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Wie kann Allah das alles zulassen?

Von Stephan Baier

Gläubige Muslime und westliche Heiden können einander nicht verstehen

Die dänische Tageszeitung „Jyllands-Posten“ wollte provozieren und hat tatsächlich über alle Maßen provoziert. Die Karikaturen, die den Propheten Muhammad und Aussagen des Koran ins Lächerliche zogen, führten – mit mehreren Monaten Zeitverzögerung – zu wütenden Protesten in der ganzen islamischen Welt. Eine westlich-säkulare Gesellschaft, die sich leider längst daran gewöhnt hat, die christliche Religion mit Spott und Hohn zu überziehen, muß nun schmerzlich erfahren, daß Muslime in aller Welt anders reagieren als die Christen in Europa.

Auch die „Arab European League“ wollte provozieren und hat tatsächlich über alle Maßen provoziert. Die Karikaturen, die diese im belgischen Antwerpen beheimatete Organisation arabischer Immigranten seit wenigen Wochen auf ihre Internetseite stellt, sind schockierend und entsetzlich. Da sind etwa zwei Männer neben einem Haufen von menschlichen Gebeinen und der Aufschrift „Auschwitz“ zu sehen, wobei der eine sagt, „Irgendwie müssen wir auf 6 Millionen kommen!“, und der andere antwortet: „Ich glaube nicht, daß das Juden sind.“ Eine andere Karikatur zeigt eine Frau mit einem Esel vor dem Traualtar; darüber steht „Nach der Schwulen-Ehe … Europa bleibt progressiv“. Die wohl geschmackloseste aller Abbildungen zeigt Hitler mit Anne Frank im Bett, und ist mit „Hitler goes Dutroux“ überschrieben.
Solche Karikaturen und ihre Veröffentlichung sind zweifellos ein Skandal. Wer aber nun „die“ Muslime dafür verdammt, sehe sich Karikaturen aus europäischen Zeitungen der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Weder Europas christliches Erbe noch die Aufklärung haben den Aufstieg der menschenverachtenden Rassen- und Klassenideologien des 20. Jahrhunderts und ihre Bestialitäten verhindert. Der amtierende EU-Ratspräsident und österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hat die Darstellungen auf der Homepage der „Arab European League“ richtigerweise ebenso verurteilt wie den Aufruf der iranischen Zeitung „Hamshahri“ zu einem Holocaust-Karikaturenwettbewerb. Schüssel hat aber auch den blinden Fleck der europäischen Empörung identifiziert, denn er rief alle Beteiligten auf, „diese Spirale der gegenseitigen Provokationen und Beleidigungen zu beenden“. Weder herabwürdigende Karikaturen über Muhammad noch das Leugnen des Holocaust würden in eine Welt passen, in der das Zusammenleben der Kulturen und Religionen von gegenseitigem Respekt geprägt sein sollte, so Schüssel.
Der gegenseitige Respekt zwischen Kulturen und Religionen setzt aber mindestens dreierlei voraus: ein menschliches und kulturelles Niveau, das im Karikaturenstreit offensichtlich von zwei Seiten brutal unterlaufen wurde; ein Basiswissen über die jeweils andere Kultur beziehungsweise Religion; und schließlich die Bereitschaft, die andere Seite differenziert zu betrachten. Die gewaltsamen Ausschreitungen bei muslimischen Demonstrationen machen es den Islamophoben im Westen leicht, die berechtigte Empörung gläubiger Muslime zu ignorieren und die Anhänger des Islam pauschal als potentielle Terroristen abzustempeln. Unter der Wahrnehmungsschwelle blieb, daß viele islamische Regierungen und religiöse Führer der islamischen Welt sich von den Gewalttaten ausdrücklich distanzierten, oder daß die „Organisation der Islamischen Konferenz“, der 57 muslimische Staaten angehören, sich einer Erklärung von UNO und EU anschloß. Ebenso machten es die unsäglichen Karikaturen, die bewußt „viele Tabus in Europa brechen“ wollten, den Islam-Kritikern leicht, den politisch-ideologischen Hintergrund der „Arab European League“ zu ignorieren.

Eine Stimme des arabischen Nationalismus

Wer wissen will, warum geschmacklose, unsensible Karikaturen in einer dänischen Zeitung plötzlich ein Ventil für unkontrollierbare Emotionen öffnen konnten, muß sich mit der Perspektive der anderen Seite vertraut machen. Ein Blick in die „Vision der Arabisch-Europäischen Liga“ ist da erhellend: Diese versteht sich als „politische und soziale Bewegung für die Rechte der arabischen und muslimischen Gemeinschaften in Europa“. Sie bekennt sich zur „Solidarität mit allem muslimischen Völkern und Gemeinschaften, und mit allen unterdrückten Völkern der Welt“. Als arabische Diaspora fühlt sie sich der „arabischen Nation“ zugehörig und wirbt nicht nur für die arabische Sprache als „lingua franca zwischen unseren Völkern überall in Europa“, sondern auch dafür, die arabischen Völker in einem einzigen „demokratischen Bundesstaat“ zu vereinen. Die ersehnte Einheit der Araber sieht die Organisation als „Prozeß der Entkolonialisierung“, weil die heutigen Grenzen in der arabischen Welt von Kolonialmächten gezogen worden seien.
Die hier angedeutete Dimension der andauernden Demütigung der islamischen Welt wird im Westen fast gänzlich ausgeblendet. Fast ein ganzes Jahrtausend lang sah sich Europa durch den Islam bedroht: Vom Einfall der Araber in Spanien und der Eroberung Toledos 711 – bis zum Ende der zweiten Türkenbelagerung Wiens 1683. Wenn sich Europa über Jahrhunderte als christliches Abendland definierte, wenn Fürsten und Könige in Europa trotz allen Zanks und Streits zueinander fanden, dann vor allem wegen der Bedrohung durch den Islam – zunächst im Westen, dann im Osten. Die Maurenherrschaft auf der iberischen Halbinsel hat das kollektive Bewußtsein der Europäer ebenso geprägt wie die türkische Belagerung Wiens und die osmanische Herrschaft auf dem Balkan.
Doch nach den ersten, expansionistischen Jahrhunderten kam der Vormarsch des Islam zum Stehen. Plötzlich war es das vom vergleichsweise pazifistischen Christentum geprägte Europa, das die Welt eroberte: Spanier und Portugiesen den Süden, Franzosen und Engländer den Norden Amerikas. Portugiesen, Briten und Franzosen gewannen Kolonien in Indien, Indochina und Afrika. Bis ins Herz der islamischen Welt stießen europäische Eroberer vor. Um 1900 (also noch vor dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches) lebten 100 Millionen Muslime unter britischer Herrschaft: in Ägypten, im Sudan, in Kenia, an der Golfküste, in Kuweit, Südarabien und Indien; 30 Millionen unter niederländischer Herrschaft: in Sumatra, Java, Borneo; 15 Millionen unter der Herrschaft des russischen Zaren; 15 Millionen unter französischer Herrschaft: in Afrika und Indochina. Zählt man die Muslime unter österreichischer, deutscher, italienischer, amerikanischer, spanischer und chinesischer Herrschaft dazu, dann lebten 177 Millionen Muslime unter nicht-muslimischer Herrschaft, aber nur 41 Millionen unter islamischen Regimen: nämlich im Osmanischen Reich (20 Mio.), in Persien (10 Mio.), auf der arabischen Halbinsel, in Marokko und Afghanistan.
Es ist schwer bestreitbar, daß es seit der Eroberung Ägyptens durch Napoleon im Jahr 1798 der Westen war, der das Schicksal und auch das Leid der arabischen Welt bestimmt hat. Frankreich eroberte 1830 Algerien, 1881 Tunesien und 1911 Marokko. England eroberte 1882 Ägypten. Als das Osmanische Reich am Ende des Ersten Weltkriegs auseinander brach, teilten nicht die mit den Briten verbündeten arabischen Stämme, sondern die Regierungen in Paris und London den Nahen Osten neu ein: Die
heutigen Staaten Syrien, Irak, Jordanien, Libanon und Israel sind allesamt vom Westen geschaffen worden, ohne daß das viel beschworene „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ dabei die tragende Rolle spielte. Die „Arab European League“ bezeichnet dies als „historische Verbrechen gegen das arabische Volk, begangen vom europäischen Kolonialismus“. Man muß diese Bewertung nicht teilen, aber man sollte sie kennen, wenn man nach den Motiven der Wut auf den Westen fragt.
Die Bewegung sieht sich selbst als „anti-kolonialistisch“ und „anti-zionistisch“. Sie lehnt ab, was sie „das zionistische Projekt in Palästina“ nennt, und bekennt sich zum Ziel eines „vereinten, demokratischen Palästinenserstaates in ganz Palästina“. Damit ist die Zwei-Staaten-Theorie, auf der die israelischen Zugeständnisse an die Palästinenser fußen, klar verneint, auch wenn die Bewegung als ihr Ziel einen Staat beschreibt, „wo Araber und Juden friedlich koexistieren können und gleiche Rechte ohne jede Diskriminierung genießen“. Die oben beschriebenen, geschmacklosen Karikaturen seien, so heißt es auf der Internetseite der Arabisch-Europäischen Liga, nicht anti-semitisch gemeint, sondern als Versuch, „Europa mit seiner eigenen Heuchelei in der Verwendung von Sarkasmus und Karikatur zu konfrontieren“. Es gehe um die „Brandmarkung von mehr als einer Milliarde Muslimen durch die Portraitierung ihres Symbols als Terrorist, als Größenwahnsinnigem, als Frauenfeind und als Psychopath. Das ist rassistisch, fremdenfeindlich und zum Haß gegen Muslime aufhetzend“.

Tragen Christen Mitschuld am Karikaturenstreit?

Vielleicht tragen Christen eine Portion Mitschuld an der Eskalation im Karikaturenstreit, weil sie in falsch verstandener Toleranz zu häufig die Verhöhnung ihres Glaubens schweigend hingenommen haben, statt mutig zu widersprechen und Respekt für das einzufordern, was ihnen heilig ist. Doch nicht nur die Art und Weise der Reaktion unterscheidet Christen, die gegen eine Verhöhnung ihres Glaubens in säkularen Medien protestieren, von den nun aufgebrachten Muslimen, sondern auch die Motivationslage. Hier nämlich fließen religiöse Gefühle, politische Ambitionen und das Gefühl der kulturellen Überfremdung ineinander.
Anders formuliert: Die politische, wirtschaftliche, kulturelle und teilweise sogar militärische Dominanz des Westens – heute weniger der Briten und Franzosen, sondern der Amerikaner – über die islamische Welt und in ihr, wirft für gläubige Muslime eine schwere Theodizee-Frage auf: Wie kann Allah das zulassen? Warum werden die Frommen gedemütigt, während die Ungläubigen triumphieren dürfen?
Auf diese Erfahrung, daß die islamische der westlichen Welt unterlegen sei, gibt es unterschiedliche Reaktionen: Es gibt erstens die Modernisierer, die in der Anpassung an westliche Kultur, Lebensweise und Ideologie den Erfolg suchen. Mustafa Kemal Atatürk etwa suchte in der Europäisierung die Modernisierung der Türkei. Atatürk wollte den modernen türkischen Nationalstaat nach den Idealen der Französischen Revolution gestalten. Deshalb bekämpfte er mit großer Brutalität die osmanisch-islamischen Traditionen, „europäisierte“ Politik und Rechtssystem. Ab 1923 verbot er schrittweise alles, was bis dahin die islamische Identität der türkischen Gesellschaft ausgemacht hatte: Sultanat und Kalifat, das islamische Recht und die islamischen Gerichtshöfe, Brüderorden und theologische Bildungsanstalten, den muslimischen Freitag und den islamischen Kalender, den Fastenmonat Ramadan und das Arabische als Schriftsprache des Koran. Für den Islam hatte Atatürk nur Verachtung: „Der Islam ist höchstens gut für verweichlichte Araber, nicht für Türken, die Krieger und Männer sind!“
Schon deshalb ist das Argument vieler Befürworter eines türkischen EU-Beitritts, die Türkei könne zu einer Brücke zwischen Europa und der arabischen Welt werden, falsch: Die Aufnahme der Türkei wäre aus arabisch-islamischer Perspektive nicht ein Beweis dafür, daß die EU den Islam toleriert, sondern daß sie ein laizistisches Gebilde ist. Dazu kommt, daß die Türkei ja nicht europäischer wurde, indem der Nationalismus den Islam als Staatsidee verdrängte, und auch nicht freier oder toleranter durch den Laizismus.
Es gibt zweitens die, die sich mit dem Westen arrangieren, ohne ihr Land seiner Lebensweise öffnen zu wollen: Saudi-Arabien ist eine strenge wahabitische Königsdiktatur mit dem Islam als Staatsreligion und der Scharia als bürgerlichem Recht, ohne demokratische Elemente und ohne irgendwelche Spurenelemente von Glaubens- und Gewissensfreiheit. Dennoch ist das saudische Herrscherhaus der engste Verbündete der USA in der arabischen Welt. Das allein zeigt bereits die Verlogenheit der amerikanischen Nahost-Politik, denn im Reich der 5000 Prinzen gibt es weniger Demokratie als im Iran und weniger Religionsfreiheit als in Syrien. Es sind Islamisten wie der saudische Bürger Usama bin Ladin, die dem Königshaus nicht nur wegen unislamischer Ausschweifungen Heuchelei vorwerfen, sondern weil die Wächter über die Heiligen Stätten den ungläubigen Amerikanern Militärstützpunkte im Land erlauben.
Die USA sind nicht nur die Schutzmacht des Hauses Saud, sondern auch des ägyptischen Staatspräsidenten Mubarak, in dessen Militäretat sie jährlich mehrere Milliarden Dollar investieren, um den Diktator gegen die höchst aktiven Islamisten abzusichern. Die USA stützten einst den persischen Schah, dessen Herrschaft 1979 von der islamischen Revolution Khomeinis hinweggefegt wurde; und sie unterstützten Saddam Hussein von 1980 bis 1988 im Krieg gegen den Iran. Washington, Moskau und Paris rüsteten damals Saddam Hussein – einen säkularen Diktator, der erst 1991 die islamische Frömmigkeit als Mittel seiner Politik entdeckte – zum Kampf gegen die Mullahs in Teheran: weit über eine Million junger iranischer Revolutionswächter fand in diesem Krieg den Tod. Saddams Ziel der „Zerschlagung des schiitischen Gottesstaates Khomeinis“ entsprach eben „exakt der Orient-Strategie der USA“, wie der Nahost-Experte Peter Scholl-Latour schrieb. Die Nahost-Politik der USA ist Interessenspolitik, manchmal erfolgreich und oft erfolglos; wie z. B. derzeit, wo die US-Invasion im Irak dazu geführt hat, neben dem Iran einen zweiten schiitisch dominierten Staat auf islamisch beeinflußtem Recht zu installieren.

Politik und Religion spielen im Islam zusammen

Drittens gibt es jene, die genau diese Art des westlichen, heute meist amerikanischen Einflusses auf Regierungen, Systeme und Politiken in der arabischen Welt zur fundamentalen Anklage machen. Hier gibt es ein breites Spektrum an Gefühlen in der Bevölkerung. Kein Zweifel, daß die US-Invasion im Irak von riesigen Mehrheiten aller arabischen Staaten als Angriff auf den Islam und auf die Umma verstanden wurde; kein Zweifel, daß die Folterfotos von Abu Graib und die Berichte von Koran-Schändungen in Guantanamo die Emotionen in der ganzen arabischen Welt zum Kochen brachten. George Bush sprach von einem „Kreuzzug“, und genauso wurde es in weiten Teilen des Orient verstanden.
Bernard Lewis, Professor für Nahost-Studien an der Universität Princeton, erklärte den Fundamentalismus so: „Die islamischen Fundamentalisten halten die Rückbesinnung auf die ursprüngliche islamische Lebensweise für unerläßlich, und der Sturz der abtrünnigen Regierungen ist zwangsläufig die erste Voraussetzung der Rückbesinnung. Fundamentalisten sind v.a. deshalb anti-westlich, weil sie den Westen als den Ursprung des Übels betrachten, das die islamische Gesellschaft befallen hat. Ihr unmittelbares Feindbild ist jedoch nicht der Westen, sondern sind ihre eigenen Herrscher und Führer.“
Auch wenn Terroranschläge im Westen (New York, Madrid, London) mehr Aufsehen erregen, findet die Mehrzahl gewalttätiger Aktionen der Islamisten doch in islamischen Ländern statt. Das hat im Islam übrigens seit der Ermordung des Kalif Ali eine breite und tragische Tradition. Hören wir die Begründung dafür aus dem Munde des Mannes, der den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat erschoß und dafür 1982 hingerichtet wurde, Abd al-Salam Faraj: „Die Grundlage der Existenz des Imperialismus in den islamischen Ländern sind ebendiese Herrscher. Den Kampf mit dem Kampf gegen den Imperialismus zu beginnen, bedeutet ein Werk, das weder ruhmreich noch nützlich, sondern eine bloße Zeitverschwendung ist. Es ist unsere Pflicht, uns auf unsere islamische Sache zu konzentrieren. Zuallererst müssen wir das Gesetz Gottes in unserem eigenen Land einführen und dafür Sorge tragen, daß Gottes Wort triumphiert. Ohne Zweifel muß die erste Schlacht des Dschihad die Ausrottung dieser ungläubigen Führer und ihre Ersetzung durch eine vollkommene islamische Ordnung sein“.
Bei aller Neigung zum Streit untereinander findet die arabische Welt dort zu einheitlichen Emotionen, wenn auch nicht zu einheitlicher Politik, wo sie sich von außen attackiert fühlt. Die Palästina-Frage ist das gewichtigste dieser Probleme, das nicht nur Israel, sondern der arabischen Welt schon heute unsagbar viel Leid, Mord und Krieg, Elend und Haß gebracht hat. Der einst blühende Libanon ist daran zerbrochen, in einen mörderischen Bürgerkrieg und anschließende syrische Dominanz geschlittert. Die großen palästinensischen Bevölkerungsteile in Syrien, Jordanien und im Libanon sind bis heute ein innenpolitischer Sprengstoff in diesen Ländern und zugleich eine Bedrohung für Israel.
Die Palästina-Frage gilt vielen Muslimen als Musterbeispiel für die Einseitigkeit des Westens, insbesondere der USA als Schutzmacht Israels. Der ägyptische Religionsminister Mahmoud Zakzouk meinte bei einem Besuch in Wien, man müsse nur den Palästina-Konflikt lösen, das würde „90 % des Terrors ein Ende bereiten“. In einem Interview, das ich 2004 mit ihm führen durfte, sagte er: „Der Islam verurteilt jede Gewalttätigkeit und Aggression und betrachtet den Mord an einem einzigen Menschen als einen Mord an der Menschheit. Man muß aber unterscheiden zwischen Terrorismus und Freiheitskampf, welcher nach internationalem Übereinkommen erlaubt ist.“ Diese Unterscheidung zwischen verurteilenswertem Terrorismus und legitimem Freiheitskampf hörte ich auch aus dem Mund des Bürgermeisters von Bethlehem. Andererseits, so wieder Zakzouk, werde der Terrorismus immer mehr Boden finden, „wenn die Islamophobie wie bisher weiterhin systematisch propagiert wird und die dringend zu lösenden politischen und militärischen Probleme des Mittleren Ostens nicht so schnell wie möglich gelöst werden.“
Das Hauptargument, warum sich einige islamische Staaten und viele muslimische Gruppen in einem Krieg fühlen, lautet: Palästina. Einen Aspekt des Konflikts hat Lewis so charakterisiert: „Genau genommen spielt Israel die Rolle des nützlichen Sündenbocks für die wirtschaftliche Rückständigkeit und die politische Unterdrückung, unter der die meisten arabischen Völker leiden, der Blitzableiter, auf den der aus den Verhältnissen resultierende Unmut umgeleitet wird.“ Es ist sicher wahr, daß die Palästinenser und ihre Lage von arabischen Machthabern auch politisch-ideologisch instrumentalisiert werden. Dennoch gibt es tiefere Gründe: Es geht um Jerusalem, „al-Kuds“ (die Erhabene). Diese Stadt ist nicht nur für Juden und Christen eine unaustauschbare und heilige Stadt, sondern auch für die Muslime.

Der Islam kennt keinen Karfreitag

Zu der politischen und militärischen Präsenz Amerikas im Nahen Osten kommt noch die kulturelle Dominanz des Westens: Via Satelliten-Schüssel empfängt ein syrischer oder ägyptischer Haushalt heute hunderte Sender aus aller Welt. Die meisten, die sich so ihr Bild vom Westen machen, verstehen nur Arabisch, bekommen also die Erklärung dessen, was sie aus der Überfülle westlicher Sendungen an Bildern konsumieren, über al-Djasira und al-Arabjja geliefert. Ist das, was der durchschnittliche Araber da auf italienischen, deutschen, amerikanischen, französischen Sendern sieht, für ihn vorbildhaft, erstrebenswert, nachahmenswert? Der Nahost-Experte der FAZ, Wolfgang Günter Lerch, meint, der Westen glaube „zu Unrecht, daß alle Welt so leben wolle wie seine Völker und Nationen.“
Wenn in arabischen Ländern heute via Satelliten-TV und Massentourismus die Werte und Unwerte der westlichen Zivilisation bestaunt werden können, dann führt dies bei vielen Muslimen nicht zu Ver- oder Bewunderung, sondern zu Verachtung und Abscheu. Für einen gläubigen Muslim dürfte es unmöglich sein, das von unaufhörlichem Ehebruch, wechselnden Partnerschaften, sexueller Freizügigkeit und Auflösung der Familie geprägte Bild des Westens – wie es über das westliche Fernsehen präsentiert wird – für kulturell überlegen, moralisch tragbar oder erstrebenswert zu halten. Die Verhöhnung des Propheten Muhammad in westlichen Zeitungen bestätigt dann nur den Verdacht, daß dem dekadenten Westen nichts mehr heilig ist.
Dazu kommt, daß der Islam – anders als das Christentum – zwar eine faktische, aber keine grundsätzliche Unterscheidung von Religion und Politik kennt. Muhammad war Religionsstifter und politischer Führer zugleich. Der Islam kennt kein „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). Er kennt deshalb auch keine Unterscheidung von „Sacerdotium“ und „Imperium“, von „gladius spiritualis“ und „gladius temporalis“, von geistlicher und weltlicher Gewalt.
Anders als Christen, deren Selbstverständnis auch vom Gründonnerstag und vom Karfreitag geprägt ist, sind fromme Muslime auf die Erniedrigung und Demütigung des ihnen Heiligen durch das Böse dieser Welt schlecht vorbereitet. Der Gedanke, daß in dem Kreuz, das der Heilige trägt, das Heil für die Welt liegt, ist ihnen fremd. Und das Jesus-Wort „Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Joh 15,20) kennt keine Parallele im Koran.

 
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