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Ein fast vergessener Heldenkampf

Von Philipp Meran

Vor 50 Jahren fand in Ungarn ein epochales Ereignis statt, das als Meilenstein des 20. Jahrhunderts, ja sogar der Weltgeschichte, betrachtet werden darf. Im Oktober 1956 lehnte sich ein kleines, völlig unterjochtes Land, mitten im Sowjetblock, gegen seine Unterdrücker auf, attackierte frontal mit unzulänglichen Waffen die Supermacht Sowjetunion und ließ den Weltkommunismus erstmals erzittern. Ungarn erstrebte nichts weiter als seine Freiheit und Souveränität und jenen Wohlstand an, der ihm als westlich orientiertes, mitteleuropäisches Land zustand. Ungarn wollte nichts als Neutralität und Freundschaft mit allen Völkern, es wollte Demokratie und freie Wahlen, wie es ihm die Siegermächte seinerzeit versprochen hatten.

Die Russen zögerten und wankten und hätten wahrscheinlich nachgegeben, wenn Amerika nicht seine Nichteinmischung garantiert hätte. Damit verhinderte die Administration Eisenhower die Freiheit, Neutralität und Demokratie Ungarns und ist zum Großteil für die Intervention der 13 Sowjet-Panzerdivisionen verantwortlich. Das Land, das frei sein wollte, wurde so in die Hölle des kommunistischen Sowjetimperialismus zurückgestoßen. Denn durch den Sieg dieser Revolution von Jugendlichen, Kindern und Arbeitern war in Ungarn der Kommunismus innerhalb von acht Tagen hinweggefegt worden. Ein Status ähnlich jenem von Finnland war durchaus möglich geworden. Vier ganze Tage war das Land frei, demokratisch und pluralistisch, dann kam das ewige Argument der Sowjetdiktatur, tausende Panzer und eine unvorstellbar grausame Vergeltung. Hätten die Amerikaner ähnlich mit Krieg gedroht, wie es Bulganin den Briten gegenüber tat, wäre eine bewaffnete Intervention nie erfolgt. Denn die Russen haben nicht einmal unter Stalin den Einmarsch in Tito-Jugoslawien gewagt, viel weniger hätten sie es getan, wenn die USA ihnen damals entschieden entgegengetreten wären.
Die damaligen westlichen Medien hatten ihre besten Reporter in Ungarn. Sie wußten genau über die Situation Bescheid. Die Revolution war nicht nur erfolgreich, sie war auch blütenweiß trotz aller seither kolportierten Lügen von einer reaktionären Konterrevolution. Wie denn auch? Studenten, Schüler, Mädchen, Kinder gingen Hand in Hand mit den (kommunistisch) organisierten Fabriksarbeitern eine Supermacht frontal an und besiegten sie vorerst. Die sich auf fremde Bajonette und Panzer stützende sogenannte Arbeiterpartei fiel, als die Russen sie nicht mehr stützen konnten, wie ein Kartenhaus zusammen. Was bei dieser spontanen Revolution bemerkenswert war und sowohl den Westen als auch die Sowjets überraschte, war der Haß der Arbeiter und der Jugend gegen den vom Osten mit Waffen importierten Kommunismus. Die in Ungarn tätigen Reporter der westlichen Medien bescheinigten dieser Revolution eine sonst bei vergleichbaren Ereignissen nie dagewesene Reinheit. Es wurde nicht geplündert, es gab keine heimtückischen Attentate, Entführungen, Erpressungen, keinen Kampf, in dem Zivilisten gefährdet waren, sondern nur heroischen Widerstand gegen die stärkste Landmacht der Welt. Nach einhelligen Berichten wurden über 200 Sowjetpanzer, meist durch Petroleumflaschen, aber auch durch erbeutete oder von Russen übergebene Waffen, auch Stalinorgeln, vernichtet. Zahlreiche, sich ergebende Russen nahmen am Freiheitskampf teil, sie wurden geschont, und nur im Kampf fielen etwa 800 Sowjetsoldaten. Die Verluste der Ungarn betrugen etwa 3.000 Gefallene und 20.000 Verwundete. Laut Bahnpersonal wurden überdies etwa 35.000 Ungarn in die Sowjetunion deportiert und etwa 600 nach Niederschlagung des Aufstandes von der ungarischen Regierung hingerichtet. Unbekannt ist die Zahl der von Sowjets exekutierten Freiheitskämpfer bzw. übergelaufenen Russen, sie soll in die Tausende gehen.
Der Erfolg der idealistischen Freiheitskämpfer ist umso erstaunlicher, als die Zahl der Geheimpolizisten, Grenz-Ávo und Polizisten in Ungarn auf 150.000 gesetzt werden kann. Die ÁVO, später ÁVH, war unter allen Geheimpolizeien des Sowjetblocks die grausamste. Julia Rajk, Frau des gehängten kommunistischen Innenministers László Rajk, sagte, daß noch vor der Revolution die politischen Häftlinge unter Horthy wesentlich besser behandelt wurden als die Häftlinge der ÁVO, die ohne Ausnahme gefoltert wurden. Nach Angaben des Historikers Emil Csonka sind von der ungarischen Geheimpolizei zwischen 1945 und 1956 15.000 politische Häftlinge ermordet worden.
Was waren nun im wesentlichen die auslösenden Gründe für diesen riskanten und sachlich betrachtet aussichtslosen Freiheitskampf?
Nach dem Krieg, früher als in anderen Staaten wie z. B. Österreich, war der wirtschaftliche Aufschwung Ungarns bemerkenswert. Dieser dauerte aber nur von 1946 bis 1948. Nach der „getürkten“ Wahl, an der zwei Millionen Staatsbürger und sogenannte Klassenfeinde nicht teilnehmen durften, und die mit den berüchtigten blauen Zetteln erschwindelt war, wurde der Aufschwung willkürlich gestoppt. Es folgte die Zwangskollektivierung der erst drei Jahre zuvor bei der Bodenreform zu Besitz gekommenen Neubauern. Die Mittelbauern und die wenigen Großbauern (Kulaken) mußten 70 % ihrer Erträge abliefern. Die wirtschaftliche Ausbeutung durch die Sowjetunion war so unbeschreiblich, daß das Land – dem der Marschallplan verwehrt wurde – in kürzester Zeit in tiefer Armut versank. Als Beispiele können folgende Taten der Ausbeuter angeführt werden: Ein Fahrrad der Marke Csepel kostete neu 500,– Forint. Die Sowjetunion zahlte für eine angeforderte, riesige Lieferung 60,– Forint pro Rad. Für einen Luxuspelz, der in Ungarn kaum zu haben war, aber 5.000,– Forint kostete, zahlte die Sowjetunion 800,– bis 1.000,– Forint. Eine Werkzeugmaschine, deren Herstellungskosten 30.000,– Forint betrugen, wurde von der Sowjetunion mit 4.000,– Forint „gekauft“. Das Uran aus Süd-Transdanubien hätte Ungarn nach dem Stand der Dinge in kürzester Zeit zu einem reichen Land machen können. Die Sowjets aber legten ihre Hand – als Kriegsbeute – darauf. Baumwolle, in England um die Hälfte billiger, mußte von der Sowjetunion gekauft werden. Wenn Ungarn Blei kaufen wollte, mußte es dieses in der UdSSR um 70 % über dem Weltmarktpreis einkaufen. Grundsätzlich zahlte Ungarn in Dollar, während die Sowjetunion in Forint zahlte.
Weiters war ein auslösender Faktor die Rede Chruschtschows vor dem 20. Parteitag. Die Liquidierung Berias, Abakumows und Bjelkins schwächte die Macht der ÁVO, der österreichische Staatsvertrag gab Hoffnung. Die Angst begann zu schwinden. Im Jahr 1955–1956 sind 200.000 Kolchosbauern aus den Genossenschaften ausgetreten und, was noch mehr wiegt, zehntausende Arbeiter gaben ihr Parteibuch zurück. Ungarn, die stolze Nation, vertrug es auch nicht, daß seine besten Dichter und Autoren gezwungen wurden, für den Massenmörder Rákosi zu dessen 60. Geburtstag 1952 unfaßbar servile Lobeshymnen zu schreiben. Wer sich weigerte, fiel in Ungnade, was gleichbedeutend war mit Berufsverbot oder Verhaftung, oft mit beidem. Die Deportationen aller bürgerlichen Elemente zu den Bauern in den Osten Ungarns 1951–1953 bewirkten das Gegenteil des Erwünschten. Es kam zur Verbrüderung und Hochachtung vor der Haltung der ausgeplünderten und geknechteten „Herren“. Die Nomenklatura gleichzeitig bereicherte sich und lebte in unvorstellbarem Luxus.
Nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes kam es zu einer kollektiven Vergeltung, die auf Wunsch der Russen von den ungarischen Kommunisten unter Kádár durchgeführt wurde. Eine Lügenkampagne und Desinformation nie erlebten Ausmaßes nahm ihren Anfang. Die Zeitungen des Westens, deren Reporter nicht selbst in Ungarn waren, nahmen die Parole auf, daß es sich beim Freiheitskampf um eine vom Westen geschürte, reaktionäre Konterrevolution gehandelt habe. Sogar David Irving, der auch die abgesetzten Kommunistenführer interviewte, verbreitete solche Lügen. Z. B.: Kardinal Mindszenty sei nie gefoltert worden, wäre ein Feigling und außerdem homosexuell. Seine Quellen für diese Behauptungen waren u. a. Rákosis Ministerpräsident András Hegedüs, Rákosis Innenminister László Piros etc.
Der Vergeltung fielen zahlreiche der jungen Freiheitskämpfer zum Opfer. Unbeschreiblich makaber und verbrecherisch war, daß man einen Teil der zur Zeit der Revolution noch jugendlichen Helden so lange unter grauenhaften Bedingungen leben ließ, bis sie das gesetzliche Alter für die Todesstrafe erreichten und sie dann hängte. Unauslöschlich sind die Namen von Tóth Ilonka, Mansfeld Peter und Pongrácz Gergely. Einer der Führer der Aufständischen war von Anfang an Dipl.-Ing. József Dudás, der u. a. bei der Corwin-Passage Widerstand leistete. Der junge Parteisoldat Pál Maléter, der bei der Armee eine steile Karriere gemacht hatte, wurde im Kampf um die ehemalige Maria Theresia-Kaserne (1956 nach einem Kommunisten Kilián-Kaserne genannt) zum militärischen Führer der Freiheitskämpfer und zuletzt von Imre Nagy zum Verteidigungsminister ernannt.
Imre Nagy war kein Revolutionär, aber – obgleich seine bolschewistische Vergangenheit Tatsache ist – Ministerpräsident Ungarns, der sich nach langem, zähen Ringen auf die Seite des Volkes stellte. Er führte als Regierungschef die Parteien-Demokratie ein, verkündete den Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität nach österreichischem Muster. Er hat nie Selbstkritik geübt und ist nach heldenhafter Haltung in einem Prozeß 1958 mit Maléter, Szilágyi Losonczy und Gimes am Galgen gestorben. Man möge einen Vergleich ziehen zum weit mehr bekannten „Prager Frühling 1968“. Nagy fand angesichts der Stimmung im Land sehend zum Patriotismus zurück. Er wollte keinen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Er wollte wie das Volk das Ende des Kommunismus, er wollte die Demokratie.

Einige Zitate zeitgenössischer Autoren

Alexander Solschenyzin schrieb: „Der heroische Aufstand des Volkes hatte zwei Ziele. Erstens das Land von der Kolonisation durch die Sowjets zu befreien, zweitens die blutige kommunistische Diktatur im Lande zu beenden. Das war die Idee und der heiß ersehnte Wunsch. Alles andere ist Lüge. Mindszenty ist ein Heiliger. Wir bewundern und lieben ihn. Er hat auch dem russischen Volk geholfen.“
Wladimir Maximow sagte: „1956 war ein absolutes Weltereignis. Alles an Widerstand fand erst nach der Revolution 1956 auch in anderen Ländern statt.“
Albert Camus sagte: „Der ungarische Freiheitskampf und seine niederträchtige Niederschlagung hat vielen linken Intellektuellen im Westen die Augen geöffnet. Wo er das nicht tat, dort öffnet den Betreffenden niemand und nichts die Augen.“
Andre D. Siniawski schrieb: „Die ungarische Revolution war ein Ereignis einmaliger Art und von Weltformat. Sie zeigte, daß der sowjetische Ostblock allein durch Militärmacht und Polizeiwillkür aufrecht erhalten werden kann. Dieser Freiheitskampf hat die Völker erstmals im Ostblock zu nationalem Selbstbewußtsein erweckt. Im Baltikum, in Armenien, in Georgien und anderswo. Er ist ein einsamer Meilenstein in der Weltgeschichte.“
Und zuletzt Andrey Amalrik: „Die Ungarn haben der kommunistischen Führung eine Lehre erteilt: Man kann mit der Waffe in der Hand bestehen. Diese Lehre haben die Nomenklaturisten nie vergessen. Ungarn hat sich nach der Vergeltung somit ein besseres Leben erkämpft als andere Satellitenstaaten. 1956 hat einen unauslöschlichen Eindruck bei mir und meinen Altersgenossen hinterlassen. Wir können uns mit Recht als die Generation von 1956 bezeichnen. Alles, was wir bis jetzt taten und was wir in der Zukunft tun werden, wurde auf der Grundlage des heroischen Jahres 1956 errichtet.“

Zuletzt einige persönliche Betrachtungen

Ich war von Oktober 1956 bis Januar 1957 Ungarnreferent des Steirischen Landeshauptmannes. Ich habe zahlreiche Interviews gedolmetscht und Gesprächen beigewohnt. Die Begeisterung, der Idealismus und die selbstlose Haltung der damaligen Jugendlichen war mehr als beeindruckend, sie leuchtete aus ihren Augen. Die jungen Leute wußten, daß sie auf Dauer gesiegt hatten. Ein ständig wiederkehrender Satz war: „So wie es war, wird es nie mehr werden.“ In Graz sah man überall Fahrräder von Ungarn, die am Namensschild zu erkennen waren. Viele kamen, sahen sich um und kehrten zurück, bevor die Grenze abgeriegelt wurde. Bei mir wohnten verschiedene Studenten. Ich sprach ganze Nächte lang mit ihnen. Nicht der Reichtum, nicht der Glanz des Westens war ihnen wichtig, sondern allein die Freiheit ihres Landes. Über den Kommunismus sprachen sie wie über einen vergangenen üblen Traum. Viele von ihnen konnten den Westen nicht verstehen, der Ungarn auch nach dieser Heldenwoche kaltblütig den rachsüchtigen Kommunisten überließ.
Diese Enttäuschung über den Westen ist bis heute nicht gewichen und nährt unter anderem auch die EU-Skepsis, die in Ungarn sehr groß ist. Bis zuletzt glaubten sie, daß ihnen der Westen helfen würde. Erst als sich zeigte, daß diese Hoffnung vergebens war, emigrierten an die 200.000 Ungarn – und nicht die Schlechtesten – nach Österreich. Die Hilfe der Österreicher war grandios. Nur ein Jahr nach Abzug der Russen ebneten sie den Flüchtlingen den Weg, versorgten sie, wie noch nie Emigranten versorgt wurden. Ein Student hatte vier Pelzmäntel bekommen und schenkte mir einen, da er sah, daß ich keinen besaß. Eine neue und tiefe Freundschaft zwischen den Völkern Ungarns und Österreichs nahm ihren Anfang. Sie, die Ungarn, haben bis heute die brüderliche Hilfe Österreichs nicht vergessen. Auch wir sollten den Freiheitskampf unserer tapferen Nachbarn nie vergessen. Sie blieben das einzige Volk, das offen gegen den moskovitischen Kommunismus mit der Waffe kämpfte. Und ihre Tapferkeit bleibt einmalig in der Geschichte.

 
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