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Falsch gestellte Weichen nach Europa

Von Klaus Motschmann

Ein neuer Turmbau zu Babel

Auch wenn der Entwurf zu einer Verfassung der Europäischen Union in der vorgelegten Form wohl obsolet geworden ist, war er doch aufschlußreich für das Bild von Europa, das die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union hat. Auf einen Gottesbezug glaubte der Verfassungskonvent verzichten zu können. Zwar wurde sehr diffus und vieldeutig an das kulturelle, religiöse und humanistische „Erbe“ erinnert, auf dessen Fundamenten das „Europäische Haus“ gebaut werden solle. Aber dieser Bezug diente offenkundig nur der Beruhigung der christlich geprägten Bürger und der Kirchen und damit der Verdrängung der eigentlichen ideologischen Intentionen dieses Vorhabens, nämlich des neuerlichen Versuches menschlich-eigenmächtiger Daseinsgestaltung ohne oder gar gegen Gott.

Niemand wird die Bedeutung fester Fundamente für den Bau und den Bestand eines Hauses bestreiten. Allerdings wird auch niemand bestreiten, daß auf einem Fundament auch Um-, An- und Neubauten vorgenommen werden können, die mit der ursprünglichen Funktion des Gebäudes überhaupt nichts mehr zu tun haben. Wieviele Kirchen wurden auf dem Balkan oder in Spanien auf den Fundamenten von Moscheen gebaut? Wieviele kommunistische Parteihäuser in Russland auf den Fundamenten orthodoxer Kirchen und Klöster? Zur Vermeidung von Mißverständnissen sollte deshalb besser von Wurzeln als von Fundamenten gesprochen werden. Über Fundamente kann der Mensch eigenmächtig verfügen; über Wurzeln nicht, jedenfalls nicht über das, was sie hervorbringen. „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm. 11,18)
Vor dem Hintergrund dieser Überlegung stellt sich die Frage, ob sich die Europäische Union als eine große Gemeinschaft aus dem reichen gemeinsamen Erbe des christlich geprägten Abendlandes entwickeln soll – oder ob sie als eine zweckrationale Vereinigung zur Bewältigung der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Herausforderungen nach den Maßstäben der Globalisierungsideologen, also nach bloß menschlicher Einsicht, an den grünen Tischen europäischer Institutionen konstruiert werden soll.
Tatsächlich werden die Auseinandersetzungen um die Europäische Union seit nunmehr über zehn Jahren – also seit den Verträgen von Maastricht – fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten geführt.
In allen Einzelheiten wurden und werden Probleme der Investitionsförderung und der Rentenfinanzierung, der Lebensmittelkontrolle und der Wettbewerbsvorschriften, der Energieversorgung und der Berufsausbildung erörtert – aber kaum die reichen wirtschaftsgeschichtlichen und aktuellen Erfahrungen beim Aufbau neuer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen nach politischen Umbrüchen, wie z. B. nach dem Zweiten Weltkrieg.
Spätestens seit Max Webers (1864–1920) grundlegenden Untersuchungen zur Soziologie der Wirtschaft könnte man wissen, daß die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes in hohem Maße von religiösen Voraussetzungen bestimmt wird. „Der mächtige Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung“, so Max Weber in einem seiner Standardwerke (und einem Standardwerk der Soziologie überhaupt), ist – „geboren aus dem Geist der christlichen Askese“ – nur in Europa und den USA möglich gewesen. „Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage beruht, dieser Stütze nicht mehr … Auf dem Gebiet seiner höchsten Entfesselung, in den Vereinigten Staaten, neigt das seines religiös-ethischen Sinns entkleidete Erwerbsstreben heute dazu, sich mit rein agonalen Leidenschaften zu assoziieren, die ihm nicht selten geradezu den Charakter des Sports aufprägen. Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber ob sich – wenn keines von beiden – mechanisierte Versteinerung mit einer Art von krampfhaften Sich-wichtig-Nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen’ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz; dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentum erstiegen zu haben.“1
Die vermeintliche, vielleicht auch tatsächlich notwendige Neuordnung Europas angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit hat demnach keine menschenwürdige Zukunft, wenn sie allein auf dem bisher eingeschlagenen Weg einer bloß wirtschaftlich-bürokratisch motivierten Integration nach dem Prinzip von „Soll und Haben“ verfolgt wird, ohne nennenswerte Beachtung der in Jahrhunderten gewachsenen und trotz aller Katastrophen Europas bewährten Ordnungs- und Wertvorstellungen.
Es sollte zu denken geben, was der aus sozialdemokratischer Tradition stammende Schriftsteller August Winnig im Jahre 1938 – in Deutschland – zur Zukunft Europas schrieb:
„Was Europa geworden ist, ist es unter dem Kreuz geworden. Das Kreuz steht über Europa als das Zeichen, in dem es allein leben kann. Entweicht Europa dem Kreuz, so hört es auf, Europa zu sein. Wir wissen nicht, was dann aus Europa würde; wahrscheinlich ein Gemenge aus Völkern und Staaten ohne verbindende Idee, ohne gemeinsame Idee, ohne gemeinsame Werte, eine Gesellschaft, aus der jedes Bewußtsein eines gemeinsamen Auftrages und einer höheren Verantwortlichkeit gewichen wäre. Das ist der Abgrund, an dessem Rande Europa dahinschwimmt.
Wie der Mensch selbst zwischen Gut und Böse steht, so auch alles, was von ihm kommt; alles Menschenwerk steht entweder in der Furcht Gottes oder in der Auflehnung gegen Gott. Das gilt auch für die Führung der Völker und Staaten. Im russischen Beispiel sehen wir die vollendete Auflehnung gegen Gott, als Herrscher im Dienste des Bösen; und dieses Beispiel ist vor Europa aufgerichtet, damit wir es sehen und damit wir wissen, was werden kann.“2
Winnig stellt die entscheidende Frage, die heute von den Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft in dieser Eindeutigkeit nicht mehr gestellt wird – und auch von den beiden christlichen Kirchen nur in unzureichender Weise: Vollzieht sich der Aufbau einer neuen Ordnung in Europa in der Furcht vor Gott oder Auflehnung gegen Gott?
Diese Frage drängt sich nach den Erfahrungen der Geschichte Europas, nicht nur in Erinnerung an das „russische Beispiel“, geradezu auf. Weshalb wird sie kaum gestellt, und weshalb wird sie – falls überhaupt – nur ausweichend beantwortet?
Hier läge eine der großen Aufgaben der beiden christlichen Kirchen im Blick auf die Zukunft Europas. Dabei geht es entgegen einem unausrottbaren und vielfach bewußtem Mißverständnis nicht um die Bewahrung kirchlicher Besitzstände, um klerikale Bevormundung der politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen oder um eine Verchristlichung der multikulturellen Gesellschaft Europas durch staatliche Gewalt. Es geht vielmehr darum, den in Jahrhunderten gewachsenen Dualismus von Kirche und Staat, die daraus resultierende fruchtbare Spannung von wissenschaftlicher Rationalität und religiösem Glauben zu erhalten und gegen alle Versuche einer Neuordnung der Gesellschaft nach den Maßstäben eines menschlich eigenmächtigen, ideologischen Monoismus zu verteidigen und damit einen Freiraum für eine menschenwürdige Gesellschaftsordnung zu behaupten.

Ein neuer Turmbau zu Babel

In der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11, 1–9) wird uns das Grundmuster aller Versuche menschlich-eigenmächtiger Daseinsgestaltung dargestellt. Nur einige Sätze zur Erinnerung: Nachdem der Mensch – Adam und Eva – in der Geschichte vom Sündenfall (1. Mose 3) gegen Gottes Gebot und Ordnung verstoßen und mit der Vertreibung aus dem Paradies die Mitte seines Daseins verloren hatte, versucht er, Ersatzmittelpunkte zu schaffen. Diese sollen ihm die Orientierung erleichtern, „um durch eine gemeinsame und begeisternde Anstrengung aller die Konzentration auf einen neuen Mittelpunkt zu bewirken und das Auseinanderstrebende auf diese Weise zusammenzufassen.“3 Deshalb der Plan, einen Turm zu bauen, „der bis an den Himmel reicht“ (1. Mose 11, 4).
Aber dieses Ziel wurde bekanntlich nicht erreicht. Gott zerstörte dieses Vorhaben, und zwar nicht nur an diesem konkreten Ort und zu diesem Zeitpunkt, sondern zur Warnung für alle Zeiten, nämlich durch Verwirrung der bis dahin gemeinsamen Sprache und durch die Zerstreuung der Menschen in viele Länder. Gott vollzog damit das „Gericht über eine verweltlichte, in ihrer zusammengeballten Macht sich selbst vergötternde Menschheit. Diesen Fluch mit menschlicher Klugheit und Kraftanstrengung beseitigen zu wollen, wie der Internationalismus versucht, heißt Gott nicht ernstnehmen. Er allein kann ihn aufheben“.4
Zur Vermeidung der angedeuteten, bewußten Mißverständnisse sei daran erinnert, daß diese Warnung auch von namhaften Philosophen, Historikern, Staatsrechtlern usw. ausgesprochen worden ist und wird. In diesem Zusammenhang soll nur an Immanuel Kant erinnert werden, der in seiner berühmten Schrift „Zum ewigen Frieden“ (geschrieben 1795 unter dem Eindruck der Französischen Revolution) vor einer „Zusammenschmelzung“ von Völkern warnt, „weil die Gesetze mit vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotismus, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt. Indessen ist dieses das Verlangen jedes Staates (oder seines Oberhauptes), auf diese Art sich in den dauernden Friedenszustand zu versetzen, daß er, wo möglich, die ganze Welt beherrscht. Aber die Natur will es anders. Sie bedient sich zweier Mittel, um Völker von Vermischung abzuhalten und sie abzusondern: der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen.“5
Ein deutliches Zeichen der Verheißung, auf das sich heute noch immer christliche Kreise berufen, daß nämlich alle Menschen eins sein mögen“ („ut unum sint“, Joh. 17, 11), hat Gott im Pfingstwunder von Jerusalem gesetzt (Apg. 2, 9–11). Es bestimmt die Positionen der bekenntnistreuen Christen beider Konfessionen zu diesem Thema. Es ist aufschlußreich, daß sie deshalb in zunehmendem Maße als „Fundamentalisten“ verdächtigt werden.

Einheit allein im Bekenntnis zu Christus

Auch hier zur Erinnerung einige Feststellungen: Auf die in Jerusalem versammelten Jünger und Anhänger Jesu kam der Heilige Geist hernieder und erfüllte die Menschen. Jeder von ihnen hörte die Botschaft in seiner eigenen Sprache. Alle vom Menschen verschuldete Trennung von Gott und den Mitmenschen durch Sprache, Religion und Volkszugehörigkeit war dadurch aufgehoben.
Mit diesen wenigen Bemerkungen zum Turmbau zu Babel und zum Pfingstwunder in Jerusalem sind die entscheidenden Aspekte des Problems wenigstens angedeutet, die bei der Auseinandersetzung um die Neuordnung Europas aus christlicher Sicht zu beachten sind, wenn wir am Thema nicht vorbeireden wollen. Um es mit den Worten des bekannten evangelischen Theologen Helmut Thielicke zu sagen:
„Dieser Bericht vom Turmbau zu Babel handelt nicht von unserer frommen Innerlichkeit, sondern bringt ein Programm für das Menschheitsgeschehen im Ganzen: er umgreift globale Räume. Nicht nur der, der seine eigene Seele kennen will, sondern auch der, dem es um die Weltgeschichte geht, muß diese Stimme hören, die durch die Jahrtausende dringt.“6
Wo wird diese Stimme heute noch gehört? Und wo sie noch gehört wird, fordert sie zu ideologischen Widersprüchen heraus, und es wird alles unternommen, um sie zum Schweigen zu bringen.

Menschenrecht bricht Gottesrecht

Tatsächlich markiert diese Stimme einen unmißverständlichen Widerspruch zu allen Plänen, die Probleme dieser Welt durch ständige politische und gesellschaftliche Neuordnungen – anstelle der von Gott gesetzten Ordnungen – zu lösen.
Das muß nicht unbedingt in offener und direkter Auflehnung gegen Gott geschehen, sondern kann durchaus unter Berufung auf Gottes Gebot: Machet euch die Erde untertan! (1. Mose 1, 28) motiviert werden. Auch Adam und Eva haben sich ja nicht direkt gegen Gott gestellt, sondern nur die Frage diskutiert: „Sollte Gott gesagt haben?“ (1. Mose 3, 1)
Ein beliebtes Argument vieler Aufklärungs- und Emanzipationsideologen lautet, daß Gott ein höchst unvollkommener Schöpfer gewesen wäre, wenn er die Welt – seine Schöpfung – durch dauernde Eingriffe regulieren müßte. So wie eine gute Uhr nicht dauernder Regulierungen durch den Uhrmacher bedarf, so auch nicht die Welt dauernder Regulierungen durch Gott. Ein durchaus religiös anmutendes Argument, auf das noch immer sehr viele Christen hereinfallen. Die Geschichte, alle gesellschaftlichen, politischen und vor allem wirtschaftlichen Prozesse laufen demzufolge nach einem von Gott zwar bestimmten, nun aber von den Menschen verantworteten, immanenten Prozeß ab. Er kann von den Menschen erkannt werden wie ein naturwissenschaftliches Gesetz. Diesen Prozeß sollte der Mensch allerdings nicht von außen stören, sondern nach dem sog. Laissez-faire-Prinzip im Sinne einer „Eigengesetzlichkeit“ entfalten lassen. Dann würde sich wie von einer „unsichtbaren Hand“ ein Zustand der „prästabilierten Harmonie“ und damit das „größte Glück der größten Zahl“ einstellen. Daraus folgt, daß dem Staat nur noch wenige Ordnungsfunktionen zum Schutze der Bürger (sog. Nachtwächterstaat) und der Kirche nur noch ein gewisser Einfluß auf die Privatsphäre der Gläubigen gestattet werden sollte. Das bis heute gängige Schlagwort in diese Richtung lautet: „Religion ist Privatsache.“
Deshalb gelte es, politische, gesellschaftliche und vor allem kirchliche Ordnungs- und Wertvorstellungen zu schaffen, die einem rein immanenten Welt- und Geschichtsverständnis entsprechen. Als ein markantes Beispiel für viele andere sei auf die Erklärung der Menschenrechte zu Beginn der Französischen Revolution von August 1789 verwiesen, in der es heißt:
„Der Urquell aller Souveränität ist wesentlich die Nation. Keine Körperschaft und kein einzelner Mensch kann ein Ansehen geltend machen, ohne daß es ausdrücklich von ihr abgeleitet ist.“ (Artikel III)
Damit war jeder religiösen Begründung der staatlichen Ordnung und der allgemeinen Moral eine klare Absage erteilt. Vor diesem Hintergrund wird die aktuelle Frage nach einem möglichen Gottesbezug in der europäischen Verfassung eindeutig verneint.
Die folgerichtigen Konsequenzen dieses Grundsatzes lassen sich am überzeugendsten an der systematischen Verfolgung und Hinrichtung Andersdenkender veranschaulichen. Ihnen fielen ein Großteil des katholischen Klerus und Zehntausende von bekenntnistreuen Katholiken zum Opfer. Daß es sich bei diesem Terror nicht um verständliche Begleiterscheinungen jeder Revolution handelt, gewissermaßen um die „Geburtswehen“ einer neuen, gerechteren Gesellschaft, das beweisen zahlreiche grundsätzliche Entscheidungen der Französischen Revolution, mit denen die Weichen zur Ausbildung eines laizistischen Staates in Frankreich gestellt wurden. Die Konsequenzen sind bis in die Gegenwart zu spüren. Auch dies gehört zu den europäischen Traditionen, auf die sich die Diskussion um die künftige Verfassung berief.
Wenn es unzulässig ist, diese Dokumente der Französischen Revolution allein unter dem Aspekt des Revolutionsterrors zu interpretieren, so sollte es auch unzulässig sein, die schwere Hypothek zu ignorieren, die damit auf die politische Entwicklung nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen Staaten Europas gelegt worden ist. Es besteht inzwischen weitgehend Übereinstimmung, daß die geistige und politische Entwicklung in Europa nach der französischen Revolution nicht nur in Richtung „Demokratie“, sondern auch in Richtung „Sozialismus/Kommunismus“ verlief – und verläuft, wie man unter dem Eindruck der jüngeren politischen Entwicklungen hinzufügen darf.

Kritik der Religion – Voraussetzung aller Kritik

Die Neuordnung Europas unter dem Einfluß des Liberalismus und der revolutionären Ideen der Französischen Revolution haben zwar zu einem gründlichen Zusammenbruch der mittelalterlich geprägten politischen und gesellschaftlichen Systeme in weiten Teilen Europas geführt – aber nicht zu den Verheißungen der Verwirklichung von „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“. Aus der Fülle von Zeugnissen der Ernüchterung, der Enttäuschung und der Kritik an dieser Entwicklung sei aus dem Kommunistischen Manifest (1848) zitiert, weil der Sozialismus die geschichtsmächtigste Reaktion auf dieses Versagen des Liberalismus war und noch immer ist:
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation (Ausbeutung, K. M.) des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. (—)
An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. (—)
Mit einem Wort, die Bourgeoisie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“7
Läßt sich das eigentliche wirtschaftliche Ziel, vor allem aber die ideologisch-weltanschauliche Absicht der Zentralisierung Europas prägnanter beschreiben als im Kommunistischen Manifest? Eine treffliche Diagnose ist nicht deshalb falsch, weil aus ihr bislang falsche Therapien abgeleitet worden sind. Von einer besonderen wirtschaftlichen Herausforderung unserer Zeit, wie sie immer behauptet wird, kann keine Rede sein. Diese bestand auch schon – mutatis mutandis – vor 150 Jahren!
Es ist bereits angedeutet worden, daß Marx und Engels und ihre Anhänger bis zum heutigen Tage diesen „revolutionären Prozeß“ der dauernden Umwälzung der wirtschaftlichen und der damit verbundenen sozialen Verhältnisse im Sinne ihres dialektisch-gesetzlichen Verständnisses vom Verlauf der Geschichte positiv beurteilt haben. Sie empfinden die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung in Europa deshalb als eine überzeugende Bestätigung der marxistischen Ideologie.
Der Laissez-faire-Liberalismus wurde von Marx und Engels als der notwendige Schrittmacher ihrer eigenen Revolution verstanden. Die neue sozialistische Ordnung sollte nun nicht ohne Gott, sondern in programmatischer, offener, kompromißloser Feindschaft gegen Gott errichtet werden. Ein Kernsatz des Marxismus lautet: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“8 Diese Kritik „endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.9 Dieser Satz ist von den Sozialisten immer wieder verschieden interpretiert, aber bis heute nicht grundsätzlich widerrufen worden. Man darf ihn deshalb nach wie vor als eine Leitlinie sozialistischer Politik verstehen – gerade auch mit Blick auf dem Wege zu einem vereinten Europa.
Die (vermeintliche) Lösung der großen Probleme der Welt kann nur durch den revolutionären Kampf aller „Verdammten dieser Erde“ gefunden werden, wie es in der von den Sozialisten aller Schattierungen verehrten und noch immer gesungenen Internationale heißt:
Es rettet uns kein höheres Wesen, /
Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun.
Uns aus dem Elend zu erlösen, /
Das können wir nur selber tun.
Aber auch die Verheißung dieser innerweltlichen Heilslehre hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Sie hat über hundert Millionen Menschen das Leben gekostet und sehr viel mehr Menschen in ein sehr viel schlimmeres Elend gestoßen, statt sie daraus zu erlösen. Eine Lösung konnte und kann es nach christlichem Verständnis auch gar nicht geben, weil die Lösung nicht aus einer Veränderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen kommt, sondern aus einer Veränderung der Menschen durch die christliche Botschaft. Liberalismus und Kommunismus bewegen sich letztlich auf der gleichen (schiefen) Ebene. Es sind die sprichwörtlichen zwei Seiten derselben Medaille, womit die qualitativen und quantitativen Unterschiede selbstverständlich nicht verdrängt und die unvergleichlichen Chancen individueller Lebensgestaltung und politischer Freiheit nicht übersehen werden. Die gravierenden Unterschiede zwischen Liberalismus und Sozialismus in ihren originären Ausprägungen sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide Ideologien in einem immanenten Weltverständnis verhaftet sind. Sie lehnen deshalb jeden maßgebenden Einfluß der Religionen auf Gesellschaft, Politik und vor allem auf die Wirtschaft ab. Daran hat sich trotz aller Erfahrungen der Geschichte bis heute nichts geändert. Die Auseinandersetzungen um den „Gottesbezug“ in der künftigen europäischen Verfassung liefern für diese Feststellung einen aktuellen Beleg. Damit mißachten sie aber nicht nur die Erfahrungen der Geschichte, sondern auch einen entscheidenden Faktor politischen Handelns überhaupt.
Aus naheliegenden ideologischen Gründen ist es deshalb auch weithin unbekannt, was einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft und der D-Mark, nämlich der aus liberaler Tradition stammende Nationalökonom Professors Alfred Müller-Armack, als Voraussetzung für die Neuordnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zu bedenken gab. Er hat seine Überlegungen in einem umfangreichen Buch mit dem Titel „Das Jahrhundert ohne Gott“ entwickelt. Darin heißt es an entscheidender Stelle:
„Es wäre ein Angriff auf die tiefsten Grundlagen unserer Lebensüberzeugung, wenn man den Versuch machte, diese Spannung aufzulösen zugunsten einer irdische Kulturwerte ignorierenden, rein religiösen Haltung, oder, was im neunzehnten Jahrhundert zur Diskussion gestellt wurde, zugunsten einer nur weltlichen Kulturform.

Auf die Entwicklung unserer weltlichen Kultur hin gesehen, glauben wir, darauf schließen zu können, daß diese nie allein aus sich verstanden werden kann, sondern stets nur im Widerhall zur Transzendenz, gegen die sie sich abgrenzt. Jeder Verstoß gegen diesen Grundsatz ist dazu verurteilt, über kurz oder lang als Irrtum eingesehen und revidiert werden zu müssen.“10
Es bleibt zu hoffen, daß diese Mahnung Müller-Armacks und anderer maßgebender Politiker in der Zukunft wieder beachtet wird.

Anmerkungen

1 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. 1905. In: Max Weber: Soziologie / Weltgeschichtliche Analysen / Politik. Hrgb. von J. Winckelmann. 1956. Seite 379 f.
2 August Winnig: Europa. 1938. Schlußabsatz.
3 Helmut Thielicke: Wie die Welt begann: Der Mensch in der Urgeschichte der Bibel. 1960. Seite 297.
4 Jubiläumsbibel mit erklärenden Anmerkungen. Stuttgart 1912. Neuauflage 1964. Seite 17.
5 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. 1795. Diverse Ausgaben. Leipzig 1954. Seite 72.
6 Vgl. Anm. 3, ebenda. Seite 303.
7 Manifest der Kommunistischen Partei. 1848. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Berlin 1959. Band 4, Seite 465 f.
8 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. 1844. MEW Band 1, Seite 378.
9 Ebenda, Seite 385.
10 Alfred Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit. 1948. Seite 32.

 
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