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Wie eine Seuche „demokratisiert“ wurde

Von Michael Wiesberg

James Chin und sein Kampf gegen HIV-/AIDS-Mythen

Seit Jahrzehnten gilt es als Ausdruck „gesellschaftlichen Problembewußtseins“, wenn Prominente aller möglichen Couleur auf diversen „AIDS-Galas“ dazu aufrufen, mit dem Kauf einer Eintrittskarte die Arbeit verschiedener AIDS-Organisationen zu unterstützen. Verwiesen wird dabei nicht selten auf Zahlenmaterial, das glauben machen soll, mehr oder weniger jeder sei vom AIDS-Risiko gleichermaßen betroffen. Diese und andere Behauptungen haben sich mittlerweile als Mythos entpuppt, für dessen Entkräftung sich unter anderem ein Epidemiologe engagiert, der früher selbst AIDS-Prognosen aufstellte: James Chin, dessen Buch „The AIDS-Pandemic – The Collision of Epidemiology with Political Correctness“ (2007) in Kürze in deutscher Übersetzung im Grazer Ares Verlag erscheinen wird.

James Chin (geb. 1933), Professor für Epidemiologie an der School of Public Health der Universität von Kalifornien in Berkeley und bis 1992 ein leitender Epidemiologe beim Globalen AIDS-Programm der Well­tgesundheitsorganisation (WHO) in Genf, weist in seiner mit fundiertem empirischen Material untermauerten Untersuchung nach, daß die Diskussion um die Immunschwächekrankheit AIDS weniger von epidemiologischen Fakten als vielmehr von politischen, sozialen und moralischen, sprich politisch korrekten Erwägungen bestimmt wird. Er zeigt auf, auf wie fragwürdige Art und Weise mit AIDS-Zahlen in der Vergangenheit umgegangen und damit Seuchenangst geschürt wurde, und zwar von „Experten“ genauso wie von UNO-Behörden oder von Beratern, die aus der Homosexuellenszene stammen. Dieser Befund brachte Chin in Opposition zur politisch korrekten AIDS-Deutung: „Während meiner gesamten Laufbahn im öffentlichen Gesundheitswesen - sie begann in den frühen sechziger Jahren - genoß ich als Vertreter der konventionellen Wissenschaft und der in ihr vorherrschenden Meinungen Ansehen“, merkte Chin in einem Beitrag für die FAZ an (18. März 2008). „Seit Mitte der neunziger Jahre jedoch schwimme ich gegen den Strom der AIDS-Organisationen. In diesem Zeitraum wurde mir immer klarer, daß die von den Vereinten Nationen entwickelten und von den meisten Glaubensorganisationen unterstützten AIDS-Programme (UNAIDS) eher sozial, politisch und moralisch korrekt sind, als epidemiologisch sinnvoll.“
In seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner Untersuchung weist Chin, der sich seit Anfang der 80er Jahre mit der HIV-/AIDS-Pandemie beschäftigt, darauf hin, daß UNAIDS mittlerweile, wenn auch „widerwillig und zögerlich“, zu den gleichen Schlußfolgerungen wie er selbst gekommen sei. Seit 2001 habe UNAIDS die AIDS-Zahlen immer weiter nach unten korrigieren müssen. Die Überschätzung der HIV-Verbreitung wird laut Chin selbst von UNAIDS nicht mehr abgestritten, wobei unklar bleibe, ob der Grund hierfür in fachlicher Inkompetenz oder in dem Versuch, mehr Mittel für AIDS-Programme zu erhalten, zu suchen sei. Unbestreitbar sei jedenfalls, daß die HIV-Verbreitung vor über einem Jahrzehnt ihren Höhepunkt erreicht hat, was auf die Sättigung des Infektionsrisikos bei jenen Personengruppen, die am meisten betroffen sind, zurückzuführen ist. Die unheilkündenden Szenarien, die zum Beispiel für China oder Indien prognostiziert wurden, mußten, wie Chin vorausgesagt hatte, revidiert werden. Seine Schlußfolgerung lautet: Milliarden von Dollar seien während des vergangenen Jahrzehnts in falsche Kanäle geleitet worden, um eine HIV-Epidemie zu bekämpfen, die angeblich alle betreffe, tatsächlich aber auf bestimmte Risikogruppen eingegrenzt werden könne.

HIV/AIDS wird zur „Geißel der Menschheit“

„Ohne den sozialen und politischen Druck“, so unterstreicht Chin in seinem Buch, „mit dem die Homosexuellen-Lobby erreicht hat, daß AIDS im Mittelpunkt nationaler und internationaler Forschungsunternehmungen steht, wären wohl kaum Milliarden von Dollar für die Bekämpfung dieser Krankheit verwendet worden.“
Die anfängliche Stoßrichtung der Aktivisten der AIDS-Programme begründet sich laut David Signer, der in der „Weltwoche“ einen größeren Beitrag zu den Untersuchungen von James Chin verfaßte („Weltwoche“, 31/2007), wie folgt: Homosexuelle sollten vor Diskrimierung geschützt werden, indem der Mythos von AIDS als einer „Geißel“ in die Welt gesetzt wurde, die die gesamte Menschheit ohne Unterschied betreffe bzw. indem HIV/AIDS, wie es David Signer ausdrückte, „egalisiert“ oder „demokratisiert“ wurde. Als Gewährsmann für die angebliche Stigmatisierung Homosexueller wurde und wird (unter anderem) gerne der mehrfache US-Präsidentschaftskandidat und ehemalige Kommunikationschef von Ronald Reagan, Pat Buchanan, zitiert, der AIDS einmal als „Strafe Gottes für homosexuelle Laster“ bezeichnete.
Chin betont in dem oben bereits zitierten FAZ-Artikel: „UNAIDS und AIDS-Aktivisten ist es gelungen, den Menschen weiszumachen, daß sich der HI-Virus auf die gesamte Bevölkerung ausbreiten könne. Dadurch soll wenigstens zum Teil verhindert werden, daß Personen, die Risikoverhalten zeigen, stigmatisiert werden. Es liegt im Interesse von UNAIDS, daß sich Öffentlichkeit und Politiker davor fürchten, HIV-Infektionen könnten sich über die Brennpunkte hoher HIV-Prävalenz [Anzahl der Krankheitsfälle in einer bestimmten Population, d. V.]hinaus in die allgemeine Bevölkerung ausbreiten.“
Wie wir heute wissen, konnte das Ziel, Homosexuelle aus dem Fokus des HIV-/AIDS-Diskurses zu rücken, in hohem Maße erreicht werden. Doch damit nicht genug: Mehr oder weniger gleichzeitig stiegen AIDS-Organisationen zu Instanzen auf, so streicht der Schweizer Wissenschaftsjournalist Signer heraus, die für sich reklamieren konnten, die Interessen der Menschheit wahrzunehmen. Derart legitimiert, nahmen und nehmen diese Organisationen massiv Einfluß auf die öffentliche bzw. „veröffentlichte“ Meinung, die wesentlich dazu beitrug, den HIV-/AIDS-Mythos manifest werden zu lassen.

Übertriebene Zahlen

Die umfangreichen öffentlichen Gelder, die in die AIDS-Organisationen und ‑Hilfsprojekte fließen, tun ein übriges. Auf diese Weise finanziert, erlischt naturgemäß das Interesse daran, im Hinblick auf die angebliche „AIDS-Pandemie“ Entwarnung zu geben, wozu es aufgrund der Zahlen durchaus Grund gäbe. Chin verweist unter anderem darauf, daß die Zahl der weltweit an AIDS Erkrankten nicht 40, sondern 30 Millionen betrage. Für Indien hätte die Zahl der dort an AIDS Infizierten von 5,7 auf 2,5 Millionen zurückgenommen werden müssen. Eine Halbierung der Zahlen mußte auch für Kenia und Äthiopien vorgenommen werden. Ende Oktober 2008 hätte die WHO in ihrem Bericht (WHO, Global Burden of Disease 2004 update) die Voraussagen von 2004, in dem diese die jährlichen AIDS-Toten für das Jahr 2030 auf weltweit 6 Millionen schätzte, auf 1,2 Millionen korrigieren müssen.
Wie nonchalant mit AIDS-Zahlen zum Teil umgegangen wird, zeigt das Beispiel des philippinischen Gesundheitsministers, den Chin 1990 auf eine fragwürdige Schätzung von 50.000 HIV-Positiven ansprach. Diese Zahl war entstanden, indem man 50 bekannte HIV-Fälle einfach mit 1000 multiplizierte. Der Minister entgegnete gegenüber Chin: „Engagement braucht keine Genauigkeit!“ Eine Äußerung, die offensichtlich pars pro toto steht, stellt Chin doch fest: „Leider ist dies genau der Ansatz, den UNAIDS zur Schätzung von HIV-Prävalenz und –Inzidenz [Anzahl der Neuerkrankungen, d. V.] verwendet. Ohne all jene düstern HIV-Szenarien … werden Öffentlichkeit und Politik den AIDS-Programmen nicht mehr die hohe Priorität einräumen, auf die sie bis heute zählen können.“ Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß zum Teil nicht gerechtfertigte Summen in fragwürdige „AIDS-Aufklärungskampagnen“ gepumpt werden.
Aus Sicht der AIDS-Lobby ist nachvollziehbar, daß diese kein Interesse daran hat, die von ihr sorgsam gepflegten AIDS-Mythen zu entkräften. Wer dreht sich schon gerne selbst den Geldhahn zu? Umso bedeutsamer ist es, wenn mit James Chin ein renommierter Forscher der irreführenden „veröffentlichten Meinung“, die die AIDS-Spendenbeschaffung nach wie vor als „Solidarisierung mit den Armen“ preist, entgegentritt. Daß dessen Thesen bei der AIDS-Lobby langsam Wirkung zeigen, zeigt eine Bemerkung von UNAIDS-Direktor Peter Piot, der auf der AIDS-Konferenz in Durban im Jahre 2007 erklärte, die Bekämpfung der AIDS-Herausforderung werde durch „leugnerische Behauptungen wie die, UNAIDS überschätze das Ausmaß der Epidemie“, erschwert.

Die Mythen des HIV-/AIDS-Diskurses

James Chin entlarvt in seinem Buch eine Reihe von Mythen bzw. falschen Annahmen über die Epidemiologie und Übertragungsdynamik von HIV (Humanes Immunmangelvirus), den Erreger von AIDS.Der bedeutsamste und wichtigste Mythos dürfte die bereits angesprochene Behauptung sein, daß bei fast allen Personen ein ähnlich hohes Risiko einer HIV-Infektion bestünde. Die Wurzeln dieses Mythos verortet Chin den frühen 80er Jahren, als sich die ersten erfaßten AIDS-Fälle innerhalb kurzer Zeit verdoppelten. Anfänglich wurde diese Krankheit bezeichnenderweise noch als GRID (Gay-related Immune Defiency = mit Homosexualität assoziierte Immunschwäche) bezeichnet, ehe sich ab etwa Mitte 1982 AIDS genannt wurde. Ins Auge fiel damals neben den erkrankten Homosexuellen und injizierenden Drogenkonsumenten vor allem die hohe Zahl von infizierten Haitianern, die das Virus aus Zaire (heute Kongo), wo sie in befristeten Arbeitsverhältnissen standen, eingeschleppt hatten. Untersuchungen in ­Zaire ergaben, daß dort bereits eine relativ hohe HIV-Infektion bestand.
Gegen die Untersuchungsergebnisse, die eine Zaire–Haiti-Verbindung konstatierten, erhob sich bald Protest. Die These, das Virus stamme ursprünglich aus Afrika, wurde als „Rassismus“ oder „Schuldzuweisung“ denunziert. In den von AIDS betroffenen afrikanischen Gebieten setzte sich schnell eine ganz andere Deutung der Ursprünge der HIV-/AIDS-Pandemie durch, nämlich, um ein Beispiel zu nennen, daß das AIDS-Virus aus CIA-Labors stamme.
Diese Ergebnisse der Untersuchungen in Zaire führten 1987 schließlich zur Gründung des Globalen AIDS-Programms der WHO und 1995 zur Gründung von UNAIDS, die sich ausdrücklich als „anwaltliche Organisation“ versteht, also keine fachlich-wissenschaftliche Organisation ist. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches merkt Chin an, daß UNAIDS nach seiner Gründung die „Verantwortung für die Finanzierung des AIDS-Programms und dessen technische Leitung an andere internationalen Organisationen und Spender abtrat“. Nicht aber trat UNAIDS die Verantwortung für die Schätzung der HIV-Zahlen ab, was bereits allein zu einer kritischen Distanz zu den HIV-Schätzungen und Vorhersagen von UNAIDS hätte führen müssen.
Beobachtungen, daß bestimmte Formen sexuellen Risikoverhaltens, sprich sexuelle Promiskuität in homosexuellen und heterosexuellen Populationen, oder die gemeinsame Benutzung eines Spritzbesteckes bei Drogenkonsumenten das HIV-/AIDS-Ansteckungsrisiko signifikant erhöhten, führten nach Chin zu der Annahme, daß früher oder später in allen Bevölkerungsteilen HIV-Epidemien auftreten könnten. Chin weist aber nach, daß die Gefahr einer HIV-/AIDS-Epidemie bei homosexuellen Männern, injizierenden Drogenkonsumenten und weiblichen Prostituierten noch lange nicht bedeutet, daß alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen einem HIV-Risiko unterlägen. Die hinter dieser Behauptung liegende hochproblematische Annahme lautet: HIV-„Brücken“-Populationen (z. B. bisexuelle Männer oder infizierte Drogenkonsumenten) würden unweigerlich heterosexuelle HIV-Epidemien entfachen. Chin zeigt demgegenüber auf, daß die Wahrscheinlichkeit eines gesunden Mannes, sich beim Geschlechtsverkehr mit einer HIV-positiven Frau anzustecken, bei 1:1000 oder niedriger liegt. Die Gefahr einer Epidemie bestehe erst dann, wenn viele ihre Sexpartner täglich oder wöchentlich wechseln. Das geschieht in einigen asiatischen Staaten zum Beispiel über kommerzielle Sex-Netzwerke (käuflichen Sex), in Europa oder den USA in „Schwulensaunen“ oder anderen Treffpunkten. Steckt sich jemand in einem europäischen Bordell an, könne das bedeuten, daß er in der Folge seine Frau oder Freundin ansteckt; die Gefahr einer Ausbreitung bleibe aber gering. Die Behauptung einer angeblichen „Brücken“-Funktion von Populationen hält also einer näheren Prüfung nicht stand.
Von besonderer Natur ist laut Chin die Situation in Subsahara-Afrika bzw. in einigen wenigen asiatischen Ländern. Im subsaharischen Afrika, wo AIDS tatsächlich im nennenswerten Umfang auch die heterosexuelle Mehrheit betrifft, herrscht bei etwa einem Viertel der Bevölkerung eine hohe Promiskuität, die sich nicht nur durch Prostitution erklären läßt, sondern vor allem auf größere Sex-Netzwerke zurückzuführen ist. Diese Netzwerke tragen offensichtlich zur Ausbreitung des Virus bei. Dazu kommt eine größere Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten, die die Ansteckungsgefahr weiter erhöhen. Die männliche Beschneidung, die hier einen Schutz bieten könnte, ist im subsaharischen Afrika wenig verbreitet.
Die Situation im subsaharischen Afrika ist aber nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme. Daran ändert auch die „Erfolgsgeschichte“ Ugandas nur wenig, das gerne als Beispiel für eine gelungene Eindämmung der HIV-/AIDS-Pandemie genannt wird. Chin verweist darauf, daß sich die gemeldeten Erfolge wohl zum Teil auch aus der Veränderung der Art und Weise der Stichprobenerhebung erklären.
Die HIV-Prävalenz in den am meisten betroffenen Land des subsaharischen Afrikas (Swasiland) sei ca. 50 Mal höher als in den Ländern Europas oder Südamerikas, die von AIDS betroffen sind. Dieser Umstand sei aber nicht auf Aufklärungskampagnen zurückzuführen, sondern auf fehlendes Risikoverhalten. Das ist das Ergebnis der Forschungsarbeit Chins, das er in dem oben bereits zitierten FAZ-Beitrag pointiert wie folgt zusammenfaßte: „Mein eigenes Paradigma besagt, dass es zu einer epidemischen Übertragung von HIV nur dann kommt, wenn bestimmte menschliche Verhaltensweisen vorliegen. Dazu gehören ungeschützter Geschlechtsverkehr mit mehreren Partnern und/oder der routinemäßige Austausch von Nadeln und Spritzen bei Rauschgiftkonsumenten. So wie ich die Dynamik verstehe, kann bei einer Bevölkerung, die diese riskanten Verhaltensweisen nicht aufweist, keine HIV-Epidemie auftreten.“

Armut ist kein Faktor der  HIV-/AIDS-Epidemie

Dieser Befund wird aus den oben genannten Gründen unter der Decke gehalten oder wird, wenn er einmal thematisiert wird, als „Rassismus“, „Vorurteil“ und anderes mehr abgekanzelt und damit als ernstzunehmendes Argument dem AIDS-Diskurs entzogen. Stattdessen wird Armut als wichtiger Faktor der Verbreitung von AIDS behauptet.
Verbessere man die Lebenssituation in armen Ländern, so die Propagandisten politisch korrekter AIDS-Deutung, könne auch AIDS effizienter bekämpft werden. Auch diese Solidarität heischende Forderung hält einer Prüfung durch die Fakten nicht stand, finden sich doch bei den afrikanischen Staaten, die die höchsten HIV-Raten der Welt aufweisen (Botswana, Simbabwe, Südafrika und Swaziland), keineswegs die ärmsten Länder Afrikas. Ein Befund, der verallgemeinert werden kann: Nicht nur in Afrika, sondern auch auf anderen Ländern weisen viele arme Länder niedrige HIV-Raten auf. Doch damit nicht genug: Forschungen in Kenia und Tansania ergaben, daß dort die wohlhabendste Schicht zwei bis drei Mal so hohe Infektionsraten aufwies, wie die ärmste Schicht. Die Mär, daß eine schlechte Ernährung auch ein geschwächtes Immunsystem zur Folge habe, das wiederum Einfallstor für eine AIDS-Infektion sei, kann deshalb nicht aufrechterhalten werden. Fakt ist allerdings auch, daß AIDS-Infizierte in armen Ländern aufgrund der dortigen mangelhaften Gesundheitsversorgung geringere Überlebenschancen haben.
Chin betont, daß die Behauptung, Armut sei die oder eine Hauptdeterminante für die HIV-Übertragung, ein „glorreicher Mythos“ sei, der sich nur schwer entkräften lasse, weil es keinerlei epidemiologische Fakten gäbe, die ihn untermauerten. Warum die heterosexuelle Übertragung von AIDS in vielen Ländern südlich der Sahara tatsächlich wild wuchert, in den meisten anderen Regionen hingegen nicht, darauf haben die Weltgesundheitsorganisation und UNAIDS eine direkte Antwort stets vermieden. „Sie sind lieber um den heißen Brei herumgeschlichen“, konstatiert Chin, „indem sie behaupteten, die Hauptfaktoren für die hohe HIV-Prävalenz seien Armut, Diskriminierung und fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung.“ Ebensowenig sei Diskrimierung ein ursächlicher Faktor von HIV-Risikoverhalten und damit auch keine Determinante von epidemischer HIV-Übertragung.
Zu differenzieren sei auch die Behauptung, ein ausgeprägtes HIV-Risikoverhalten führe direkt zu HIV-Epidemien. Lange Zeit war man der Überzeugung, daß unweigerlich eine epidemische HIV-Übertragung erfolgen würde, wenn HIV erst einmal in ein kommerzielles Sex-Netzwerk gelangt war. Das Risiko kann bei niedrigen Sexualpartnerwechsel durchaus begrenzt sein. Die Gefahr einer epidemischen heterosexuellen HIV-Übertragung bestehe erst dann, wenn laut Chin folgende Faktoren erfüllt sind: große, offene und sich überschneidende Sex-Netzwerke; hohe Promiskuität mit täglichem Partnerwechsel; niedrige Zirkumzionsrate (Zirkumzision = Vorhautbeschneidung); niedrige Kondomverwendungsrate; hohe Prävalenz mehrerer erleichternder Faktoren.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß die HIV/AIDS-Pandemie keine homogene Pandemie, sondern aus mehreren separaten und voneinander relativ unabhängigen HIV-Epidemien zusammengesetzt ist, die folgende Faktoren einschließen:
I. Netzwerke aus Männern, die mit anderen Männern Sex haben;
II. Netzwerke von Heterosexuellen mit häufig wechselnden Sexpartnern;
III. Netzwerke von injizierenden Drogennutzern, die dieselben Nadeln bzw. Spritzen benutzen und
IV. Krankheitsausbrüche, die auf fehlerhafte medizinische Behandlungsweise zurückzuführen sind.

Die Problematik der Erhebung von HIV/AIDS-Zahlen

Alle diese Befunde rücken immer wieder die Frage in den Raum, wie UNAIDS eigentlich zu denjenigen Zahlen gekommen ist, die dann als offizielle HIV-Zahlen verbreitet werden. Gerade hier herrscht, wie Chin unterstreicht, bei Politikern, Journalisten und sogar bei vielen Mitarbeitern von HIV-/AIDS-Programmen nach wie vor ein „fürchterliches Mißverständnis“, das vor allem darauf beruht, daß HIV und AIDS durcheinandergebracht werden. Darüber hinaus werden Inzidenz- und Prävalenzzahlen und die verschiedenen Raten, die für HIV-Infektionen, AIDS-Fälle und AIDS-Tote berechnet werden können, häufig verwechselt. Festzuhalten ist, daß die Vollständigkeit und Verläßlichkeit der Zahlen von HIV-Infektionen und AIDS-Fällen von Land zu Land sehr unterschiedlich ist.
Chin nennt folgende wichtige Fehlerquellen bei der Erhebung von AIDS-Zahlen:
lDie schlechte Datenqualität und die Möglichkeit, daß die üblichen Stichproben, die in den meisten HSS-Systemen verwendet werden, für die Zielpopulationen nicht repräsentativ sind, können zu gravierenden Schätzfehlern führen.
lDie Größe von bestimmten HIV-Risikogruppen, wie Männern, die mit anderen Männern Sex haben, weiblichen Prostituierten oder injizierenden Drogenabhängigen, wird häufig um ein Vielfaches über- oder unterschätzt.
lEine wichtige Annahme besagt, daß die HIV-Prävalenz bei Frauen, die Pränatalkliniken aufsuchen, stellvertretend für die HIV-Prävalenz in der Gesamtpopulation der 15- bis 49jährigen verwendet werden kann. Für Populationen außerhalb von Subsahara-Afrika hat sich diese Annahme als nicht hinreichend stichhaltig erwiesen.
lDas Verhältnis von HIV-Infektionen bei Männern und Frauen wird mit Hilfe von Methoden und Annahmen geschätzt bzw. gemessen. Im subsaharischen Afrika ist ein leichtes Überwiegen der Frauen gegenüber den Männern festgestellt worden. In den meisten anderen Regionen überwiegen aber die Männer, was daran liegt, daß die Übertragung von HIV außerhalb Subsahara-Afrika vor allem in homosexuellen und kommerziellen Sex-Netzwerken stattfindet, in denen Männer deutlich in der Überzahl sind. Legt man nun die Pränatalklinik-Daten weiblicher Patienten zugrunde und nimmt keine Anpassungen im Hinblick auf die höheren Infektionsraten der Männer vor, können Schätzungen durchaus auch zu niedrig ausfallen.
lEbenso fehlerbehaftet sind die Modelle, mit denen Projektionen künftiger Entwicklungen von HIV vorgenommen werden. Chin stellt hierzu fest: „Meiner Ansicht nach besteht das größte Problem der meisten Modellbildner darin, daß die Übertragungsdynamik von HIV nicht voll und ganz verstanden haben und ihre Bemühungen fast ausschließlich darauf verwenden, ungenaue und/oder nicht repräsentative Daten in mathematische Kurven zu übertragen. Auf diese Weise entwickeln sie Modelle, die eine verzerrte und fehlerhafte Simulation dessen wiedergeben, von dem sie annehmen, es entspräche der Realität.“

Ziel ist die Verhaltens­beeinflussung

Chins fundierte Untersuchung macht am Beispiel der HIV-/AIDS-Pandemie einmal mehr deutlich, daß die „öffentliche Meinung“ immer „veröffentlichte Meinung“ und damit von vornherein interessegeleitet ist. Der früh verstorbene Arnold-Gehlen-Schüler Hanno Kesting war es, der darauf verwies, daß die hinter der „veröffentlichten Meinung“ stehenden Interessengruppen ihre Standpunkte und Handlungen immer so darzustellen versuchten, als lägen sie im Interesse der Menschheit. Ziel sei es, „Menschen … in ihrem Verhalten zu beeinflussen … und auf bestimmte Ziele auszurichten“. Wer diese Ziele und die dahinterstehenden Intentionen kritisch durchleuchtet, läuft schnell Gefahr, vorgehalten zu bekommen, angeblich „Offensichtliches“ anzweifeln zu wollen bzw. gegen „humanitäre Interessen“ zu agitieren. Vorwürfe, die in unserer heutigen Gesellschaft sehr schnell Isolation bzw. Stigmatisierung nach sich ziehen können. Der Verdienst von Chins Arbeit liegt darin, mit unabweisbaren Fakten in einem konkreten Fall deutlich gemacht zu haben, wie irreführend und wirklichkeitsverzerrend diese „veröffentlichte Meinung“ sein kann. Man darf davon ausgehen, daß dieser Befund nicht nur für die „veröffentlichte Meinung“ über die Ursachen und das Ausmaß der HIV-/AIDS-Pandemie gilt …

 

James Chin
Der Aids-Mythos Medizinische Fakten versus politische Korrektheit
320 S., zahlr. Skizzen, Hardcover
Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Cathrine Hornung
ARES, 2009, € 29,90

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