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Rufe nach Selbstzensur

Von Martin Schmidt

Der Karikaturenstreit und seine Konsequenzen

Der Karikaturenstreit gab reichlich Grund zum Nachdenken – über die Pressefreiheit und ihre Grenzen, über den Stellenwert religiöser Empfindungen oder über die fortbestehenden kulturellen Unterschiede von Kulturkreisen. Vor allem war er jedoch ein Exempel dafür, welchen öffentlichen Druck islamische Staaten, Völker und Bevölkerungsgruppen mittlerweile auf Europa und den sogenannten „Westen“ ausüben können.

Die nicht enden wollenden Proteste gegen die Mohammed-Karrikaturen in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ hatten weltumspannenden Charakter. In Beirut und Damaskus brannten dänischen Botschaften, in Jakarta war ebenfalls die dänische Vertretung das Ziel militanter Moslems, in Damaskus war es die schwedische, und in Teheran sowie in Damaskus kam es zu Attacken gegen norwegische Botschaften (die norwegische Zeitung „Magazinet“ hatte am 10. Januar als erste nicht-dänische Publikation die Zeichnungen nachgedruckt). In Afghanistan starben vier Demonstranten beim Sturm auf ein norwegisches Soldatenlager, während in Damaskus einer der Randalierer beim Sturz aus dem brennenden dänischen Konsulat ums Leben kam.

Chronologie der Proteste

Bewaffnete Mitglieder der palästinensischen Al-Aksa-Brigaden besetzten am 30. Januar ein EU-Büro im Gaza-Streifen und forderten von Dänemark und Norwegen eine Entschuldigung, woraufhin der Chefredakteur von „Jyllands-Posten“ noch am selben Abend sein Bedauern audrückte. Andere Kämpfer der Al-Aksa-Brigaden in den palästinensischen Autonomiegebieten drohten mit Entführungen dänischer, norwegischer, französischer und deutscher Staatsangehöriger, falls sich die Regierungen dieser Länder nicht formell entschuldigten. Im Westjordanland gelangte kurzzeitig ein deutscher Lehrer in die Hand von Entführern, die so ihren Unmut über die „Beleidigung des Propheten“ kundtaten. Die libanesische Hauptstadt Beirut erlebte am 5. Februar den Sturm tausender Moslems auf ein christliches Stadtviertel, bei dem 28 Menschen Verletzungen erlitten.
Auch in Nigeria, dem mit einer Einwohnerzahl von 130 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten Land Afrikas, lieferten sich Muslime und Christen am 25./26. Februar vor dem Hintergrund des Karikaturenstreits blutige Auseinandersetzungen. Dabei kamen im moslemischen Norden etwa 50 Christen um, während im südlichen Bundesstaat Onitsha bei Racheaktionen jugendlicher Christen mindestens 27 Muslime ihr Leben verloren.
Anschläge auf europäische Einrichtungen wurden aus dem Iran und dem Libanon gemeldet; in Teheran flogen Steine gegen das österreichische Botschaftsgebäude, Fensterscheiben zerbrachen, und es entzündeten sich kleinere Brände. Massendemonstrationen gab es unter anderem in Ägypten, Bangladesch, Indien, im Jemen, in Jordanien, Libyen, Malaysia, im Niger, in Pakistan, Palästina, auf den Philippinen, in Saudi-Arabien, Somalia, Sri-Lanka und der Türkei.
Ägypten und Syrien, Pakistan und Indonesien, Bosnien-Herzegowina und der Iran überreichten der dänischen Regierung offizielle Protestnoten; die Islamische Republik Iran drohte gar den Abbruch der Handelsbeziehungen mit Dänemark an. Die Regierung in Kopenhagen sah sich genötigt, Beobachter aus dem palästinensischen Hebron abzuziehen und alle Landsleute zum Verlassen des besonders unruhigen Indonesiens aufzufordern, das immerhin der weltweit größte islamische Staat ist.
Bereits am 14. Oktober vergangenen Jahres mußten zwei der Karikaturenzeichner von „Jyllands-Posten“ nach Morddrohungen untertauchen. Anfang Februar gab es mehrmals Bombenalarm in der Redaktion dieser in Aarhus erscheinenden auflagenstärksten dänischen Tageszeitung sowie weitere Morddrohungen. Dänische Erzeugnisse wurden aus den Supermärkten Saudi-Arabiens und vieler anderer islamischer Staaten entfernt, woraufhin selbst der dänische Industrieverband die bürgerliche „Jyllands-Posten“ zu einer Entschuldigung aufforderte.
Die französische Zeitung „France-Soir“, die die Mohammed-Karikaturen aus Solidarität mit den dänischen Kollegen veröffentlicht hatte, sowie das deutsch-jüdische Portal „Hagalil.com“ waren Ziele von Hackerangriffen. 95 Prozent der Inhalte von „Hagalil.com“ wurden vorübergehend gelöscht; das größte deutsche Internetportal zu jüdischen Themen und zur Nahostpolitik hatte die Karikaturen aus „Jyllands-Posten“ dokumentiert und mit antisemitischen Zeichnungen aus arabischen Medien verglichen. Rund 200 dänische Webseiten sollen allein Anfang Februar von Hackern angegriffen worden sein, aber auch große deutsche Blätter, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Focus“ und „Stern“, waren vorübergehend übers Netz nicht erreichbar. Der Generaldirektor von „France Soir“ büßte auf Weisung des aus Ägypten stammenden Verlegers seinen Posten ein. Seine Beurlaubung erhielt allerdings auch der Kulturchef von „Jyllands-Posten“, der sich zur Verdeutlichung seines Verständnisses von Pressefreiheit bereit erklärt hatte, die von iranischen Zeitungen ins Gespräch gebrachten Holocaust-Karikaturen zu veröffentlichen.
Viele Äußerungen kollektiver islamischer Empörung aus dem arabischen Raum, aus mehrheitlich moslemischen Ländern Afrikas und Asiens oder beispielsweise aus der Russischen Föderation (Tatarstan, Tschetschenien u. a.) blieben unerwähnt bzw. unbeachtet, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Medien den offensichtlichen Charakter eines Kulturkampfes nicht noch stärker verdeutlichen wollten.
Statt dessen betonten linksliberale wie bürgerliche Politiker und Medienvertreter unentwegt, wie sehr manche der Massenproteste staatlicher Lenkung unterlagen. Es stimmt, daß sich die Wucht der Empörung mit massiven Interessen der Herrschenden mischte, etwa im Iran, wo man froh war, vom Atomstreit ablenken zu können, oder in Syrien, wo sich Präsident Assad internationalen Vorwürfen ausgesetzt sah, sein Land würde Aufständische im Irak unterstützen. Auch die Fatah-Führung in Palästina hatte reichlich Anlaß, ihr schlechtes Wahlergebnis in den Hintergrund zu drängen und sich im Karikaturenstreit islamischer als die Hamas zu gebärden.
Beruhigend sind derlei Erklärungen jedoch keineswegs. Schließlich reicht es nicht, die Karikaturen einer im Weltmaßstab unwichtigen dänischen Tageszeitung der eigenen Bevölkerung bekannt zu machen und mittels der Geheimdienste und rühriger Parteigänger den Volkszorn anzuheizen. Ohne das dazugehörige „Volk“, das sich sofort zu Hunderttausenden auf die Straßen begab, Fahnen verbrannte, Steine schmiß, ja sich in Teilen sogar zu Gewaltakten gegen Botschaften bereitfand, wäre all dies zum Scheitern verurteilt gewesen. Doch die Volksmassen, ob im Iran, im Jemen, in Pakistan oder Indonesien, ließen sich bereitwillig gegen „den Westen“ in Stellung bringen bzw. setzten die jeweiligen Regierungen teilweise sogar derart unter Druck, daß diese sich um des eigenen Machterhalts willen zu harten diplomatischen Reaktionen gezwungen sahen. Dies alles und die jüngsten Wahlergebnisse in Ägypten, im Irak oder in Palästina verdeutlicht den steten Machtgewinn
radikal-islamischer Kräfte rund um den Globus.

Kampf der Kulturen?

Aus europäischer Sicht könnte man das noch vergleichsweise gelassen verfolgen, als Vitalitätsbeweis des Islams deuten, die teils berechtigte Kritik an Auswüchsen der westlichen Moderne hervorheben oder sich in Gedankengängen über historische und wirtschaftliche Benachteiligungen bzw. jüngste „imperialistische Provokationen“ der USA vertiefen. Von der wichtigsten Lehre des Karikaturenstreits hat man dann allerdings nichts begriffen. Sprich: von der Bedrohung, die sich daraus ergibt, daß in vielen europäischen Staaten nach Millionen zählende moslemische Gemeinschaften leben, die mangels Integration künftig sehr wohl für vergleichbare Kampagnen mobilisierbar sind.
Auch viele Angehörige der deutschen Machteliten erkennen offenbar das Problem und werden nicht müde, die Distanzierungen hiesiger Islamvertreter von den gewalttätigen Protesten gegen die dänischen Mohammed-Karikaturen hervorzuheben. Immer wieder warnen sie davor, wie es in einer Aktuellen Stunde des Bundestages in Berlin hieß, den „Kampf der Kulturen herbeizureden“, und tun so, als ob dieser Kampf nicht längst schon politische Wirklichkeit sei. Tatsächlich geht es doch nur noch darum, inwieweit sich die neuartige globale Auseinandersetzung begrenzen und vor allem von europäischem Boden fernhalten läßt.

Stehen Ausschreitungen auch in Europa bevor?

Die verantwortlichen Politiker sollten sich bewußt machen, was es bedeutet, daß bereits im November und Dezember 2005 eine Delegation von in Dänemark lebenden Imamen (Vorbetern) durch mehrere islamische Länder gereist war, um Proteste gegen die Mohammed-Karikaturen zu organisieren. Mit Blick auf die zweifellos bevorstehenden, nach ähnlichem Muster gestrickten Konflikte der nächsten Jahre dürfte es angesichts des auch in Europa ständig wachsenden Selbstbewußtseins der Muslime keinesfalls abwegig sein, von bürgerkriegsartigen Tumulten auszugehen. Die große Mehrheit der Franzosen scheint dies erkannt zu haben, wie eine am 30. Januar veröffentlichte Umfrage belegt, wonach 86 Prozent meinen, die jüngste Welle der Gewalt in den überwiegend moslemischen Vorstädten könne jederzeit wieder ausbrechen.
Die Frage, wie derlei Exzesse für die Zukunft zu vermeiden sind, ist wohl die schwierigste, die sich im Zusammenhang mit dem Karikaturenstreit stellt. Allein die denkbare Nicht-Veröffentlichung religiös-verletzender Karikaturen wie jener in „Jyllands-Posten“ birgt keine Lösung. Entschuldigungen im Falle weiterer „Verfehlungen“ sind erst recht nicht geboten, da sie in der islamischen Welt als Unterwerfungsgesten verstanden werden könnten.
Der aktuelle dänische Vorfall war zwar ein besonders „geeigneter“ Aufhänger für eine radikal-islamische Mobilmachung, da er die Gläubigen sozusagen an ihrer empfindlichsten Stelle traf, jedoch lassen sich zahllose andere mögliche Gründe zur Entfesselung des moslemischen Volkszorns finden: etwa ein Verbot von Koranschulen, die Zwangsausweisung oder Inhaftierung einer größeren Zahl islamistischer Haßprediger, Verschärfungen der Ausländerpolitik, die Haltung im Nahost-Konflikt usw. usf. Man denke nur an die Ermordung des niederländischen Filmemachers van Gogh oder die Todesdrohungen gegen den bundesdeutschen Islamkritiker Raddatz. Der Prager Kardinal Miloslav Vlk wies zu Recht auf die hohen Hürden hin, die einer Verständigung zwischen den beiden Kulturkreisen derzeit im Wege stehen: „Die Muslime des Ostens verlangen die Respektierung ihrer Rechte, die sie anderen auf eigenem Raum aber keineswegs gewähren. Sie kennen schlichtweg nicht die Wechselseitigkeit des Rechtes. In der aktuellen Situation, der Blasphemie gegenüber ihrem Glauben und der Reaktion der arabischen Muslime, sehe ich den Konflikt zwischen den zwei Kulturen.“
Jeder vorstellbare neuerliche Empörungsfall ließe sich mit Assoziationsketten verbinden, die uns in Gestalt der Medienpropaganda gegen „rechte“ (vermeintlich rechtsextremistische) Personen und Gruppierungen zur Genüge bekannt sind. Beispiel: Ein maßgeblicher deutscher Politiker würde im Parlament vor dem im Koran angelegten expansiven Charakter islamischer Regimes warnen und die Verhinderung der iranischen Atombombenkapazität durch nachdrücklichen politischen wie wirtschaftlichen Druck fordern. Daran könnten sich Unmutsäußerungen hiesiger Islamvertreter enzünden; es würde Drohbriefe und andere Einschüchterungsversuche geben, aber möglicherweise eben auch Straßenproteste in Teheran, Damaskus oder Gaza. Flaggen würden brennen und Botschaften oder Firmengebäude in Flammen aufgehen. Arabische Medien wie die vielbeachteten TV-Sender „Al Dschasira“ und „Al Arabia“ fänden in dieser Situation noch mehr Zuspruch, wenn sie die Verwicklung Deutschlands in den Karikaturenstreit verdeutlichten, als sich die Berliner (und ebenso die Wiener) Regierung „hinter die dänischen Provokateure stellte“, oder deutsche Anti-Islam-Karikaturen von anno dazumal ausgraben würden.
Eingedenk solcher Szenarien mag man die Verantwortlichen von „Jyllands-Posten“, wegen der Geschmacklosigkeit der am 30. September 2005 abgedruckten zwölf „Gesichter Mohammeds“ kritisieren, doch Tage Clausen, der Pressesprecher des Blattes, wies über diese Debatte hinaus, indem er betonte: „Wir wollten zeigen, wie weit es bei uns bereits mit der Selbstzensur ist.“
Die tiefe Abhängigkeit der abendländischen Länder vom Bewußtseinswandel der islamischen Welt nimmt auch jenseits des Öl- und Atombomben-Problems erschreckende Züge an. Meinungsmacher wie Peter Sturm, Nachrichtenchef der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und zuständig für politische Karikaturen, deuten an, wohin in Mitteleuropa die Reise geht: „Wir haben wiederholt islamische Karikaturen zu Terrorthemen in der „FAZ“ veröffentlicht. Nach diesem Eklat würde ich vermutlich noch genauer hinschauen, wäre im Zweifelsfalle zurückhaltender als ich es vor, sagen wir vier Wochen gewesen wäre. (…) Ja, ich glaube, daß es in zunehmender Weise Selbstzensur gibt, was islamische Themen angeht, eben weil die Reaktionen so heftig ausfallen.“

 
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