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Léon Bloy – der undankbare Bettler

Von Endre A. Bárdossy

Ein abschreckendes Vorbild für die Befreiungstheologie

Neuerdings liest man hie und da Bemerkungen, Rezensionen, Halbsätze und Halbwahrheiten über Léon Bloy, meistens hochachtungsvoll wie vor einem Säulenheiligen. Dank Bergoglio, dem lateinamerikanischen Papst mit Gespür für alles, was gut inszeniert werden kann, avancierte Bloy zu einem „Anwalt der Armen“ in der Pose, wie sie unter Befreiungstheologen geziemend ist: Er war stets beleidigt, stets beleidigend, stets nach Mitleid bettelnd. Er war also einer, der sich erlaubte, zeit seines Lebens die Bürgerlichen, die Bemittelten und Erfolgreichen lustvoll zu brüskieren. Bloy glaubte in der Tat an den ökonomisch unhaltbaren Unsinn, daß der zunehmende Wohlstand der Allgemeinheit nur durch die zunehmende Armut einer Minderheit erkauft werden kann. Eigentum hieße also Diebstahl. Handel wäre Betrug. Bloy hat offenbar nie etwas verstanden von komparativen Kosten und Produktivität, von Fleiß und Leistung, vom blühenden Handel und von den Vorteilen der uralten Marktwirtschaft, deren Naturgesetze seit den Phöniziern, Griechen und Römern bis heute ihre Gültigkeit beibehalten haben.

Zu Bloys Weltbild wäre kritisch zu bemerken, daß die Mystifizierung und Glorifizierung des Elends nicht unwidersprochen hingenommen werden kann. Bloy war weder Theologe noch Ökonom, sondern ein unqualifizierbarer Bohemien. Seine leidenschaftliche Schriftstellerei ist bereits von Ernst Jünger als „Zwillingskristall von Diamant und Kot“ erkannt worden. Es gibt aber gute Gründe, um den schillernden Glanz dieses „Diamanten“ in Zweifel ziehen zu müssen. Und wenn seine Aura ausgerechnet von Befreiungs- und Volkstheologen aufpoliert werden sollte, dann ist ihr Wink überhaupt nicht mehr als gute Empfehlung zu werten. Wie es oft der Fall ist, ist der Schlüssel zum Werk einer Berühmtheit im Curriculum vitae der betreffenden Person zu suchen. Nietzsche, Heidegger und viele andere gefeierte Persönlichkeiten liefern dafür lebendige Zeugnisse, wenn man hinter den Vorhang ihres Lebenswandels schaut.

Die Herkunft von Léon Marie Bloy

Sein Vater war Ingenieur und ein kleinbürgerlicher Freimaurer in Périgueux, im Südwesten Frankreichs. Als Schulabbrecher und rebellisches, wenn auch verwöhntes Kind hatte er für einen qualifizierten Beruf keine Bildung erworben. Als Faulenzer, Billardspieler und vor allem als vermeintliches „Genie“ war er nach eigenem Ermessen für Hand- oder Büroarbeiten zu gut. Unzählige Male hat er Stellen gewechselt und immer wieder gekündigt. Journalismus hätte ihm schon zugesagt, dafür war er wiederum allzu nonkonformistisch, geradlinig und eigensinnig. Für die Rolle eines frommen Priesters war er zu aufrührerisch und trotzig. Überdies verliebte er sich öfters in Prostituierte, natürlich immer wieder in eine arme, unschuldige, mit einem guten Herzen. Künstlernaturen halten sich ja von der Moral – vor allem von der bürgerlichen – freigestellt. Er fühlte sich schlicht und einfach „exceptionnel“ so wie ein Wunderkind. Frau Mama hatte ihm eine große Zukunft prophezeit.
Dafür hat er von der „Gesellschaft“ Anerkennung und eine Art standesgemäße Apanage ob seiner schriftstellerischen Produktion erwartet. Diese sind bis zum bitteren Ende ausgeblieben. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Trost in einer masochistischen Armutsideologie zu suchen.

Masochismus – einmal vom ­religiösen Standpunkt betrachtet

Um jeglicher schwarzen Legende der liberalen „Aufklärung“ die Spitze zu nehmen, halten wir daran kategorisch fest, daß das katholische Christentum kein Verein von Masochisten ist. Christen halten auch keinen Sonderstatus für die Ungebildeten bereit, die nur jammern und dumm an den Rändern der Welt vegetieren. Im Gegenteil, es gab nie eine katholische Missionsarbeit ohne Schulgründungen. Die Benediktiner christianisierten Europa nach dem Untergang des Römischen Reiches mit dem Kreuz, dem Pflug und dem lateinischen Alphabet. Spätestens seit Thomas von Aquin sind Klugheit und Tapferkeit definitiv unter die Kardinaltugenden gereiht worden. Christentum ohne griechisch-römische Bildung hat es nie gegeben, da der heilige Paulus immer schon ein griechisch gebildeter Civis romanus war. Die mittelalterlichen Klöster waren die Erretter und Vermittler der Zivilisation inmitten der Barbarei und der Völkerwanderung, was man heute Migrantenkrise nennt. Die triumphierende Kirche war also nie masochistisch, sondern tatkräftig, mutig und klug.
Kein normaler Mensch kann am nihilistischen Verenden des Menschen in einem leeren und sinnlosen Universum Befriedigung finden. Léon Bloy war zutiefst gläubig – also ein „Pilger des Absoluten“, ein „absoluter Katholik“, wie man zu sagen pflegte, um ihn vom Verdacht der Perversion reinzuwaschen. Ein „absoluter Gegenpol“ zum Materialismus des flachen XIX. Jahrhunderts war er sicherlich auch. Aber Unglück und Mißerfolg, Krankheit und Armut hat er ebenso bereitwillig umarmt wie den Hunger nach Unsterblichkeit. Unterwegs zum letzten Ziel des Menschenwesens, am Diesseits und an seinen Spielregeln absolut desinteressiert, war er ebensogut ein „absoluter Masochist“. Sein förmliches Ergötzen an Leid, Mitleid oder Selbstmitleid war ein untrügliches Symptom, das auf eine Persönlichkeitsstörung hinweist. Ein wenig davon steckt wahrscheinlich in einem jeden von uns. Die Dunkelziffer jener Unglücklichen, die an solchen Störungen leiden, ist eine Unbekannte, aber wahrscheinlich größer, als wir es uns je vorstellen können. Es gibt nämlich sehr wenige Patienten, die sich deshalb zu einer Behandlung einfinden. Durch die Tabuisierung des Themas kommt es dann öfters zu einem bösen Ende.

Eine Präzision der Begriffe ist nötig

Der delikate Begriff Sadismus wurde erstmals 1866 von Richard Freiherr von Krafft-Ebing, einem deutschen Psychiater, Gerichtsmediziner und Universitätsprofessor in Straßburg, Wien und Graz, verwendet. Der Fachausdruck wird vom Namen des berüchtigten Jakobiners Marquis de Sade hergeleitet, dessen Romane mit Gewaltphantasien und Pornographie gefüllt sind.
Masochismus als Gegenbegriff zum Sadismus verwandte ebenfalls Freiherr von Krafft-Ebing zum ersten Mal in dem gleichen Kontext. Er bezog sich auf Leopold Ritter von Sacher-Masoch, einen Schriftsteller aus dem österreichischen Lemberg (1836–1895) – heute Ukraine –, der in seinen Novellen mit Vorliebe das masochistische Verhalten als sexuelle Perversion schilderte. Das war auch ein seichtes Vergnügen für die damalige Gesellschaft in Österreich. Sacher-Masoch war keineswegs hocherfreut darüber, daß sein nobler Familienname zu einem Aushängeschild dieser Materie erkoren wurde. Die Bezeichnung setzte sich jedoch durch.
Somit läßt sich Sadismus im wesentlichen als lustvolle Zufügung von Schmerzen, Erniedrigung oder Fesseln definieren. Wenn sich die leidtragende Person dieses Vergnügen selbst zufügt oder zufügen läßt, dann geht es spiegelverkehrt um Masochismus. Oft handelt es sich um eine Wechselwirkung mit austauschbaren Rollen. Für unsere Untersuchung ist ausschlaggebend, daß der Sadomasochismus nicht immer, sogar nicht einmal vorwiegend, sexuell motiviert sein muß.
Die menschliche Zerstörungslust findet unzählige Betätigungsfelder in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, im vulgären Tratsch oder in den schwarzen Legenden der Geschichtsfälschung, und vor allem in der Ausübung von Macht und Gewalt, wo immer es auch möglich ist – auch dann, wenn sie nicht zu Straftaten führen muß. Im vorliegenden interessieren wir uns im besonderen für den asketisch gemeinten christlichen Masochismus. Bloy war ein Unglücksrabe und Meister in der Sache.
Um die Ursachen dafür herauszufinden, muß die Zunft der Psychologen und Psychiater in trüben und abgrundtiefen Gewässern der Seele fischen gehen, um ihre vagen Hypothesen aufzustellen: Abwehrverhalten, Ängste, Gewissenskonflikte werden aufgelistet, die im stereotypischen Zusammenhang mit der Loslösung von der Mutter und in einer Gefangenschaft der infantilen Erinnerungen unter einem strengen, eiskalten Vater vermutet werden, der das Kind mit spartanischer Disziplin zu unterdrücken suchte. Mit Masturbationsphantasien vermischt, finden freilich auch die Freudianer ein weites Betätigungsfeld, um sich auszutoben.

Das christliche Martyrium ist kein masochistisches Ideal

Immer schon hat das selbstlose „Sichaufopfern für ein Ideal“ die Menschen fasziniert und begeistert. Selbstmordattentäter oder Kamikazepiloten haben masochistische Tendenzen im Übermaß. Echte Helden und Märtyrer unterscheiden sich von ihnen darin, daß sie den Ernstfall nicht leichtfertig und sinnlos suchen, sondern notwendend, sinnvoll und selbstlos erleiden. Im christlichen Glauben ist das Martyrium am Beispiel Christi fest verankert. Der Tod des Märtyrers entspricht dem Leiden und dem Tod des Herrn. Man partizipiert im Tod mit Jesus Christus an der Vollendung und Auferstehung. Freilich muß das alltägliche Opfer doch äußerst selten das Blutzeugnis sein. Viele Menschen bringen die kleinen Opfer des Alltags leichten Herzens, gern und froh dar, unblutig, ohne Mord, ohne Totschlag und ohne Spektakel für ihre Familie und Freunde, und erleiden dafür – wenn es nötig wird – Mißgunst und andere Nachteile, ohne sich masochistisch zur Schau zu stellen.
Masochismus ist also die Entartung der sinnvollen Opferbereitschaft. Was aber einen masochistischen „Gutmenschen“ anfeuert, selbst vor den größten Gefahren der Völkerwanderung die Augen zu verschließen und jede Vorkehrung und Selbstverteidigung zu unterlassen, ist ein Streben nach lustvoller Selbstzerstörung. Bei IS-Terroristen ist dies nicht anders. Dort warten jedoch imaginäre Jungfrauen auf die Opfer.
Religiös motivierte Masochisten empfinden erlösende Gefühlsregungen und Befriedigung in Situationen der Demütigung, Unterdrückung oder dank der freiwillig sich selbst zugefügten Schmerzen, Entbehrungen sowie durch übertriebenes Fasten und sonstiges Leiden. Religiös motivierte Sadisten verhalten sich spiegelverkehrt. Die syrischen Säulenheiligen (griechisch Stylites) im IV. und V. Jahrhundert, wie Symeon der Ältere und Symeon der Jüngere, sind ein besonders brutales Beispiel für Masochismus. Nicht selten kamen dabei auch blutige Selbstverletzungen, Verstümmelungen und Geißelungen vor.
Masochisten sind jederzeit bereit, leichtfertig sich selbst zu opfern, und akzeptieren bereitwillig jede Unterdrückung. Sie fühlen Befriedigung, wenn sie verderben und andere ins Verderben mitnehmen können.

Leben und Werk des Schriftstellers – Musterbeispiel für eine abgrundtiefe Endzeitstimmung

Léon Bloy schreibt unzweideutig: „Ich erinnere mich, wie ich als Kind, als ganz kleiner Knabe, oft mit Unwillen, mit Empörung mich geweigert habe, an Spielen und Vergnügungen teilzunehmen ... Ich hielt es für edler, zu leiden und mich leiden zu machen, indem ich darauf verzichtete. ... Das bloße Wort Unglück riß mich in einen Begeisterungssturm hinein. Ich denke, daß ich das von meiner Mutter hatte, deren spanische Seele gleichzeitig so glühend und so düster war ...“
Mit 18 Jahren schickte ihn sein Vater nach Paris und verschaffte ihm eine Arbeit bei einer Eisenbahngesellschaft. Bereits nach einem Jahr kommt es zu Auflehnungen; er kündigt und will Maler werden. Später beschreibt sich der 20jährige selbst: „Bin nach Paris wie ein Abenteurer gekommen, hatte den Glauben verloren, keinen Sou, war neidisch, ehrgeizig, faul und empfindlich.“ Mit 21 lernt er einen Anarchisten kennen, unter dessen Einfluß er Sozialist wird. Das wird er auch ein Leben lang bleiben – auch als rekonvertierter Katholik. Mit 23 Jahren verkehrt er im Kreise des Schriftstellers und Royalisten Barbey d’Aurevilly, zu dessen Sekretär er zeitweilig avancierte.
Am Preußisch-Französischen Krieg (1870–1871) hat er als Patriot wohl begeistert teilnehmen müssen. Er sieht ihn als Kreuzzug gegen die Lutheraner zur Befreiung Europas. Darum ging es aber in diesem Krieg nicht, sondern um die deutsche Revanche für Napoléons paneuropäische Verbrechen und nicht zuletzt um den Besitz von Elsaß-Lothringen. Den verlorenen Krieg interpretiert dann Bloy als Gottes Strafe für Frankreich wegen des Königsmords an Ludwig XVI.; er bestätigt seine fixe Idee der „Großen Katastrophe“, womit er sein Lebtag rechnen wird: J’attends les Cosaques et le Saint-Esprit. Ich erwarte die Kosaken und den Heiligen Geist – wohl ein masochistisches Motto für das hoffnungslose Leben. In der Nachkriegszeit besagt eine Briefstelle viel über seine Grundeinstellung: „Ich sage, daß einer mein Freund ist, wenn er bereit ist, durch mich und für mich zu leiden.“
Der väterliche Freund Barbey d’Aurevilly riet ihm mehrmals – inmitten seines unordentlichen Lebenswandels und schwerer Entbehrungen –, Benediktiner zu werden. Aber das widersprach wohl zu sehr seiner zügellosen Natur. Seine literarische Tätigkeit vermochte ihm nie einen festen Lebensunterhalt zu bieten. Zu einer „bürgerlichen“ Beschäftigung konnte er sich aber auch nicht aufraffen, da er die verhaßte bürgerliche Lebensform komplett ablehnte. Er zog es vor, ein stolzer und undankbarer Bettler zu werden. Aus dem Jahre 1873 lesen wir: „Ich wollte, daß Gott mich auf die grausamste Art der Welt leiden ließe. Ich erbitte mir von ihm nur absolut eine Sache: die Kraft.“
1877 kehrt das ewige Thema immer wieder zurück: „Ich will, ich muß leiden, ich akzeptiere es, ich will es, und trotzdem kann ich manchmal nicht mehr. Die Natur führt in mir einen schrecklichen Kampf gegen die Gnade.“ Er tut sich immer wieder den Zwang an, die Dinge zusätzlich zu dramatisieren. Zur gleichen Zeit verliebt er sich in eine Prostituierte, bekehrt sie, will sie heiraten; sie scheitern aber an der verweigerten Unterstützung der Pflegemutter des zwielichtigen Freudenmädchens. Und natürlich an den eigenen finanziellen Zuständen. Die Liebe bleibt, aber auch die materielle Not. Sie leiden gemeinsam Hunger. Sie macht ihm „Privatoffenbarungen“, prophezeit ihm einen Märtyrertod und den Weltuntergang für 1880. Als alles das ausbleibt, verfällt Bloy in eine Glaubenskrise und in tiefe Depressionen. 1882 verliert das Freudenmädchen aber über alle Krisen hinaus wirklich den Verstand, um schließlich im Irrenhaus zu enden, wo sie nach einigen Jahren auch stirbt.
Bloys Bücher finden keinen Widerhall, stets scheitert er auch im Journalismus. Er knüpft neue Verbindungen zu Prostituierten und läßt sich auf ein Verhältnis mit einer arbeitslosen Schauspielerin ein, das mit ihrem tragischen Selbstmord zu Ende geht.
Als 43jähriger, abgetakelter „Playboy“, möchte man heute sagen, lernt Bloy in seinem Freundeskreis die 30jährige Tochter eines dänischen Dichters kennen. Unter dem Eindruck, den Bloy und seine Geschichten auf sie ausüben, konvertiert sie zum Katholizismus: Liebe auf den ersten Blick, die 1890 glücklich vor dem Traualter endet und in einer lebenslangen, harmonischen Ehe kulminiert. Sie ziehen demnächst nach Dänemark, finden dort aber nicht wirklich ihr Glück. Das materielle Umfeld der dänischen Gattin war wahrscheinlich nicht allzu üppig, aber sicherlich „geordnet», wovon sie etliche Jahre lang zehren konnten. Von den vier Kindern verstarben zwei vorzeitig. Bloy zerreißt es das Herz. Sie akzeptieren aber die Ereignisse aus Gottes Hand. „Alles ist anbetungswürdig“, schreibt er resigniert im Unveränderlichen.
Nach rund zehn Jahren kehren sie wieder in die Nähe von Paris zurück. 1904 sind sie wieder in Paris – in Léon Bloys ureigenem Element. Ab 1905 verkehrt das Ehepaar Maritain erstmals im Hause der Bloys. Die Zweitauflage seines Essays Le Salut par les Juifs (Das Heil durch die Juden) widmet Bloy sogar Raïssa Maritain.
Dieses unbehagliche Opuskulum, das nur schwer verdaulich ist, wurde bereits im Jahre 1892 geschrieben und gedruckt. Es blieb aber während des Lebensabschnittes der Familie Bloy in Dänemark (1894–1904) irgendwo im Keller oder am Dachboden des Verlegers gelagert – und ging verloren. So gelangte es erst nach dreizehn Jahren in einer zweiten Auflage – Ende November 1905 und „an verschiedenen Stellen verbessert“ [?!] – an die Öffentlichkeit. Nur posthum im Wirbel der kommenden Holocaust-Jahre widerfuhr ihm das Glück, ob seiner derben Ausdrucksweise über „... die schmutzigen Trödler von Hamburg“ 1 berühmt zu werden. Somit hat diese Schmähschrift vermutlich mehr Leser aus dem Lager der Antisemiten und wohl kaum welche unter den Opfern der Konzentrationslager oder aber der Angehörigen der Hochfinanz gefunden:
... Ich sagte schon, man hat in allen Jahrhunderten und in allen Reichen der Erde ganz vergebens die Juden erschlagen, geröstet und ausgeraubt. Sie werden unweigerlich und übernatürlich von Gott selbst gezwungen, die abscheulichen Schweinereien zu begehen, die sie benötigen, um ihre Schande als ein Werkzeug der Erlösung zu beglaubigen.
... Sympathie für die Juden ist unbedingt ein Zeichen von schändlicher Gesinnung. Wer keinen instinktiven Widerwillen gegen die Synagogen hat, verdient nicht einmal die Achtung eines Hundes. Ich spreche das aus wie ein Axiom der Geometrie, ohne Ironie und ohne Bitterkeit.2
Im großen und ganzen handelt es sich dennoch – mit Hilfe einer verfänglichen Argumentation – um ein projüdisch empfundenes Dokument der Haßliebe des Autors für und wider die Juden, deren Weltmachtstreben sowie unbegrenzte Macht- und Geldgier zwischen Gottesmord und Auserwähltheit thematisiert werden. Bloy hielt seine eigene, leidenschaftlich überhitzte Sprache für eine prophetische Gabe und eigentlich für eine Paraphrase des elften Kapitels des Römerbriefes des hl. Paulus.3 Von der paulinischen Weisheit ist aber kaum etwas wirklich erkennbar. Was vorherrscht, klingt auf knapp 100 Seiten eher nach Wirrnis und Chaos, das in geistigem Kleinformat mit Majuskeln geschrieben ist.
Raïssa, geb. Oumançoff – als Adressat des Büchleins –, ist eine atheistisch gewordene Tochter russisch-jüdischer Immigranten, welche die Synagoge ihrer Väter weit hinter sich ließ. Sie war auch Kommilitone an der Sorbonne von Jacques Maritain (1882–1973), der seinerseits als liberaler Protestant und angehender Jungsozialist Bloys Verehrer und erfolgreicher Geistesverwandter werden sollte. Das junge Ehepaar konvertierte teils unter dem Eindruck von Henri Bergson, teils von Léon Bloy zum Katholizismus (1906). Der alte Bloy stand ergriffen der erhabenen Feier als Pate bei. Das Pärchen war ja erst im ersten Drittel der Zwanzigerjahre ihres Lebens. Sie hätten seine Kinder sein können. Um eine bewegende Geschichte handelt es sich also, wenn man bedenkt, daß es Maritain in seiner „neuen Christenheit“ 4 beschieden war, mit über 80 Jahren Frankreichs Botschafter im Vatikan und ein Promotor des Vaticanum II zu werden. Die Wurzeln der Krise, in der wir leben, reichen weit zurück und sind kreuzweise verwachsen!
Seit 1892 publizierte Bloy regelmäßig, insgesamt kam er auf etwa 30 Bände in seinem Lebenswerk. Den Romanen, Pamphlets, Tagebüchern und Autobiographien blieb aber der große Erfolg bis zum Schluß versagt. In seinem letzten Lebensjahr 1916 zieht er mit seiner Frau in das Haus, das ihnen der im Krieg 1914 gefallene Charles Péguy vermachte. Bloy starb im November 1917 im Kreise seiner Familie und seiner engsten Freunde. Sein Leben war keineswegs „beispielhaft“. Wir verdanken ihm aber eine „beispiellose“ Verherrlichung des materiellen Elends, das nicht immer mit der „Armut im Geiste“ der Bergpredigt koinzidiert, da es in den Elendsvierteln genauso viel Geiz und Gier gibt wie in den Palästen. Bloys Armut erblühte ebensowenig im „Geiste“, da sie allem Anschein nach selbstverschuldet und unklug inszeniert worden war.
Masochistische Persönlichkeiten suchen also inständig die widerlichsten Erfahrungen und erlauben sich oft ein lässiges, ungezügeltes Leben, da die Fährnisse in konfliktreichen Situationen geradewegs „griffbereit“ vom Himmel herabgeschworen werden können, in allen möglichen erdenklichen Formen. Freude wird abgelehnt und dafür Abneigung und Ärger gesucht. Daher suchen sie Beziehungen und Situationen, die zwangsläufig zu Enttäuschungen und anderen negativen Emotionen führen. Sie befolgen dieses Streben nicht nur unbewußt. Sie streben zum Teil auch willentlich danach. Hilfe lehnen sie ebenso ab, und wenn sie welche erhalten, sind sie undankbar. Sie suchen Leid und Schmerz um ihrer selbst willen, sozusagen l’art pour l’art. Masochistische Romantiker sorgen dafür, daß sie von der Ablehnung und Wut der anderen getroffen werden. Nicht unbedingt tödlich, aber fürs Jammern zureichend. Ihre Gedanken und Handlungen streben über das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiung auch unbewußt in eine solche Richtung. Bloys einzige richtige Wahl war die Hand seiner engelhaften, charaktervollen Ehefrau, die ihm 27 Jahre lang bis zum Grab die Treue hielt. Ohne sie wäre er sicherlich als Sandler oder Alkoholiker geendet.

Masochismus in der modernen Spaßgesellschaft: Thrill und Kick

- Sado-Masochismus gab es immer schon in der Geschichte. Dieses heiß-kalte Wechselbad findet in der Politik geradezu das Lebenselement. Was gesunde Menschen als unangenehm empfinden, wird von Masochisten geradezu lustvoll gesucht und gefunden. Und vice versa.
- Was heute als Psycho-, Action-, Mystery-, Polit-, Agenten- und Katastrophen-Thriller oder als Bungee-Jumping aus 150 m Höhe von einem Turm mit garantiertem Adrenalin-Kick gebucht werden kann, das war im alten Rom der Tier- und Gladiatorenkampf. In anderen Zeiten waren es öffentliche Hinrichtungen, Hexen- und Ketzerverbrennungen, Folter und dergleichen.
- Angst und Schmerz in kleinen Dosen – Thrill – kann auf Jahrmärkten und Vergnügungsparks auf Geisterbahnen, in Gruselkinos und Sado-Maso-Studios gekauft und nachempfunden werden.
- In  Fitneßstudios wird eine masochistische Kontrasterfahrung angeboten, indem auf Dutzenden Bildschirmen – von jedem Blickwinkel unweigerlich sichtbar – haarsträubende Leistungen von Extremsportlern gezeigt werden. Wildes Bergsteigen und Klettern, Ski- und Radfahren, Springen, Wellenreiten etc. in höchsten Gefahrensituationen und deren Bewältigung führen im trainierenden Publikum mit masochistischen Zügen zu einer speziell gewünschten Steigerung des Lebensgefühls, stimulieren den Nachahmungstrieb und geben ihnen einen anspornenden Kick.
- Nicht nur die Gebrüder Grimm wußten, daß man mit dezenten, aber doch Angst auslösenden Märchen sogar positive Effekte in der Erziehung von Kleinkindern erwirken kann.
- Und warum kann Hungerstreik als das letzte Mittel der Erpressung in Situationen von Recht- und Hilflosigkeit eingesetzt werden? Weil eine demonstrative, vorsätzliche Selbstschädigung selbst für einen hartgesottenen Feind unerträglich ist und unter Umständen Nachsicht und Amnestie auslösen kann.
Gerechtigkeit und effiziente ­Bekämpfung von Armut
- Daß die weltweite, materielle Armut weder ein unabwendbares Schicksal noch ein unlösbares Mysterium ist, sondern ein wirtschaftliches und technisches Problem, das vor allem mit Bildung, Kultur und Moral zu tun hat, haben heute, nach der Industriellen und Postindustriellen Revolution, die Produktionsfaktoren Güter, Dienste und Rechte mit einer kometenhaften Steigerung der Leistungsfähigkeit der Arbeit und der Kapitalakkumulation erwiesen. Wer dies aber mit gesundem Hausverstand wirklich ernst meint, der müßte natürlich mit dem masochistischen Lamentieren sofort aufhören und entsprechend handeln.
- Das verlangt jedoch ein mühsames Studium der Betriebswirtschaftslehre und der Nationalökonomie in Verbindung mit einer Vielfalt von technischen Disziplinen und Geisteswissenschaften: Historia magistra vitae (Cicero, De oratore, II 36), um keine Fehler und Illusionen zu wiederholen! Die Lernprozesse dafür können weder abgekürzt noch durch Migration nivelliert werden.
- Halbanalphabeten können sich an hochentwickelten Lebensformen kaum anpassen und bleiben ein Leben lang auf Almosen angewiesene, arbeitslose Bettler, die euphemistisch „Sozialfälle“ genannt werden. Wenn ungebildete, der Sprache und aller anderen hochgestellten Anforderungen unkundige „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus der Fremde unvermittelt ankommen, dann wartet erst recht eine Sinnflut von Frustrationen auf sie. So möge man etwa wie in einem Vexierspiegel vorstellen, wenn einer von uns in Saudi-Arabien oder Marokko ein neues Leben beginnen müßte: Ein programmiertes Fiasko wäre so gut wie unvermeidbar!
- Die unterentwickelten, armen Länder müssen alles daran setzen, ihren wirtschaftlichen, technischen und vor allem moralischen Nachholbedarf in situ zwar beschleunigt umzusetzen – schneller als dies in der Ersten Welt im Verlaufe der letzten 500 Jahre historisch möglich war –, können aber vor allem aus der Kette der moralischen Entwicklung kein Glied überspringen.
- Der Beistand der reichen für die armen Nationen kann nicht anders verlaufen als die Erziehung zur Freiheit: Jugendliche und Arme dürfen nicht verlassen, aber auch nicht verwöhnt werden. Für die gesunde Seele ist jeder kleine (freilich zumutbare, aber nicht gesuchte) Schmerz ein Indikator, wie der Zahnschmerz oder der Muskelkater nach einem harten Training. Die Zöglinge brauchen die Vermittlung von Bildung und Charakter für den Wettkampf und die Selbständigkeit im Leben. Freilich können Lehrer und Erzieher Charakter nur dann vermitteln, wenn sie selbst einen haben!
- Die Armut im Geiste ist ein anderes, ein spirituelles Kapitel, das wir in diesem kleinen Traktat zum Schluß nur flüchtig erwähnen können. Sie ist ein theologisches Problem der wahren, menschlichen Freiheit und Freigebigkeit. Einen Lösungsansatz vermute ich bei Thomas von Aquin,5 der die folgenden Sätze geprägt hat:

Ad liberalem pertinet emissivum esse.
Der Freigebige sei geneigt, zu spenden und auszugeben.
Er wird deshalb auch als weitherzig ­bezeichnet;
denn was weit oder breit ist, läßt vielmehr ausfließen, als daß es zuhält.
Und dasselbe besagt der Name freigebig.
Denn wer etwas vom Seinigen ausgibt, der macht sich
gleichsam von dessen Behütung und Verfügung frei und zeigt,
daß sein Herz dadurch nicht beengt oder beschränkt werde.

Nach dem hl. Thomas gehört also zu einem freien Geist (ad liberalem) das Loslassenkönnen (emissivum esse). Jeder gute Vater, Lehrer oder heilende Arzt ist somit ein Armer im Geiste, wenn er mit jedem Schritt und Tritt darauf hinarbeitet, sich selber überflüssig zu machen, um sein Kind bzw. seinen Zögling oder Patienten in die Freiheit entlassen zu können. Vorsorgliche Mütter können dagegen diesen Schritt der Emanzipation nie ganz nachvollziehen. Ihr Herzenskind bleibt ewiglich ihr Kindchen. Und nach der göttlichen Weisheit der Natur ist diese Rollenverteilung gut so – wenn sie nicht schablonenhaft erstarrt.

Anmerkungen

1 Léon Bloy: Das Heil durch die Juden. Karolinger Verlag 2002, S. 21.
2 Ibidem S. 33 f.
3 Ibidem S. 9.
4 Jacques Maritain: Humanisme intégral. Problèmes temporels et spirituels d’une nouvelle chrétienté, Paris 1936. Dt. Christlicher Humanismus, Heidelberg 1950. Cf. die kritische Darstellung dazu von Roberto de Mattei: Die „neue Christenheit“ Jacques Maritains. In: Der Kreuzritter des 20. Jahrhunderts: Plinio Corrêa de Oliveira. Verlag Österreichische Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum (TFP),Wien 2004, S. 100 ff., 106, 123, 142.
5 Die katholische Wahrheit oder die theologische Summa des Thomas von Aquin, deutsch wiedergegeben durch Ceslaus Maria Schneider. Verlagsanstalt von G. J. Manz, Regensburg 1886–1892. 12 Bände. Secunda Pars Secundae Partis. Quaestio 117. Articulus 2 Cf. www.unifr.ch/bkv/summa/kapitel633-2.htm und  www.unifr.ch/bkv/summa/buch1.htm

 
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