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Die Diktatur des Kapitals

Von Dr. Wolfgang Jedlicka

Unsere Gesellschaft ist brüchig geworden, traditionelle Werte sind im Treibsand der verwüsteten abendländischen Seelenlandschaft versickert. Neuen Entwicklungen ist die moderne Wohlstandsgeneration scheinbar hilflos ausgeliefert. Ist sie das wirklich? Wie sind die dunklen Wolken am weltweiten Himmel unseres kosmopolitischen, durchtechnokratisierten Lebens zu deuten? Können wir sie wie das Wetter selbst nicht beeinflussen, oder ist die Zukunft zumindest in groben Zügen prognostizierbar? Diese verlockende Vision ist dann realisierbar, wenn Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens festgemacht werden können. An derartigen Versuchen hat es in der Vergangenheit nicht gemangelt, die tauglichsten im Grenzbereich zwischen Philosophie, Verhaltensforschung und Ökonomie.

Bei Karl Marx lernen

Die wohl nachhaltigste gesellschaftspolitische Lehre der Neuzeit ist der Marxismus, er hat die Welt verändert. Sich an ihm zu orientieren, ist, bei Gott, keine schlechte Adresse. Zu Unrecht ist er durch den späteren Überbau, durch Leninismus und Stalinismus in Mißkredit geraten, er wurde politisch mißbraucht. Widersprüche in seinem Denkgebäude zu leugnen, wäre töricht, ihn deshalb erst gar nicht zu studieren, zumindest ebenso. Der Hegelschen Dialektik von These – Antithese – Synthese ist Marx treu geblieben, doch seiner erwartungsfroh prognostizierten Synthese zur klassenlosen Gesellschaft als ewiger Friedensmacht widerspricht schon der von ihm selbst geortete, permanente Klassenkampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Genau damit wird der Phantast zum Realisten, darin liegt die Sprengkraft seiner Lehre, wonach sich die Umwandlung der Gesellschaft notwendigerweise nicht durch Evolution, sondern nur durch Revolution in einem quasi naturwissenschaftlich-mathematischen Ablauf vollziehen könne.
Die materialistische Geschichtsauffassung des Philosophen Karl Marx, wonach das historische Geschehen in Gestalt eines notwendigen, durch ökonomische Faktoren determinierten Prozesses ablaufe, fußt auf der – im übrigen viel zu wenig beachteten – Erkenntnis des Ökonomen Karl Marx, daß die Selbstentfremdung des Menschen mit der Erfindung der Arbeitsteilung begonnen habe. Mit fortschreitendem, arbeitsteiligem Prozeß habe er zwar einerseits im Überlebenskampf die Natur schrittweise zu beherrschen gelernt, die damit gewonnene Freiheit aber wieder durch die Unfreiheit im Mechanismus der sich rasant entwickelnden Produktions- und Tauschverhältnisse verloren, die schließlich vollständig an der Stelle zwischenmenschlicher Bestimmungen getreten seien. Der Mensch sei letztlich nur mehr Repräsentant der alles beherrschenden Produktionsverhältnisse, also selbst zur Ware geworden.
Wer heute, eineinhalb Jahrhunderte später, die Bestätigung dieser Analyse in unseren Produktionsverhältnissen nicht sehen will, ist entweder unehrlich oder begriffsstutzig. Schon Karl Marx selbst hat ein Beispiel seiner Gedankenfolge gegeben, das durch seine Einfachheit zur Überzeugung besticht: Wer sieht schon im kapitalistischen Produktionsprozeß, also nach Einführung der Arbeitsteilung, im Gegensatz zu früher einen Schuh noch als schlichten Bekleidungsgegenstand an? Dem Schuhfabrikanten sei die eigentliche Bestimmung des Schuhs völlig gleichgültig, wenn er ihm nur als Ware die eine Funktion erfülle, nämlich Geld zu bringen. Im Geld wieder habe die Entfremdung des Menschen ihren extremen Ausdruck gefunden. Das Geld sei die völlig qualitätslose und gegen jede mögliche Verwendung gleichgültige Verfügungsallmacht über alles und jeden.
Wer die Weisheit dieser Erkenntnis noch immer nicht zu verstehen imstande ist, dem ist nicht mehr zuhelfen, – uns ist nicht mehr zu helfen, unser Schicksal scheint besiegelt. Wenn man mit Konrad Lorenz die Geldgier des modernen Menschen als psychopathische Verirrung, also letztlich als Geisteskrankheit, diagnostiziert, müssen die therapeutischen Maßnahmen als besonders schwierig bis aussichtslos eingestuft werden. Selbst die Pharmakonzerne sind ausschließlich gewinnorientiert eingestellt, auch Krankheit und Therapie zur Ware verkommen.

Ausbeutung und  Kapital-Akkumulation

Wer immer noch nicht überzeugt ist, dem sei verraten, daß uns Karl Marx noch ein weiteres fatales Vermächtnis hinterlassen und damit gute Überzeugungsarbeit geleistet hat. Das bekannteste Detail seiner Lehre, die sogenannte Mehrwerttheorie, hat zwar schon seinerzeit zu kurz gegriffen, in ihrem Kern ist sie aber auch heute noch gültig. Ist nach Marx die kapitalistische Produktionsweise auf die Aneignung unbezahlter Arbeit fixiert, sind manuelle Tätigkeiten auch heute im Verhältnis zum Profit immer noch zumindest schlecht bezahlt, der das eingesetzte Kapital schamlos vermehrt. Direkt, im Verhältnis 1:1 zum Hochkapitalismus des 19. Jahrhunderts stellen sich die beharrlich totgeschwiegenen Verhältnisse im asiatischen Raum, vor allem im Fernen Osten, dar. Kinderarbeit und ein langer Arbeitstag bei Hungerlöhnen stehen auf der Tagesordnung, und das nicht zufällig. Nur scheinbar paradoxerweise schafft der dort beginnende Alphabetisierungsprozeß den Nährboden für einen skrupellosen Ausbeutungsfeldzug, denn die Arbeiter müssen lesen und schreiben können, um die Maschinen bedienen zu können. Rechnen steht noch nicht am Lehrplan, das soll Aufgabe der internationalen Konzerne bleiben; so wie auch in Afrika. Dort realisiert sich erst die Vorstufe des Alphabetisierungsprozesses. Noch einfacher ist es nämlich, sich die Rohstoffe direkt über lokale Marionetten vor allem der amerikanischen Politik zu nehmen, also fremdes Eigentum der bodenständigen Bevölkerung zu rauben, um die Industriestaaten rascher zu bereichern.
Doch was macht die Industriegesellschaft mit dem leicht erworbenen Reichtum? Er wird versilbert, das Geld ist der Maßstab aller Dinge geworden. Es zu nehmen und zu horten, faszinierte nicht nur Dagobert Duck. Die wohl unerträglichsten menschlichen Eigenschaften, Habgier und Egoismus, verhindern mittlerweile sogar, den Überfluß redlich zu teilen. Auf den Börsen der Industriestaaten wird aus Geld noch mehr Geld gemacht, ein amoralischer Vorgang, vom Christentum angeprangert, aber auch von der katholischen Kirche selbst praktiziert, der die von Marx analysierte Beliebigkeit dieses über ein bloßes Zahlungsmittel hinausgewucherten, als anbetungswürdig in quasireligiöse Dimensionen hinaufgewachsenen Fetisches in unserer Zeit unterstreicht. Dieses durchaus als arbeitslos, weil spekulativ auf den Börsen dieser Welt akkumulierte Kapital führt heute mehr denn je zu jenem Konzentrationsprozeß, der – wieder nach Marx – tendenziell zur Vermehrung des konstanten und Verminderung des variablen Kapitals, gemeiniglich als Lohn bezeichnet, führt und damit jene teuflische Spirale erzeugt, in der das konstante Kapital in innovative Produktionsmittel investiert wird, was die menschliche Arbeitskraft fatalerweise immer mehr entbehrlich macht. Die Manager der westlichen Industriekonzerne sichern lediglich den Aktionären fette Dividenden, keineswegs aber Arbeitskräfte. Die Grundlagen der marxistischen Lehre sind durch die heutigen Industriegesellschaften weiterhin sichergestellt. Besteht der Funken einer Hoffnung, Marx links oder rechts zu überholen, an eine bessere Gesellschaft für die Zukunft zu glauben?

Zwei-Klassen-Gesellschaft

Dazu Befund zu erheben, heißt, zunächst festzustellen, daß in unserer Weltengegend, der sogenannten Leitkultur, der Alphabetisierungsprozeß zwar weitgehend abgeschlossen, ein allgemein höheres Bildungsniveau aber keineswegs erreicht ist. Die Akkumulierung von Wissen, von Universitäten vermittelt, die zu einer bloßen Informationsindustrie verkommen sind, verschafft eben noch lange keine Bildung, kein demütiges Verstehen der Universalität unserer Existenz, mehr Einsicht und Verständnis füreinander, kurzum keine Kultur. Ganz im Gegenteil, mehr Intelligenz ermöglicht es erst dem Menschen, seine leider dominanten, negativen Charaktereigenschaften gezielter und subtiler, also versteckter zum eigenen – vermeintlichen – vor allem finanziellen Vorteil einzusetzen. Mit den Mitteln der liberalen Demokratie fürchte ich, sind diese Phänomene nachhaltig nicht zu bekämpfen, im Gegenteil, sie diktieren vielmehr die gegenteilige Praxis in diesem Konstrukt vermeintlicher Freiheit. Wenn man heute immer öfter in den politischen Publikationen von der Zweiklassengesellschaft der nahen Zukunft spricht, in der sich elitäres Denken und Populismus gegenüberstehen, realisiert sich in diesem Aspekt letztendlich die Marxsche Verelendungstheorie. Freilich ist der Begriff der Arbeit heute anders zu definieren als zu seiner Zeit, die neue sogenannte Wissensgesellschaft wird aber nicht des Rätsels Lösung sein. Neben denen, die angeblich wissen, wie es geht, braucht es auch derjenigen, die es machen müssen, oder anders gesagt, ganz abgesehen von der hausgemachten, desaströsen Bildungspolitik wird das aktuelle Totschweigen der auseinandertriftenden Bandbreite des tatsächlichen Intelligenzkoeffizienten unseres Wahlvolkes nicht mehr lange haltbar sein, um das System zu retten. Auf der Strecke bleiben wieder einmal die Minderbedarften als legitime Nachfolger des Marxschen Proletariates, wenn die Nachfolger der Bourgeoisie, die Aufsteiger, die neuen Reichen, wieder einmal „ihre Totengräber“ produzieren, das „qualitativ revolutionäre Proletariat“ am anderen Ende des Spektrums, das die Berufung in sich wachsen fühlt, die „Expropriation der Expropriateure“ voranzutreiben. Die moderaten Spielregeln der modernen Demokratie werden sie daran bei so viel Sprengkraft nicht hindern können.
In den westlichen Demokratien gilt zwar das allgemeine Wahlrecht, aber die rechten und linken Eliten blockieren entscheidende Neuordnungen. Nach den in zunehmendem Maße erschütterlich primitiv geführten Schlammschlachten der Wahlkämpfe um die – gelinde gesagt – unentschlossene breite Mitte bleibt nach der Wahl im wesentlichen wieder alles beim alten. Bei diesem Blockademechanismus, bei dem die oberen und unteren (geschätzten) 20 % ideologisch de facto die 60 % in der Mitte kontrollieren, verliert das Ergebnis der Wahl immer mehr an Bedeutung. Wen kann es da wundern, daß die Zahl der zwischen Frust und Ignoranz angesiedelten Nichtwähler ständig steigt, ein wesentlicher Indikator dafür, daß die Tage der westlichen Demokratie tatsächlich gezählt sein könnten. Der Weg führt in die Oligarchie.

Der Henker steht vor der Tür

Die vorliegende Analyse kann selbstverständlich in dieser gedrängten Form keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie versteht sich als grundsätzlicher Aspekt philosophisch-ökonomischer Generalisierung. Dem dialektischen Materialismus Marxscher Prägung habe ich den unerträglichen Egoismus des Raubtieres Mensch, den der große Mann aus welchen Gründen auch immer übergangen hat, als weiteres Axiom hinzugesellt, was sein Gedankengebäude nicht kritisiert, sondern es vielmehr zusätzlich bestätigt. Es erinnert mich zwanglos an den geradezu apokalyptischen Zuruf an die Bourgoisie seiner Zeit: „Macht nur so weiter, der Henker steht schon vor der Tür“, wenn ein namhafter Vertreter einer NGO-Organisation bei einer hochkarätigen Podiumsdiskussion heutiger Tage auf die Frage nach seiner Bewertung der Globalisierung dem Auditorium geantwortet hat: „Ich finde es positiv, daß die Armen jetzt wissen, wo die Reichen wohnen.“

 
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