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Antonio Gramsci zur Schulpolitik

Von Mag. Johann Lehrer

Latein und Griechisch an Gymnasien – Berufsschule und Gesamtschule

Mit der Vorlage dieses bildungsphilosophischen bzw. -politischen Gramsci-Textes1 sei das Thema Schul- und Bildungspolitik auf der Grundlage einer spezifischen Fokussierung zur Diskussion gestellt. Dieser Beitrag ist nicht als eine differenzierte Auseinandersetzung mit Gramscis Philosophie der kulturellen Hegemonie zu sehen, wie wohl sich dies lohnen würde – so argumentiert er völlig antimaterialistisch, wenn er feststellt, dass eigentlich das Bewusstsein das gesellschaftliche Sein präge und nicht das materielle Sein das Bewusstsein2 –; vielmehr mögen die in ihrer Analyse durchaus bestechenden und nachhaltigen Gedanken des wohl bedeutendsten italienischen marxistischen Philosophen und Literaturwissenschafters den Leser von der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit linken Philosophen überzeugen.

Gramscis Bedeutung für den Kulturkampf der 68er-Bewegung ist nicht hoch genug anzusetzen. Eine wesentliche Maxime lautete konsequenterweise (und deren Realisierung war Voraussetzung für den Marsch durch die Institutionen): „Eine der hervorstechendsten Charakterzüge jeder Gruppe, die sich in Richtung auf die Herrschaft zu entwickelt, ist ihr Kampf für eine Assimilierung und ‚ideologische‘ Eroberung der traditionellen Intellektuellen.“3 Politische Macht sei demnach nur zu gewinnen und zu befestigen, wenn man zuvor die kulturelle Hegemonie erobert habe. Man müsse also die geistigen Strukturen einer Gesellschaft und ihre kulturellen Einrichtungen in Besitz nehmen, dann gewinne man die Macht im Staat.4 Gramsci im Original: „Man muß vielmehr vom Kampf um eine neue Kultur sprechen, das heißt um eine neue Lebensmoral.“5 Die Folgen der Kulturrevolution sind hinlänglich bekannt.6 Eine kompakte Abhandlung über Gramscis Kampf um die kulturelle Hegemonie und damit Einführung in seinen Revisionismus finden sich bei Wolfgang Caspart: Der Marxismus. Von der Weltrevolution zur Politischen Korrektheit7, sowie bei Walter Marinovic: Linke Kulturpolitik in Österreich8.
Anmerkungen zur Auswahl9 und Bearbeitung des Textes: In die Diskussion eingebracht werden Gramscis „Bemerkungen zur Schule“, welche Klaus Bochmann im Kapitel Elemente einer Sprachpolitik veröffentlichte.10 Weglassungen wurden dort vorgenommen, wo dies inhaltlich nicht nur vertretbar, sondern notwendig war, um keinen nichtintendierten sprachwissenschaftlichen Diskurs zu führen. Darüber hinaus erschöpft sich die Bearbeitung in der Interpolation von Überschriften, die dem Rezipienten die Orientierung erleichtern sollen. Ziel war hierbei, die Intention und Sprachästhetik Gramscis uneingeschränkt zu erhalten. Aus diesem Grund wurde von einer Aktualisierung der Orthographie und Kommentierung bzw. Hervorhebung besonders wichtig erscheinender Textpassagen Abstand genommen.
Ohne Interpretation und Diskussion determinieren zu wollen, sei der Hinweis auf folgende mögliche Rezeptionsperspektive gestattet: Zwei Diskussionsebenen wählt Gramsci bei der Bearbeitung des Themas. Zum einen führt er einen pädagogisch-methodischen Diskurs unter Einbeziehung der historisch-gesellschaftlichen Parameter, wenn es um die Einschätzung der Aufgabe und Bedeutung des Gymnasiums bzw. die Vermittlung des Griechischen und Lateinischen geht. Zum anderen ist der Fokus seiner Überlegungen zum Thema Berufsschule und „einheitliche[r] Schultyp (mit Grund- und Mittelstufe), der den Jugendlichen bis an die Schwelle der Berufswahl heranführt”, so bezeichnet Gramsci die heute diskutierte Gesamtschule11, kein pädagogisch-methodischer, sondern ausschließlich – wie dies der anschließende Text zeigen wird – ein gesellschaftspolitischer. Prämisse seiner Überlegungen ist die These von der „sozialen Prägung“ der Schule.12 Inwieweit diese Argumentationslinie zu Beginn des 21. Jahrhunderts – nach 35 Jahren „68er-Bildungs-und-Schulpolitik“ – Aktualität besitzt, möge der Rezipient selbst entscheiden. Der aufmerksame Leser möge daher besonders die Schnittstelle Analyse (soziale Prägung) und Konklusionen (Gesamtschule) – in praxi die Argumentation der Gesamtschule – beachten. Gramsci mag zwar die ideologischen Minen schon in der Zwischenkriegszeit gelegt haben, zur politischen Sprengkraft gelangen sie jedoch erst durch die Frankfurter Schule sowie den Marsch ihrer Adepten durch die Institutionen.13 Die pädagogischen Verwerfungen sind heute allenthalben sichtbar.
Des marxistischen Philosophen Positionen zum Studium des Griechischen und Lateinischen sowie zur Elitenbildung – bezogen auf die hier vorgelegten Texte – zeigen einmal mehr, daß Weiningers erkenntnisphilosophischer Satz: „Weltanschauung – das nämlich, was diesen Namen verdient – ist nichts, das einzelner Erkenntnis je könnte hinderlich werden; im Gegenteil wird alle besondere Einsicht von tieferer Wahrheit durch sie erst hervorgetrieben […]“14, uneingeschränkt, das heißt, über die politischen und weltanschaulich-ideologischen Grenzen hinweg, Gültigkeit besitzt. Die bei Weininger angelegte Frage nach der wissenschaftlichen – in unserem Fall, pädagogischen – Produktivität von Weltanschauung muss mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden.

Gymnasium, Latein und Elitenbildung

„(…) In der alten Schule war das Studium des Lateinischen und Griechischen zusammen mit der entsprechenden Literatur und politischen Geschichte ein Erziehungsprinzip, zumal das in Athen und Rom verkörperte humanistische Ideal ein wesentliches Element des Lebens und der Nationalkultur war. Selbst das mechanische Einprägen der Grammatik wurde durch die kulturelle Perspektive belebt. Die einzelnen Begriffe wurden nicht für einen unmittelbaren praktisch-beruflichen Zweck gelernt; es erschien als ein uneigennütziges Lernen, weil das Ziel die innere Entwicklung der Persönlichkeit, die Bildung des Charakters über die Aufnahme und Verarbeitung des ganzen kulturellen“ Erbes der modernen europäischen Zivilisation war. Latein und Griechisch wurden nicht gelehrt, um in diesen Sprachen sprechen zu können, oder um Kellner, Dolmetscher, Handelskorrespondenten auszubilden. Man lernte diese Sprachen, um die Kultur der beiden Völker direkt kennenzulernen, als notwendige Voraussetzung für die moderne Kultur, das heißt, damit man bewußt man selbst sein und sich selbst erkennen konnte. Man lernte Latein und Griechisch mechanisch, nach der Grammatik; aber es ist viel Unrecht und Unzutreffendes in dem Vorwurf des Mechanischen und Trockenen. Man hat es mit Kindern zu tun, denen man bestimmte Gewohnheiten in bezug auf Fleiß, Genauigkeit, Umsicht, psychische Konzentration auf bestimmte Gegenstände beibringen muß, die sich ohne mechanische Wiederholung disziplinierter, systematischer Handlungen nicht erwerben lassen. Wäre ein Wissenschaftler mit vierzig Jahren in der Lage, sechzehn Stunden hintereinander am Arbeitstisch zu sitzen, wenn er nicht schon als Kind die nötigen psychophysischen Gewohnheiten dafür durch mechanischen Zwang angenommen hätte? Wenn große Gelehrte durch Selektion herausgebildet werden sollen, muß man bei diesem Punkt beginnen und im gesamten Bereich der Schule Druck ausüben, um jene Tausende oder Hunderte oder vielleicht auch nur Dutzende von Gelehrten großen Stils hervorzubringen, die jede Zivilisation braucht (auf diesem Gebiet ist mit den entsprechenden wissenschaftlichen Mitteln viel zu verbessern, ohne zu den scholastischen Methoden der Jesuiten zurückzukehren).
Man lernt Latein (oder besser, studiert es), analysiert es bis in seine kleinsten Elemente, zwar wie etwas Totes, aber jede von einem Kind durchgeführte Analyse kann nur anhand toter Dinge erfolgen. Man sollte übrigens nicht vergessen, daß, sofern das Studium in dieser Form erfolgt, das Leben der Römer ein Mythos ist, der das Kind schon vorher in bestimmtem Maße interessiert hat und noch interessiert, weil im Toten immer etwas Größeres, Lebendiges ist. Und nun ist die Sprache etwas Totes, sie wird wie ein lebloses Etwas, wie ein Leichnam auf dem Seziertisch zerlegt, lebt aber ständig in den Beispielen und Erzählungen wieder auf. Könnte man so ein Studium anhand des Italienischen betreiben? Unmöglich! Keine lebende Sprache kann wie das Latein studiert werden; es schiene und wäre absurd. Keines der Kinder kann Lateinisch, wenn es das Studium mit jener analytischen Methode beginnt. […] Das Lateinische stellt sich (wie das Griechische) der Phantasie als ein Mythos dar, auch für den Lehrer. Latein wird nicht gelernt, damit man Latein kann. Gemäß einer langen Schul- und Bildungstradition, deren Ursachen und Entwicklung dahingestellt seien, wird Latein seit jeher als Bestandteil eines Schulideals und -programmes studiert, das einer ganzen Skala pädagogischer und psychologischer Ansprüche Rechnung trägt. Man studiert es, um die Kinder an eine bestimmte Art und Weise des Lernens zu gewönnen, ein historisches Korpus zu analysieren, das wie ein Leichnam behandelt werden kann, der stets zu neuem Leben erwacht; um sie ans Nachdenken zu gewöhnen, abstrahieren zu lehren und dabei gleichzeitig in die Lage zu versetzen, aus der Abstraktion ins wirkliche, unmittelbare Leben zurückzukehren; damit sie in jeder Tatsache oder jedem Tatbestand erkennen, was an Allgemeinem und an Besonderem, an Begrifflichem und Individuellem darin enthalten ist. Und welche erzieherische Bedeutung hat erst der ständige Vergleich zwischen dem Lateinischen und der Sprache, die man spricht! Die Unterscheidung und Identifizierung von Wort und Begriff, die ganze formale Logik mit den Gegensatzpaaren und der Analyse der Unterscheidungsmerkmale; die geschichtliche Entwicklung des sprachlichen Gesamtensembles, das der Veränderung in der Zeit unterworfen, ein Werden und nicht Statik ist. In den acht Jahren Gymnasium wird die ganze historisch-reale Sprache gelernt, nachdem man sie wie eine aus dem Zusammenhang gelöste Augenblicksaufnahme in der Form der Grammatik gesehen hat. […] Ein geschichtlicher Vorgang wird von seinen Ursprüngen bis zu seinem Absterben zeitlich verfolgt; es ist nur ein scheinbares Absterben, weil man weiß, daß das Italienische, mit dem das Latein ständig verglichen wird, modernes Latein ist. […] Es werden die Literaturgeschichte, die Geschichte der in jener Sprache geschriebenen Bücher, die politische Geschichte, die Taten jener Männer studiert, die diese Sprache sprachen. Die Erziehung des Jugendlichen wird von diesem ganzen organischen Komplex bestimmt; davon, daß er auch materiell diesen ganzen Entwicklungsweg mit seinen Etappen nachvollzogen hat. Er hat sich in die Geschichte vertieft, ein historisches Gefühl für die Welt und für das Leben bekommen, das ihm zur zweiten Natur wird und fast spontan wirkt, weil es nicht aus einem äußerlichen erzieherischen Willensakt heraus stumpfsinnig eingeimpft wurde. Dieses Studium trug zur Erziehung bei, ohne daß diese Zielstellung ausdrücklich deklariert wurde, wobei die erzieherische Intervention des Lehrenden auf ein Minimum beschränkt war: Er erzog, weil er bildete. Logische, künstlerische, psychologische Erfahrungen wurden gesammelt, ohne darüber zu sprechen, ohne sich ständig einen Spiegel vorzuhalten, und es war vor allem eine große >synthetische<, philosophische Erfahrung, die einer historisch konkreten Entwicklung, die man dabei machte. Das soll nicht heißen (es wäre unangebracht, so zu denken), daß Latein und Griechisch an sich innewohnende Wunderkräfte auf dem Gebiet der Erziehung besäßen. Es ist die gesamte kulturelle Tradition, die auch und vor allem außerhalb der Schule existiert, die in einem gegebenen Milieu solche Ergebnisse hervorbringt. Man sieht im übrigen, daß mit der Veränderung der traditionellen Kulturauffassung die Schule in die Krise geraten ist, und mit ihr das Studium des Lateinischen und Griechischen.

„Degeneration der Schule“ – Berufsschule

Als Stützpfeiler der allgemeinbildenden Schule muß man Latein und Griechisch ersetzen, und man wird sie ersetzen, doch es wird nicht leicht sein, den neuen Stoff bzw. die neuen Stoffkomplexe didaktisch so anzuordnen, daß sie vom frühen Kindesalter bis an die Schwelle der Berufswahl entsprechende Ergebnisse für Erziehung und allgemeine Bildung der Persönlichkeit erbringen. In dieser Entwicklungsperiode muß das Lernen oder der größte Teil des Lernens zweckfrei sein (bzw. bei den Lernenden diesen Eindruck machen), darf also keine direkten oder allzu vordergründigen praktischen Zwecke haben. Es muß bildend sein, auch wenn es instruktiv, das heißt reich an konkreten Fakten ist. Gegenwärtig erleben wir auf Grund der tiefen Krise der kulturellen Traditionen und der Auffassung vom Menschen und vom Leben einen Prozeß fort-schreitender Degeneration der Schule: Der Typ der Berufsschule, die unmittelbare praktische Interessen befriedigen soll, gewinnt gegenüber der allgemeinbildenden, unmittelbaren Zwecken nicht unterworfenen Schule die Oberhand. Besonders paradox ist, daß dieser neue Typ der Schule als demokratisch erscheint und gepriesen wird, während er in Wirklichkeit dazu bestimmt ist, die sozialen Unterschiede nicht nur fortzusetzen, sondern in chinesischen Formen zu erhärten.

Oligarchie und Bildungssystem – Gesamtschule

Die traditionelle Schule war oligarchisch, weil für die junge Generation der führenden Kreise bestimmt, die selbst wieder die Führung übernehmen sollten; aber in bezug auf die Art und Weise ihres Unterrichtens war sie nicht oligarchisch. Nicht der Erwerb von Fähigkeiten des Leitens und auch nicht die Tendenz, Menschen heranzubilden, die anderen überlegen sind, verleihen einem Schultyp seine soziale Prägung. Diese ist dadurch gegeben, daß jede soziale Gruppe ihren eigenen Schultyp hat, der die Aufgabe hat, in den betreffenden Schichten die Fortdauer ihrer traditionellen Funktion, nämlich Führer oder Instrument zu sein, zu sichern. Wenn dieser Mechanismus zerstört werden soll, darf man folglich die Typen berufsspezifisch orientierter Schulen nicht vermehren und weiter abstufen, sondern muß einen einheitlichen Schultyp (mit Grund- und Mittelstufe) schaffen, der den Jugendlichen bis an die Schwelle der Berufswahl heranführt und ihn zu einer Persönlichkeit ausbildet, die in der Lage ist, zu denken, zu lernen, zu leiten oder die zu kontrollieren, welche leiten. (…)“

Anmerkungen

1 Gramsci, Antonio: Notizen zur Sprache und Kultur. Hrsg. v. Klaus Bochmann, Gustav  Kiepenheuer Verlag, Leipzig und Weimar, 1984. Auswahl aus den italienischen Originalausgaben „Quaderni del Carcere“,  „Cronache torinesi. 1913–1917“ und „La città futura. 1917–1918. S. 150–154.  Bemerkungen zur Schule (Osservationi sulla scuola) Heft 12, § 2; Quaderni del Carcere, a. a. O., Band III, S 1543–1547.
2 Caspart Wolfgang: Der Marxismus. Von der Weltrevolution zur Politischen Korrektheit. Österreichische Landsmannschaft. Eckartschrift Nr. 165. Wien 2003. S. 69–70.
3 Antonio Gramsci: Gefängnisschriften, Heft 12. Zit.  nach: Marinovic, Walter: Linke Kulturpolitik in Österreich, Wien 1995. S. 12.
4 Marinovic, S. 12.
5 Antonio Gramsci: Gefängnisschriften, Heft 23. Zit.  nach: Marinovic, Walter: Linke Kulturpolitik in Österreich, Wien 1995. S. 12.
6 Vgl. Kosiek, Rolf: Die Frankfurter Schule und ihre zersetzenden Auswirkungen. Hohenrain, Tübingen, Zürich, Paris 2001.
7 Österreichische Landsmannschaft. Eckartschrift Nr. 165. Wien 2003.
8 Wien 1995.
9 Bibliographischer Hinweis: Gramsci, Antonio: Philosophie der Praxis. Studienausgabe. Argument Verlag.
10 Gramsci, Notizen, siehe FN 1.
11 Zur Situation der Gesamtschule in Deutschland vgl.: Sprenger, Ulrich: Der unkontrollierte Verfall des deutschen Schulwesens. Eine aus der Praxis kommentierte Dokumentation zu der zurückhaltenden Informations-Politik des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung und zu den bildungspolitischen Folgen dieser Zurückhaltung. Hrsg. v. Arbeitskreis Gesamtschule e. V., Verlag der Winkelmann Buchhandels-GmbH, Recklinghausen 2006.
12 Nicht außer acht gelassen werden darf, daß diese Einschätzung aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit Bezug auf Italien stammt.
13 Marinovic, S. 13.
14 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter, 1903.

 
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