Archiv > Jahrgang 2016 > NO IV/2016 > Gewinnt die Reichsidee an Aktualität? 

Gewinnt die Reichsidee an Aktualität?

Von Dr. Hans-Georg Meier-Stein

Ein Abgesang

Seit wir es in der EU mit einer massiven Krise zu tun haben, die Erwartungen von einem „Vereinten Europa“ und die Realität weit auseinanderklaffen, ist das Gefühl, vor einer Zeitenwende zu stehen, wieder allgemein geworden. Nicht wenige beschleicht vielleicht sogar das diffuse Gefühl, einem Abschied oder gar einem Leichenbegräbnis beizuwohnen, denn man kommt nicht um die Erkenntnis herum, daß die verantwortungslose Asyl-, Währungs- und Finanzpolitik mittel- oder langfristig katastrophale Folgen haben wird, daß der Europa-Gedanke an Überzeugungskraft verloren hat und müde geworden ist und daß wir vor einem entscheidenden Paradigmenwechsel stehen.

Mit den aktuellen Reibungsflächen nehmen die beunruhigenden Aspekte zu, genauso wie die Desintegrationserscheinungen. Und mit den Querelen sind wieder Frontstellungen aufgebrochen, wie sie die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts erlebten: nationale Gegensätze, in der Vergangenheit oft übertüncht durch euphemistisches Zukunftsgerede. Auch die innenpolitischen Polarisierungen (an denen sich der Staat mitunter nach Kräften beteiligt) erinnern an die unseligen bürgerkriegsähnlichen Zeiten in der Spätphase der Weimarer Republik.
Die Tatsache, daß die europäische Integration und das ganze Finanzsystem „existentiell“ gefährdet (J. C. Juncker) sind, daß „von überzeugenden Lösungen kaum eine Spur zu erkennen ist“1 und daß eine mediokre Politikergeneration nur hilflos, unentschlossen und widersprüchlich laviert, haben zu einer allgemeinen Orientierungskrise geführt und zur erregten Auseinandersetzung mit der Frage „Zerfällt Europa?“. Diese zeitgeschichtlichen Grunderfahrungen haben verschiedene Alternativideen  aufkommen lassen, um dem erodierenden Europa einen neuen Orientierungsrahmen zu geben, aus dem ihm vielleicht neue Kraft zuwächst. Dies und die nationale Renaissance, die in vielen Ländern zu beobachten ist, haben rechte Denker dazu inspiriert, den alten Reichsgedanken zu reanimieren. Ob die Wiederaneignung der alten Reichstradition (unter welchen Vorzeichen auch immer) als heilende und lösende Alternative zur EU-Skepsis in Frage kommen kann, muß im Hinblick auf die heutigen Generationen, die auf einer ganz anderen Realitätsebene leben, freilich sehr bezweifelt werden.
Ideen brauchen, um zirkulieren zu können, auch Räume, wo sie aufgenommen und kommuniziert werden. Das waren seit Beginn der Neuzeit Universitäten, Akademien, Salons, Cafés, Ausstellungen, Theater, ein florierender Buchmarkt. Das alles sind Elemente einer stadtbürgerlichen Kultur. Und Ideen sind Spiegel einer Zeit. Sie entwickeln sich in einer bestimmten Zeitstimmung, wie etwa in den krisenhaften Zuspitzungen vor der Französischen und der Russischen Revolution mit ihren aufgeregten, nervösen, ja fiebrigen Zuständen. Auch die fahle Herbststimmung des Fin de Siècle vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer aparten Fäulnis war Quelle neuer politischen Ideen. Und das gilt ebenso für die Erschütterungen um 1930, ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise und den Demokratieverfall.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob das graue Siechtum der EU dazu angetan sein könnte, eine Fülle neuer und alternativer Perspektiven hervorzubringen. Aber das täuscht, denn eine Welt aus Monaden bzw. atomisierten Individuen, die sich in der Beschränktheit ihres privaten Wohlstands und Glücks Genüge tun und sich keinem belebenden höheren Interesse zuwenden, kann schlechterdings nichts Überfliegendes, keine großartigen und fruchtbaren politischen Konzeptionen hervorbringen, die auf eine begeisternde Resonanz stoßen könnten. Die Zeit bleibt befangen in dem unendlich abgestandenen, unausgelüfteten Muff der herkömmlichen Reflexkultur.
Die infolge der Krisis weitverbreiteten Unmutsgefühle und die labile Stimmung dürfen uns nicht dazu verleiten, anzunehmen, daß eine große Bewegung entstehen könnte, die das Reich zu einer großen politischen Frage machen könnte. Nur wenn das Alte noch stark genug lebt, kann es fruchtbar und wirksam gemacht und zu einer elementaren Kraft werden, kann es einen Erneuerungswillen erzeugen.

Die alten Götter sind gestürzt

Ideen brauchen Öffentlichkeit, um wahrgenommen zu werden, und sie brauchen ein aufnahmebereites und sensibilisiertes Publikum. Dann erst rufen sie kollektive Reaktionen hervor: begeisterte Zustimmung, Bestätigung, Zweifel, Ablehnung, Verachtung, verifizierende oder falsifizierende Haltungen. Manche Ideen werden emphatisch abgelehnt, ganz unterbunden oder verfallen tabuisierendem Verdikt, wie etwa die Geschichte der Großväter und ihrer Zeitstimmung. Es gibt eben Grenzen dessen, was in einer Epoche geäußert und gedacht werden kann, und die Reichsidee ist nun einmal überschattet durch die NS-Erbschaft. Noch etwas kommt hinzu:
Die Rezeption und politische Wirksamkeit von Ideen ist nicht zu trennen von den gesellschaftlichen Bedingungen, die in einem Kollektiv herrschen. Ideen existieren nicht für sich, sondern stets auch in einem kulturellen Kontext. Und nur in diesem Zusammenhang sind sie auch zu begreifen. Geist und Stil einer Epoche müssen zur Deckung kommen, wenn eine Idee politische Bedeutsamkeit haben soll. Große politische Ideen oder Ideologien und die Kunstwerke einer Zeit stehen in einem ursächlichen Zusammenschluß. In der Architektur wie in der Gartenkunst, in der Dichtung wie in der Malerei drückt sich eine politische Idee aus. Die Neo-Romanik und die Neugotik, bevorzugte Baustile im Wilhelminischen Kaiserreich, der historische Roman wie die Historienmalerei dieser Zeit machen auch Aussagen über die Reichsidee, genauso wie die  martialische Ordensburg Sonthofen  über die mentale Verfaßtheit  Deutschlands am Ende der dreißiger Jahre. Die  Betonarchitektur der Moderne und die exzentrische Unordnung der modernen Kunst geben eine ganz andere Auskunft. Immer ist es also ein ganzes Ensemble von Artefakten, die eine Idee konturieren oder umreißen. Eine Idee steht nicht völlig außerhalb der Zeit, wie das heute bei der Reichsidee der Fall ist.
Damit sich eine Idee durchsetzen kann, muß sie im Gedächtnis der Menschen immer lebendig sein. Und es müssen ein gemeinsamer geschichtlicher Horizont, ein Verstehenshorizont und ein verbindendes Grundgefühl da sein, wenn eine Idee einer Nation zugänglich sein soll. Es muß eine Konvention geben, die einer Idee kommunikative Bedeutung gibt, sie verständlich und plausibel macht. Aber der Bruch mit aller Tradition nach 1945 hat dazu geführt, daß der Reichsgedanke keine nennenswerte Substanz und Bindekraft mehr hat. An ein nationales Reich kann schon deshalb kaum gedacht werden, weil das Territorium drastisch reduziert ist. Und die Rückkehr zur religiösen  Begründung mit dem christlichen Ordo-Gedanken – wie von Otto von Habsburg in den 1980er Jahren ins Gespräch gebracht – ist in einer säkularen Zeit, die von Agnostikern bevölkert ist, sowieso undenkbar. Und sehr fraglich ist denn auch, ob der föderative Reichsgedanke, von Konstantin Frantz und seiner Schule als ein völkerübergreifendes Panorama entworfen, bei den benachbarten Völkern und Nationen noch die nötige Bindekraft hat, weil ihnen die Skepsis gegenüber einer deutschen Zentralmacht noch tief in den Knochen sitzt.
Es ist eine alte geschichtliche Erfahrung, daß nach tiefgreifenden historischen Umbrüchen, schweren Niederlagen oder Revolutionen die überlieferten Traditionen und Wertebegriffe verschwefelt und die alten Götter gestürzt werden. Die einst geachteten, ja geliebten  Gegenstände, Orte und Personen und die auf altem Herkommen aufbauenden Lebensformen und Bindungen werden dann in Schreckgespenster und Abscheulichkeiten transformiert, und mit der Vernichtung der alten Eliten wird all das, was sie hervorgebracht haben (sei es im Guten oder Bösen), als monströse Untaten diffamiert oder stigmatisiert.
Beispiele aus der Geschichte gibt es genügend: Wir denken an die Bilderstürmerei zur Reformationszeit, an den Fanatismus der Jesuiten in der Gegenreformation, an die Utopisten der Aufklärung und den mörderischen Radikalismus der aggressiven Jakobiner nach 1789, an die Besessenheit, mit der die Kommunisten in allen von ihnen unterworfenen Ländern nach 1917 oder 1945 das Bestehende und historisch Gewordene abräumten.  Da wäre auch auf die Kulturrevolution Maos hinzuweisen und die Vernichtungsorgien radikaler Islamisten, die sich sogar am Weltkulturerbe vergreifen. Es kommen bei solchen Ausbrüchen  auch immer die abstoßenden Seiten der menschlichen Psyche zum Vorschein: die Diffamierung und Stigmatisierung der Andersdenkenden, dumpfe Ressentiments oder tiefsitzende Gereiztheiten, massive Drohgebärden, die brachialen Akte auf den Straßen, Lust an Barbarei. Wir erleben das auch in unseren Tagen.  Und die Gewaltexzesse werden als Abrechnung mit der deutschen Vergangenheit in Szene gesetzt („Nie wieder Deutschland!“).

Ein Zusammenbruch mit einzigartigen Folgen

Die deutsche Niederlage war eine in Europa beispiellose Katastrophe. Es war nicht eine Niederlage wie bei Austerlitz, Waterloo oder Sedan 1870. 1945 ist sicher nur vergleichbar mit dem Untergang Karthagos oder irgendwelcher vorzeitlicher Großreiche am Euphrat und Tigris oder in den Urwäldern Mittelamerikas. Wie bei diesen geschlagenen archaischen Völkern wurde in Deutschland nach der Katastrophe das kulturelle Erbe planiert und das große Umdenken mit der Dekonstruktion der nationalen Identität durch alle Institutionen  hindurch in Gang gebracht. Das Alte galt in der BRD stets als total rückschrittlich und hatte „alle Reputation verloren“. Man setzte ganz auf das Neue und war im festen Glauben, daß der Fortschritt aus dem siegreichen Amerika kommt. Die USA hatten sich im Westen Deutschlands von vornherein durch die Instrumente der Kontrolle die Kulturhegemonie gesichert. Und der amerikanische Lebensstil entwickelte eine solche Suggestionskraft, daß sich die besiegten Deutschen ohne langes Besinnen ihm völlig unterwarfen und nur allzu bereit waren, an ein amerikanisches Zeitalter zu glauben (im Kalten Krieg gab es auch schwerlich eine Alternative). Der beginnende Wohlstand gab der Libertingesellschaft mit ihren verlockenden Reizen vermehrte Schubkraft und den Deutschen das Gefühl, einer neuen, besseren Art des gesellschaftlichen Seins entgegenzugehen. Zwar lagen in den 1950er Jahren die politischen Kontraste noch hart nebeneinander, aber die fortschrittlichere Form mit den Wunderleistungen der Wirtschaft war das Gegebene, hatte die Initiative, die beschleunigte Disposition, und wurde zur vorherrschenden. Die Kriegsgeneration, vor allem die Vertriebenen, standen noch fest auf dem Boden der Traditionen, hatten einen Bezug zur bürgerlichen Honoratioren-Demokratie und konnten eine Reprise des Nationalgedankens noch positiv empfinden. Aber die jungen Deutschen waren überzeugt von der Überlegenheit des Westens. Die inszenierte Jugendkultur und die Pop-Art mit ihrer grellen Affektation, mit Rock ’n’ Roll und „Bravo“, waren in den Fünfziger und Sechziger Jahren eine Kampfansage an das Hergebrachte. Auch in der Literatur der Nachkriegszeit gab es zunächst noch Konstanten, die sich vergangenen Idealen verpflichtet fühlten (Gottfried Benn, Hans Carossa, Gerd Gaiser, Hermann Hesse, Ernst Jünger, Agnes Miegel, Friedrich Sieburg), aber ab Mitte der 1950er Jahre verschaffte sich die junge deutsche Literatur der Moderne mit ihrem politisch-moralischen Engagement vermehrt Resonanz. Die amerikanische Einflußnahme war nach der zweiten Bundestagswahl 1953 im Schwinden begriffen, und das war ein Zeichen dafür, daß die BRD auf dem richtigen Weg war.
Die eigentliche revolutionäre Neuorientierung kam in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren und hat in einem rabiaten ideologischen Kampf alle gewachsenen Ordnungen „dekonstruiert“ und mit ihrer ruinösen Dynamik zutiefst in das Leben der Nation eingegriffen und ihr Gesicht verändert. All das, was einst die Innenansichten der deutschen Existenz und Identität ausgemacht hat – die literarische und ästhetische Bildung, die Nationalgeschichtsschreibung, die Erzählungen von Eltern und Großeltern als Wissensfundus, der für uns produktiv sein könnte – wurde infolge ideologischer Obsession diffamiert. In der Kunst und Architektur wurde das Häßlichkeitsgebot ausgerufen, und „die Theater wiederum tun sich längst als Feierabend-Pandämonien aus Perversion, Gewalt und Obszönität groß“, kommentierte Joachim Fest.2
Schon Anfang der 1970er Jahre war der „Ausstieg aus deutschem Kontext“ längst vollzogen, wie Hans-Dietrich Sander 1971 im „Criticón“ schrieb. Die reichsdeutsche Geschichtsschreibung, die ihr eigenes Pathos und ihre spezifische Ästhetik hatte und damit eine Erinnerungskultur begründete und insofern  identitätsstiftend war, wurde durch die Literatur der „Vergangenheitsbewältigung“, die Sozialgeschichtsschreibung und eine „antifaschistische“ Leitkultur auf breiter Front ersetzt, die alle ältere Geschichte in Verruf bringt. Das politische Denken hat sich abgewendet von der Idee der Nation hin zu einem globalen Humanitarismus mit der rührenden Utopie von einer harmonisch vereinten Menschheitsgesellschaft als einem fernen und sentimentalen Ideal und einer Art neuer Metaphysik. Das war und ist der Orbit der BRD und das Zukunftstableau der Deutschen.

Der antifaschistische Gegenmythos

Die masochistische Kultivierung von Schuld und Selbsthaß, die „nationalsuizidale Geschichtsschreibung und das unbarmherzige Verurteilen der eigenen Nation“ (Ulrich Schacht) erreichen über die Massenmedien eine breite Öffentlichkeit und haben eine anhaltende Wirkung, denn das das oft genug Wiederholte setzt sich beharrlich fest. Diese Fixierungen bestimmen das politische Klima im Land, und ein Ende ist kaum abzusehen.
Es gibt in diesem Metier eine abgehobene Klasse von Zeithistorikern, Literaten, Künstlern, Journalisten, Rezensenten  und Kulturfunktionären, die linken Anfechtungen unterliegen und der Linksintelligenz der Weimarer Republik nahestehen. Für diese – so Karl Dietrich Bracher – ist kennzeichnend: „Fortschritt, Modernismus, Experimentieren“, „ein Vorherrschen von Amoralismus in Kunst und Literatur“; sie sind „insgesamt und besonders betont international orientiert, verletzend antibürgerlich“, mehr noch: sie verhöhnen jede „Manifestation patriotischer Gefühle“.3
Es sind wie man sieht, alte Denkmuster und Stimmungen, die mit viel Lärm in die BRD zurückgekommen sind. Und es gibt einen Chor von Wortführern und Bedeutungsträgern, die aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung Gesinnungen und Konsens produzieren, damit multiplikatorische Wirkungen entwickeln, einwandfreie Haltungen und Meinungen präsentieren und schließlich mit alttestamentarischer Strenge darüber wachen, daß kein störendes Element die doktrinären Zwangsvorstellungen durchkreuzt.
Der Schuldkult hat längst auch seine staatlich festgeschriebene, quasi-religiöse Ästhetik mit Gedenktagen, Lichterketten, Betroffenheitskundgebungen, Schweigemärschen, Bußritualen, Menschenketten, mythischen Stätten usw. Das hat freilich viel Ähnlichkeit mit den Massenkundgebungen in totalitären Staaten und dem mythisch-religiösen Zeremoniell in archaischen  Kulturen, das von rigorosen Priesterherrschaften ausgerichtet wurde. Ist es so falsch, in dem monströsen Schuldkult die Form eines umgepolten Chauvinismus zu sehen? Der Verdacht wurde längst geäußert. So hat zum Beispiel Joachim Fest angemerkt: „Manchmal denkt man, die fortgesetzte Aufgebrachtheit der Deutschen über die Hitlerjahre könnte weniger mit dem moralischen Entsetzten und der begriffenen geschichtlichen Lektion zu tun haben, als behauptet wird. Vielmehr macht sich darin der Versuch einer geistig auf vielen Gebieten  unproduktiv gewordenen Nation geltend, wenigstens durch Hitler und die Greuel jener Jahre einige Aufmerksamkeit zu erregen. … Oft genug klingt sogar ein pervertierter Stolz darüber durch, wessen sie fähig waren. Bezeichnenderweise ist der Ort dieser Selbstanklage fast durchweg die Vorderbühne, wo das Spektakel zu Hause ist: in den Pamphleten, Fernseh-Shows, in den Theatern und den übrigen Foren des routinierten Kulturbetriebs sind sie ein Vorzugsthema.“4
Es hat sich hierzulande also längst ein triumphierender, „antifaschistischer“ Gegenmythos zur Nationalgeschichtsschreibung etabliert, und es ist kaum zu erwarten, daß sich an den Grundanschauungen etwas ändert, denn der Zustimmungszwang zur Zeitaktualität ist außerordentlich groß, und das heißt auch: zum technisch-elektronischen Progreß, zur Markt- und Konsumwirtschaft. Und dementsprechend gering ist das Interesse an retrograden Gesinnungen und Nationalgeschichte. Es sieht ganz danach aus, daß im Bewußtsein der Deutschen die Reichsgeschichte ganz abgesunken und durch die Asche des Dritten Reiches sowieso kontaminiert ist.

Konsumgesellschaft

In dem sich permanent beschleunigendem Prozeß von Innovation, Produktion und Konsumation ist nichts mehr von dauerhafter Bedeutung. Die versachlichte und durchrationalisierte technische Welt, die keinen Moment stillsteht, verlangt nach Menschen, die leicht verfügbar, austauschbar und „flexibel“ sind – und uninspiriert von konservativen Grundintentionen. Nichts darf beim Alten bleiben oder stillstehen, alles muß ständig in höchster Bewegung sein, sich der Unabänderlichkeit der Prozesse unterwerfen. Der Stil einer kultivierten Bürgerlichkeit oder geistigen und künstlerischen Elite stört, Vormodernes ohnehin. In diesem System reduziert sich alles aufs Geschäft. Max Horkheimer, der eine exzellente Kritik der westlichen Kulturindustrie geschrieben hat, hält darin fest: „Die Industrie ist an Menschen bloß als ihren Kunden und Angestellten interessiert.“5 „Als Angestellte werden sie an die rationale Organisation erinnert und dazu angehalten, sich ihr einzufügen. Als Kunden wird ihnen die Freiheit der Wahl an menschlich-privaten Ereignissen sei’s auf der Leinwand, sei’s in der Presse demonstriert.“6 Alle gesellschaftliche Teilnahme und Kommunikation läuft über Konsum. Wenn man in der Erlebnisgesellschaft dabei sein und mitreden will, muß man ein gewisses Basiswissen haben von den Trends, der Mode und Musikszene, von Sport und Autos. Und der Markt hält die Statussymbole bereit, nach denen der narzistische Drang nach Selbstinszenierung verlangt. Medien und Werbung organisieren das passende Lebensgefühl. Die Geschmacksstile, die Wohn- und Lebensformen sind internationalisiert. Alexis de Tocqueville und Aldous Huxley haben diese konforme und bequeme Welt vorausgesehen. Zudem sind all die Dinge, die uns umstellen, auf unser Bewußtsein wirkende Mächte: die Einkaufszentren, Gewerbekomplexe, die Fertigbauhallen, die in die Landschaft geklotzt sind, die Fernschnellstraßen, die Bürohochhäuser als Machtsymbol der Banken und Versicherungen.
Im gleichen Maß, in dem die sich jugendlich und unbeschwert gerierende Konsumgesellschaft alle Güter, Verkehrsverhältnisse, Funktionsbestimmungen und Erlebnisse kompatibel und variabel macht und alle Zustände und Formen der Allgemeinheit unter dem Zwang zu immer neuen Effekten ständig dekonstruiert, neu kalkuliert, konstituiert, konstruiert, beliebig kombiniert und wieder aufhebt, verlieren alle konservativen Wertbegriffe, Ordnungsvorstellungen und Handlungsweisen, Lebens- und Denkintentionen an Überzeugungskraft: die Fragen des geschichtlichen Ursprungs und der historischen Apriori, der Genealogie, die vortheoretischen und irrationalen Bezüge, die aus langer Erfahrung angesammelten Gefühle und Denkströmungen, die sagen, was sinnvoll und ratsam ist, die Anerkennung ästhetischer Gesetzmäßigkeiten, die Überlegungen und Denkstandorte, die auf geschichts- und naturphilosophischen, pantheistischen, romantischen oder mystischen Grundlagen aufbauen, zuletzt der Kampf um Residualbestände. All das ist verloren in einer Welt, in der alles permanent offen und allen Experimenten und Spielarten des Rationalismus verfügbar ist.
In seiner brillanten Studie über den Konservatismus hat Karl Mannheim gezeigt, daß die Denkfigur der Moderne eine willkürlich-kombinatorische ist (im Gegensatz zum konservativen Denkstil, der das konkrete geschichtliche Werden mit Empathie verfolgt, in stileinheitlichen organischen Gemeinschaften denkt und für den alle Freiheiten in einem höheren, verpflichtenden Ganzen eingebettet sind). Alles was die moderne Zukunftswerkstatt behindert – d. h. was nicht profitabel ist, die totale Ökonomisierung aller Lebensbereiche hemmt – muß eliminiert werden: Familie, Heimat, Staat, Nation, Religion. Der Prozeß wird durch die elektronische Kommunikation nur noch extrem verstärkt und beschleunigt. Entstanden ist eine Welt der Beliebigkeiten in einem Meer von Möglichkeiten: Individualismus mit „Selbstverwirklichung“, uneingeschränkter Mobilität, unendlicher Konsum, Multi-Kulti-Vergnügen, grenzenlose Kommunikation, Wahl der Sexualität, Maximierung des Profits. Produkte, Marken, Events, die Waren- und Kaufhäuser mit ihren künstlichen Erlebniswelten bieten viele Identifikationsmuster an. Die Konsumtempel sind die Sinnstifter der Zukunft, wie die Autostadt Volkswagen, wo die Mythologie der Konsumgesellschaft in Szene gebracht wird. Schon Hans Sedlmayr klagte, daß nach der  Religion und der Kunst auf der untersten Stufe der kulturellen Entwicklung des Menschen die Vergottung der Maschine getreten ist.

Keine Restauration möglich

Daß unter diesen Umständen die großen politischen Entwicklungslinien auf eine Restauration des Reiches hinauslaufen, kann schwerlich behauptet werden. Es fehlt einer Wiederherstellungsidee die Suggestionskraft, die politisch-historische und literarisch-philosophische Begründung und eine glaubhafte, in die Zukunft weisende Substanz, woraus sich vielfache Energien schöpfen ließen. Zudem haben die Mehrheit der Deutschen und die politische Klasse in ihrer Seins- und Geschichtsvergessenheit keinen nationalen Impuls, kein visionäres Ziel und kein einprägsames Heldenepos der Vergangenheit, das einen historischen Weitblick eröffnen würde und zur naheliegenden Erkenntnis führen könnte, daß in jedem Zeitalter auch die Möglichkeit des Neubeginns liegt. Die Reichsidee ist für die Gegenwart verloren wie das Nibelungengold im Rhein. Die Deutschen haben das Bedürfnis nach einer versöhnten, bis in die letzten Winkel pazifizierten und harmonisierten Welt des Wohlstands, und dies erklärt auch die vorherrschende Neigung zur duldenden Passivität, vor allem unter den jungen Leuten der Spaßgesellschaft. Zudem ist das Selbstgefühl der Deutschen durch den kultivierten Selbsthaß bestimmt und durch eine einzige große nationale Psychose.
Historisches Interesse knüpft sich im Allgemeinen an politische oder geschichtliche Ereignisse, an außerordentliche Taten und Menschen, an die Reize der „Interessantheit“. Es ist motiviert durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und begleitet von besonderen Gefühlslagen, Imaginationen und assoziativen Nachwellen, die das rein Faktische phantasiereich, mit Farbenspiel, Harmonien und Kontrasten beleben, gleichgültig, ob das Erzählte nun belegt, nur vage oder fragwürdig überliefert ist. Die kausalen Zusammenhänge sind weniger wichtig, wenn die historische Erzählung mit Empathie gestaltet ist, wenn auf die Geschehnisse und geschichtlichen Gestalten bestimmte Gefühlsbetonungen projeziert, wenn besondere Bedeutsamkeiten akzentuiert werden, die einen Anknüpfungspunkt an die Gegenwart erlauben. Wenn von der Historie ein unwiderstehlicher Sog ausgehen soll, dann muß das gesamte Material auf einen zustimmungsfähigen Interessensmittelpunkt hin gelenkt werden, z. B., daß kulminierende Perioden und Zuspitzungen, Höhe- und Tiefpunkte, Stufen der Weiterentwicklung oder des Tragischen herausgearbeitet werden, daß den einzelnen Tatsachen wie dem Gesamtgeschehen ein spezifischer Sinn unterstellt wird und den Gestalten der Geschichte bedeutsame Gefühls- und Willensregungen zugeschrieben werden. Erst dann kann Reichs- und Nationalgeschichte zu einem begeisternden Groß-Mythos, zu einer ehrwürdigen Tradition werden – und zum faszinierenden Deutungsmaterial, das auch der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart sein kann. Aber es hilft wenig, wenn unsere Epoche dem schieren Zweckrationalismus huldigt und kein enthusiastisches historisches Erkenntnisinteresse hat. Und bezeichnend für die geschichtliche Agonie ist, daß der Verlust der Ostgebiete nicht einmal Phantomschmerzen hinterlassen hat.

Der verlorene Osten

Wenn von der Wiederherstellung des Reiches gesprochen wird, dann muß auch eingewendet werden, daß wir gar nicht mehr die Territorien dazu haben. Pommern, Preußen, Schlesien und Böhmen waren Stammländer des Alten Reiches und „ein wichtiges Reservoir seines beharrenden Wesens“ (Hans Jürgen Syberberg).7  Der Osten Deutschlands: Das waren wunderbare Landschaften voll Zauber und Reiz und einer reichen Kultur von Jahrhunderten; hier hatte sich ein wesentlicher deutscher Narrativ entwickelt, weitgehend verschont von den Greueln des Dreißigjährigen Krieges und fernab von der Hektik der Großstädte im Westen. Willens- und charakterstarke, pflichtbewußte Menschen lebten hier. Man sieht das an den Gesichtern auf alten Fotographien. Das geschichtlich Gewachsene, das sich bewährt hatte, wurde auch bewahrt; ohne zwingenden Grund bedurfte es keiner Veränderung. Es gab im alten Hanse- und Ordensland eine Bürgerschaft mit hohem Gemeinsinn, ein Beieinander der Menschen in den stillen verträumten Kleinstädten, ein freundliches und überschaubares Stadtwesen mit vertrauten, poesievoll-melancholischen Bezügen, das dennoch offen auch für Neues war. Warum sonst blieb Kant zeitlebens in Königsberg?
Das ländliche Leben war geprägt von natürlichen und ursprünglichen Ordnungen. Das Leben der Bauern, Viehzüchter, Sammler, Fischer und originellen Handwerker in Ostpreußen war ein Leben in der Nähe zu Wäldern und Weiden, Seen und Küsten, alten Alleen und Sandwegen, im Einklang mit den Jahreszeiten, Wind und Wetter und dem Vogelzug; ein Leben mit Gelassenheit, innerer Ruhe, Bedacht und Weile und unendlichem Fleiß. Wir blicken auf Bilder einer reichen ländlichen Kultur von ehrwürdiger Schönheit und voll Poesie.
Und das reiche ostdeutsche Geistes­leben! Schlesien hat die deutsche Mystik hervorgebracht und galt als das „Land der 666 Dichter“ (Detlev von Liliencron). Der ostdeutsche Geist hat auch das Zentrum Berlin in Literatur und Philosophie, Kunst, Musik und Wissenschaft um Dimensionen bereichert, die deutsche Kollektivseele immer wieder neu inspiriert und imprägniert. Es wäre vermessen, hier an alle Namen erinnern zu wollen, aber im Nachdenken über diese unvergleichliche Erbschaft drängt es uns doch, einige bedeutende Köpfe  zu nennen: Kopernikus, Herder, Hamann, E. T. A. Hoffmann und natürlich Kant, Käthe Kollwitz, Agnes Miegel, Wiechert und Sudermann und die Dohnas, dann der schlesische Mystiker Jakob Böhme, Martin Opitz, Andreas Gryphius, der Architekt Carl Gotthard Langhans, dem wir das Brandenburger Tor verdanken, Friedrich Schleiermacher und Joseph von Eichendorff, Hermann Fürst Pückler-Muskau, eine ganz bizarre Gestalt, der die Park- und Schloßanlagen von Muskau und Branitz hinterlassen hat, schließlich Gustav Freytag und Gerhard Hauptmann. Es wäre gewiß eine falsche oder unvollkommene Perspektive, sich den Horizont eines neuen Reiches auszumalen ohne tiefes Empfinden und ohne Geschichtsleidenschaft für diese prägenden Räume und Bilder und ohne Reflexionen über deren Wahrheit und Schönheit und tausend Rückständigkeiten, von denen gerade die Suggestionen ausgehen. Aber wie kann man bei diesem Rückblick in die Geschichte an eine Rückgewinnung der alten Gebiete denken, die in der heutigen Staatenwelt kaum zu machen ist!
Auch im Westen Deutschlands blieben die Gewohnheiten, Traditionen und altertümlichen Schönheiten bis in die fünfziger Jahre erhalten. Die Kulturräume waren noch seelische Kraftfelder der Nation. Bei Ricarda Huch wurde der Kosmos der pittoresken Kleinstädte in „Lebensbildern“ sehr einfühlsam beschrieben. Aber nach dem Bombenkrieg kamen die Abrißwut und die nivellierende Formlosigkeit der neuen kubischen Betonarchitektur, der achtlose und interesselose Umgang mit historischen Konstanten und Residuen und ihrer zauberhaften Ästhetik, und das hat die Physiognomie der Städte verändert. Und schließlich hat die totale Vernutzung viele Natur- und Kulturlandschaften zerstört. Wie sollen sich in einer kulturverarmten und in einer der Konsum-, Verkehrs- und Industrielogik unterworfenen Welt, in der das Häßliche dominiert, ein neues ästhetisches Formbewußtsein, befreiende Gedanken und Empfindungen entwickeln, die zu neuen kultivierenden Bemühungen und zu einem Aufbruch mit einem neuen geistigen Leben und zu  dem Verlangen führen, die Welt anders und besser zu gestalten? Ist es nicht eher so, daß diese Verwüstungen des Lebensraums“ (Konrad Lorenz) zu einer „ästhetischen und ethischen Verrohung des Menschen“8 geführt haben? Es gibt nicht mehr „das Geheime Deutschland“ von Stefan George und Ernst Kantorowicz, auch nicht „das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ des Hugo von Hofmannsthal, das dem Deutschen den Rücken stärken könnte. Und es ist bezeichnend, daß es kein einziges wirklich bedeutendes literarisches Werk oder Kunstwerk, keinen zutiefst eindrucksvollen Film, kein deutsches Epos – vergleichbar mit Tolstois „Krieg und Frieden“ – gibt, das die deutsche Tragödie des 20. Jahrhunderts mitreißend gestaltet.

Eine Revolution wird nicht stattfinden

Es wird unendlich schwer sein, nach dem zerrissenen Zusammenhang der Nation und dem radikalen Kulturabbruch wieder einen allgemein respektierten und unangefochtenen Grund zu schaffen, zu einem verpflichtenden Gemeinsinn zurückzufinden und so die Voraussetzungen zu schaffen für den Neubau einer geschichtsstolzen Nation. Dazu bedürfte es einer Revolution der Denkformen und einer Rückkehr zur konservativ-bewahrenden Denkfigur. Wie soll das möglich sein bei der atemberaubenden Beschleunigung der Lebensverhältnisse! Der Deutsche ist heute bis in alle Poren seines Bewußtseins ein flexibler, sich weltoffen gebender Konsumententyp; „der Bismarck-Deutsche ist längst ausgestorben“, merkte Karl Heinz Weißmann an. Die Deutschen fühlen sich heute als Bewohner von Wirtschaftsstandorten und richten ihren Blick auf die berufliche und private Perspektive. Zudem ist das öffentliche Leben durch Konsum und Freizeit weitgehend entpolitisiert. Die Generationen nach 1968 sind durch die Popkultur und ungezählte Subkulturen sozialisiert und das demontiert jegliches Interesse an deutschen Geschichtsmythen. Die geistige Kraft der Reichsidee als einem politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Gegenentwurf zur Moderne beruhte auf reichen Geschichtsressourcen, auf einem Denken in weiten historischen Dimensionen, in geschichtlich gewachsenen Lebensräumen und Lebenskreisen, auf dem alten bewahrend-seinsverbundenen Denkstil. Aber dieser hat seine Anziehungskraft verloren, weil die Existenzgrundlagen, Lebensentscheidungen und Gefühlslagen der Deutschen heute auf ganz anderen Voraussetzungen beruhen.
Nun hat freilich die massive wirtschaftliche und politische Krise in Europa zu allgemeiner Verstörung und zu Mißtrauen geführt. Der Gärungsstoff wird mit dem Lauf der Ereignisse zunehmen und  mit ihm der Unmut und die Mobilisierung von Widerstandskräften. Der Anteil derjenigen, die der BRD mit Überzeugung anhängen, ist deutlich geschwunden. Wie überhaupt Europa als einziges großes Geschäftsmodell ohne jede höhere Sinnstiftung inzwischen in Frage gestellt wird. Eine feindliche Stimmung ist in fast allen Ländern unstrittig, auch weil sich die Völker den Direktiven und dem Zustimmungszwang aus Brüssel immer mehr widersetzen. Das nationale Aufbegehren und die Besinnung auf vitale Interessen der eigenen Nation hat natürlich auch einen Grund darin, daß es ein europäisches Gesamtbewußtsein nie gegeben hat.
Zwar sind also infolge der sich zuspitzenden krisenhaften Verhältnisse die Deutschen spürbar auf Zurückhaltung gegenüber dem politischen Establishment und den etablierten Medien gegangen, und die Unmutsstimmungen, ja sogar Angstgefühle, das Dasein könnte bedroht sein, haben in der Öffentlichkeit und bei den Wahlen ihren Ausdruck gefunden (was die Machthaber dazu veranlaßt hat, mit allen agitatorischen Mitteln und juristischen Möglichkeiten gegen den sich formierenden Protest vorzugehen), aber man geht zweifellos zu weit, wenn man annimmt, daß die vor sich hintaumelnde BRD bei verschärften Bedingungen und fortdauernden Unwettern sich in Richtung Volkserhebung bewegt, daß bei der politischen Klasse vielleicht schon das Gespenst eines Volksaufstandes um sich geht. Riskanter Übermut ist den Westdeutschen fremd, man ist eher bedacht auf Sekurität. Und überhaupt haben sie seit der amerikanischen Umerziehung nach dem Krieg aufgehört, sich als selbständige Kraft zu empfinden. Die geschichtliche Bilanz, die sie gezogen haben, ist die, nie wieder Machtpolitik zu betreiben. Die Hochgefühle, die einige nationalrevolutionäre  Geister verspüren, wenn sie daran denken, daß am Ende der abgelaufenen Epoche der BRD sich der anschwellende Zorn in einer befreienden nationalen Revolution entladen könnte, zeigen, daß sie ihre eigenen euphorischen Erwartungen auf die Stimmungen im Volk projizieren.
Zudem hat der Bewegungsablauf in der Geschichte gezeigt: Eine völlige Rückwendung hat es in der Weltgeschichte nie gegeben. Aber wenn ein großes geschichtliches Ereignis einmal seinen Anfang genommen hat, dann läßt sich nie konkret sagen, was am Ende dabei herauskommt. Das Finale ist immer unkalkulierbar. Das zeigen der Fenstersturz von Prag und das Attentat von Sarajewo genauso wie die Russische Revolution, der Kriegsbeginn 1939 und der von den Amerikanern mit viel Siegesgewißheit und der ganzen Präzisionsmechanik ihrer Rüstungstechnik im Nahen Osten losgetretene Krieg. Die Dinge bekommen sehr schnell eine nicht mehr zu steuernde Eigendynamik. Aber eines kann man mit Gewißheit sagen, nämlich daß in einer Revolution immer brachiale Instinkte losbrechen; Neid, Gier, wütender Haß, Brutalität, Wahnsinn und Irrwitz treten sinnlos zerstörend hervor, und dem folgen die Bilder geplünderter Häuser und Geschäfte, ausgebrannter Autos, blutender Menschen und bestialischer Selbstjustiz.
Wenn eine Entfremdung zwischen Volk und Regierung eingetreten ist, dann ist eine innere Neuordnung fällig – das forderte Max Weber nach dem Ersten Weltkrieg. Aber das gegenwärtige Deutschland hat nicht das Personal, das für eine Erneuerung stehen könnte. Unabdingbar wären kraftvolle und mutige Persönlichkeiten, die sich der Staatsräson und einem im Wesen und in der Geschichte der Nation begründeten Handeln verpflichtet fühlen,  zum Wohl und Nutzen derselben. Und dabei wären auch an sie Maßstäbe Machiavellis gebunden, der Politiker sollte Löwe und Fuchs sein, sich einer kaltblütigen und listenreichen Taktik bedienen, und die Staatsräson sollte seine oberste Handlungsmaxime darstellen. Aber all dies liegt mediokren Karrieristen  unendlich fern, die über die kurze Bahn des allernächsten Vorteils nicht hinausdenken. Deren Auftritt ist oft genug ganz einfach nur peinlich. Empörend vor allem ist bei vielen das fehlende Unrechtsbewußtsein. Die Loyalität der Politiker gilt heute den Parteien, nicht dem Staat, dessen Möglichkeiten und Befugnisse durch internationale Netzwerke, transatlantische Denkfabriken, globale Konzerne, Banken und die anonymen Großbürokratien der EU-Instanzen ausgehöhlt werden. Die Feinheiten diplomatischer Künste, die Bismarck noch virtuos beherrschte, sind unter diesen Bedingungen völlig verkümmert. Konrad Adenauer war tatsächlich der letzte Kanzler und Außenpolitiker, der deutsche Interessen noch tapfer verteidigt hat und den Forderungen der anderen energisch entgegengetreten ist. Hans-Dietrich Sander hat gewiß recht, wenn er von der Notwendigkeit spricht, eine neue Elite aufzubauen. Aber das wirft die Frage auf, welche Voraussetzungen dafür überhaupt gegeben sind.
Die Kanzler dieser Republik, die auf eine besonders lange Regierungszeit zurückblicken können, stehen nicht im Ruf gezielter Nachwuchsförderung. Schlimmer indes: Die traditionellen Institutionen  und Eliten sind geschwächt, nämlich die Universitäten, die Berufsdiplomatie, das Offizierskorps, der Adel, das Großbürgertum. Deutschland hat keine Aristokratie und schon gar keine Prätorianergarde. Die Zustände, die an den Tag getreten sind, lassen keine Zweifel am Niedergang unserer Nation. Sie hat ihren unvergleichlichen Charakter, ihre Gedankentiefe und Phantasie, Inspiration und Poesie, ihren Vorrat an Bildern, ihr Potential an Emotion und „ihr Sittengesetz“ (Botho Strauß) verloren. Ihre eigentümliche Kraft ist erschöpft und findet in der Welt kein Echo mehr. Und es gibt bei der herrschenden Geschichtspolitik keine kollektiven Erinnerungen mehr, aus denen sich Mut und Kraft gewinnen ließen.
Massendemokratie und Parlamentarismus leisten der Mittelmäßigkeit Vorschub, so der einstige österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer.9 Und Hannah Arendt stellte fest, daß die monströse Verwaltungsmaschinerie moderner Staaten Entscheidungs- und Einsatzfreudigkeit, geistig-dynamische wie überhaupt spontane Tatkraft, Tüchtigkeit und Kreativität und schließlich die Entwicklung von Talent eher behindert als befördert. Bestätigt  wird dieser Befund  durch unsere Feststellung, daß es auch keine juvenile Avantgarde mehr gibt, daß es der Jugend allemal an Protest  und idealistischem Aufschwung fehlt. Aber gerade weil dieses System nur utilitaristische Durchschnittlichkeit zuläßt und immer wieder neu produziert, hat es ein außerordentliches Beharrungsvermögen.
Auch die Besinnung auf „die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ von Max Weber hilft uns wenig weiter, weil jede durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts desavouriert ist.

Der Niedergang Europas

Die Agonie des deutschen Abschieds allein der deutschen Tragödie und der Kapitulation zuzuschreiben, wäre indes falsch. Sie ist auch Teil des europäischen Verfalls. Der Niedergang Europas hat weit zurückliegende Ursachen und wurde schon von Adalbert Stifter, Jakob Burckhardt, Friedrich Nietzsche, von Dostojewski, Gogol, Tolstoi und Nikolai Berdjajew, von Paul Valéry, Miguel de Unamuno und Ortega y Gasset beklagt. Vielfach wurde die Krankheit Europas als eine Folge des Niedergangs des Christentums gesehen, so etwa bei Novalis, Unamuno, Dmitri Mereschkowski und sogar Franz Werfel; dem Verfall des Christentums folgten Atheismus und Materialismus, Relativismus  und Nihilismus und damit einher ging die Erosion eines differenzierten und kunstvollen tradierten Wertgefüges. Nach dieser Abräumung konnten sich die Intellektuellen als neue meinungsbildende Klasse mit der ihnen eigenen arroganten Selbstgerechtigkeit etablieren. Aber Selbsterkenntnis ist nicht weit verbreitet, und schon gar nicht ist den Intellektuellen ihr eigenes Schuldigsein bewußt. Aber es gab doch bedeutende Stimmen, die sich sehr besorgt äußerten, etwa Romano Guardini und Max Scheler oder Ortega y Gasset, der entsetzt   war über die „Vorherrschaft der Masse und  des Gewöhnlichen“. Alexander Solschenizyn, der sich als russischer Konservativer den analytischen Blick für den gesellschaftlichen Zustand des Westens bewahrt hatte, hat festgestellt: „Die westliche Zivilisation ist krank“, in ihrer „Gottlosigkeit“, „Gewinnsucht“ und dem „Streben nach Glück als einzigem Lebensinhalte“, mit ihrem „offenen Bekenntnis zur Feigheit“ und „das Schlechte zu tun“. Benedikt XVI. sprach angesichts der westlichen Dekadenz von einer „Kultur des Todes, die sich als Vitalität maskiert“. Besorgt über den Verfall Frankreichs und Europas äußerten sich Jean Baudrillard, Alain Finkielkraut und Eric Zemmour. Und Marc Stayn schrieb von der „Selbstauslöschung jener Völker, die die moderne Welt formten“.10
So bleibt am Ende nicht viel mehr, als eine bittere Verlustrechnung aufzumachen. Wer indes seine Hoffnungen darauf abstellt, daß das künftige Drehbuch von der Reichsidee inspiriert und vielleicht geschrieben wird und alle Anzeichen dafür sammelt, sollte sich aber auch über das Gesetz der Nichtwiederholbarkeit des Gleichen im klaren sein.

Anmerkungen

1 FAZ vom 21. Oktober 2016.
2 Die schwierige Freiheit, Seite 70.
3 Zur Politik im 20. Jahrhundert, Seite 169.
4 Im Gegenlicht, Seite 142/143.
5 M. Horkheimer/Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Seite 155.
6 ebd.
7 Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege, Seite 100.
8 Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, Seite 28.
9 In einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“.
10 In: „Die Welt“, 9. November 2006.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com