch Hoffnung, auch für das seltsamste Land auf dieser Erde.

 
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