Archiv > Jahrgang 2016 > NO II/2016 > Von Dissidenz und Emigration 

Von Dissidenz und Emigration

Von Benedikt Kaiser, M. A.

DDR-Schriftsteller im Typenporträt

Der politische Fokus in der Bundesrepublik Deutschland verlagert sich – zumal in patriotischen Zusammenhängen – seit Jahren stärker auf jene Gebiete, die immer noch, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Beitritt der DDR zur BRD, als „neue Bundesländer“ bezeichnet werden. Dies betrifft vor allem Sachsen als dem Stammland der heimatbewußten Revolte rund um Pegida, aber infolge des Siegeszuges der Alternative für Deutschland (AfD) auch Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und, spätestens zur Wahlzeit im September 2016, auch Mecklenburg-Vorpommern. Allerdings ist das Mittel- oder Ostdeutschland-Bild vieler Konservativer, die selbst nicht aus diesen Gebieten kommen, immer noch von einer westzentrierten Oberflächlichkeit gegenüber der Geschichte dieser heute politisch so wichtigen Region gekennzeichnet.

Man honoriert die Resistenz der Ostdeutschen gegenüber Gesellschaftsexperimenten wie Multikulturalismus, lobt den Mut, den Bürgerprotest auf die Straße zu tragen, und sieht – durchaus mit Recht – die Minimalchance auf eine gesamtdeutsche Renaissance aus dem Osten her entstehen. Ganz entscheidend ist, daß die Menschen in der ehemaligen DDR am eigenen Leibe erfahren haben, daß kein politisches und ökonomisches System die Ewigkeit für sich reklamieren kann, mag es auch eine Einheitsfront der Medien und staatlicher Organe hinter sich wissen. Anders als im bürgerlich-behäbigen Westen weiß der Ostdeutsche folglich, daß ein 1989/90 gegen jeden Widerstand des etablierten Machtkartells möglich ist.
Was in der aktuellen Situation zu kurz kommt, ist die Betrachtung der DDR-Geschichte als Teil der deutschen Nationalgeschichte1 und als Vorläufer zu heutigen Entwicklungen. Deutlich wird dies etwa in Fragen der Literatur. Ostdeutsche Literatur der Jahre 1945 bis 1990, mit Ausläufern darüber hinaus, die sich ganz anders gearteten Problemen und Herausforderungen stellen mußte als die westdeutsche der Grass’, Bölls und anderer linksliberaler Romanciers, fristet heute ein Nischendasein. Man wird in den Bücherregalen eines jungen Konservativen sicherlich mehr sich in Ton und Duktus gleichende Freikorps-Romane der Nachkriegsepoche 1918–1923 finden als Bücher aus 40 Jahren DDR-Geschichte, die, trotz aller Widersprüche und sowjetbedingter Unannehmlichkeiten, substantieller Teil unserer eigenen Geschichte ist, und der zweifellos enormes Lernpotential innewohnt. Ist dies der sozialistischen Provenienz der Autoren geschuldet, einer Gleichschaltung von Schriftstellern und Verlagen, einer Öde der spießigen SED-Diktatur? Der Autor verneint dies. Trotz aller Restriktionen und Unzulänglichkeiten des Regimes besaß das „Leseland“ DDR eine vitale Belletristik, die auch heute noch, 26 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen deutschen Teilstaates, verdient, gelesen und diskutiert zu werden – Lerneffekte über die Mentalität und das Sonderbewußtsein der Ostdeutschen inbegriffen.
Gezeigt werden soll anhand zweier Autoren der Ex-DDR, durch welche Typen die Literatur – neben den zahlreichen Linientreuen – geprägt wurde. Gewiß: Ein jedes Typen-Modell weist die Schwäche auf, schematisierend und gegebenenfalls zu verallgemeinernd vorzugehen. Als erster Einstieg in die Literatur des sozialistischen Teildeutschlands empfiehlt sich diese Vorgehensweise jedoch schon alleine deshalb, weil so gezeigt werden kann, welche unterschiedlichen Schriftstellerbilder die DDR hervorbrachte. Vereinfacht können im (politischen) Literaturbetrieb jener Tage drei Typen unterschieden werden: der Linientreue, der innere Emigrant, der Dissident. Die letzteren beiden sind sicherlich die interessanteren, und sie unterscheiden sich insofern voneinander, als daß der innere Emigrant sich weitgehend öffentlicher Verlautbarungen enthält und sich in ein Refugium zurückzieht, während der Dissident die bewußte Sezession von der ihn umgebenden Gesellschaft vor den Augen der Staatsmacht und des Staatsvolkes vollzieht: „Der eigentliche Wesenskern eines dissidenten Akts ist, dass er öffentlich stattfindet.“2
Erich Loest (1926–2013) war solch ein Dissident, während Erwin Strittmatter (1912–1994) ein innerer Emigrant wurde. Beide werden kursorisch vorgestellt.

Gespanntes Verhältnis zur Nation

Hans-Dietrich Sander weist in seinem bis heute überaus schätzenswerten Standardwerk zur DDR-Belletristik (bis 1972) darauf hin, daß die Schriftsteller in der DDR – wie im Westen, aber anders als ihre Kollegen in den sozialistischen „Bruderländern“ – von einem „gespannten Verhältnis zu Volk und Geschichte belastet“3 waren. Dieses Verdikt gilt grosso modo für alle bekannten oder weniger bekannten Autoren, speziell für sowjethörige Ideologieproduzenten wie Otto Gotsche (1904–1985), den Moskauer Exilanten Alfred Kurella (1895–1975) oder, mit ihrer charakteristisch von Ressentiment und Larmoyanz geprägten Art und Weise, für Anna Seghers (1900–1983). Aber auch Hermann Kant (Jg. 1926), der mit der Aula4 (1965) den DDR-Roman schlechthin schrieb5 und als SED- wie auch als Schriftstellerfunktionär in der DDR eine große Rolle spielte, ist hier als Beispiel anzuführen. Für den bis heute der Linkspartei angehörenden Kant zählt nämlich Sanders Diktum vom „gespannten Verhältnis“ der sozialistischen Schriftsteller im Osten zu Deutschland als Ganzem in besonders starkem Maße. In der DDR war er einer der meistgelesenen Romanciers, und auch nach der Wende von 1989/90 publizierte er weiter, konnte aber das literarische Niveau der Aula oder des Impressums6 (1972), die für das Verständnis des ostdeutschen Sonderweges bis heute unersetzlich sind, nicht mehr erreichen. Vielleicht lag das am Unbehagen an seinem neuen vereinten Vaterland, zu dem er wenig altersmilde zu sagen weiß: „Ich finde, Deutschland ist zu groß.“7 Er bewegt sich damit weiterhin im Rahmen seines Deutschlandbildes von 1961, dem Jahr des Mauerbaus. In der Rückschau bilanziert er entsprechend nüchtern: „Dagegen lag mir Deutschland als Einheit nicht so sehr am Herzen.“8
Günter de Bruyn kommt dem psychologischen Grund für die kritische Haltung zu Deutschland und der unkritischen Haltung zur antifaschistischen DDR seitens junger Ostautoren – vor allem in den 50er und 60er Jahren – recht nahe. Da die Jahrgänge, die im Zweiten Weltkrieg als blutjunge Soldaten dienten (wie de Bruyn oder Kant), erst nach dem Krieg zu Antifaschisten wurden, während die Exilanten und späteren literarischen Instanzen wie Seghers oder Kurella bereits vor dem Krieg widerständig handelten, fühlte sich die Generation Bruyn-Kant „mehr oder weniger mit Schuld beladen“. Sie glaubten, so de Bruyn, „den Emigranten und Widerstandskämpfern gegenüber zu Ehrfurcht verpflichtet zu sein: in diesem Punkt war man moralisch erpreßbar“.9 Es ist dies, was Wolfgang Emmerich die „Loyalitätsfalle des Antifaschismus“10 nannte. Auch Erich Loest und Erwin Strittmatter tappten zunächst hinein.

Der innere Emigrant: Erwin Strittmatter

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg geboren und wuchs dort sowie im nahegelegenen deutsch-sorbischen Örtchen Bohsdorf auf. Nach einer Bäckerlehre war er zunächst Geselle im Geschäft seines Vaters und schlug sich danach als Kellner, Landarbeiter und Tierpfleger in verschiedenen Regionen des Reiches durch, kannte also das „einfache Volk“ wie kaum ein anderer. 1937 bis 1941 arbeitete er als Hilfs-, dann als Facharbeiter in einem Thüringer Werk, bevor er zur Schutzpolizei eingezogen wurde. Er diente im Reserve-Polizei-Bataillon 325 in Jugoslawien, Finnland und Griechenland, wechselte 1944 zur Filmstelle der Ordnungspolizei Berlin und desertierte wenige Wochen vor dem Zusammenbruch. Das unstete Leben endete erst mit Kriegsende, erst in den unmittelbaren Jahren nach 1945 fand Strittmatter zu charakterlicher Reife und zu seiner Bestimmung: dem Schreiben. Auch hier sind die nüchternen Fakten rasch erzählt11: 1947 „Neusiedler“, Amtsvorsteher und Standesbeamter im Heimatdorf Bohsdorf, außerdem Eintritt in die SED. Ein Jahr später wurde er Lokalredakteur der Märkischen Volksstimme in Potsdam, gab aber den Posten 1951 auf, um freier Schriftsteller zu werden. Acht Jahre vergingen, und er wurde erster Sekretär des DDR-Schriftstellerverbandes (DSV); von 1969 bis 1983 amtierte er gar als DSV-Vizepräsident (mit stetig nachlassendem Engagement) – unter Kant. Was ist spannend an der Person Strittmatter, was heute noch aufschlußreich und lesenswert?
Strittmatters Charakteristikum war das Bestreben, das einfache Landleben in entbehrungsreicher Zeit, eine kritisch-sozialistische Weltsicht und eine brandenburgisch-ostdeutsche Regionalprägung bei eigenständiger Schreibweise zu vereinen; kurz, er fungierte als ein „märkischer Tolstoi“12. Diese posthum verliehene Ehrenbezeichnung begann er sich zu verdienen, als er 1950/51 sein literarisches Debüt Ochsenkutscher veröffentlichte. Der Roman stand – wie das preisgekrönte Jugendbuch Tinko 1953/54 – in der Tradition sozialistischer Bildungs- bzw. Entwicklungsromane. Hier (Ochsenkutscher) die Geschichte eines landproletarischen Kutscherjungen bis 1933, dort (Tinko) der Roman über einen Zwölfjährigen in der mühseligen Bodenreformzeit der jungen DDR. Die 1950er und frühen 60er Jahre umfassen die „linientreue“ Dekaden des Spätberufenen. Den Mauerbau 1961 befand er für „notwendig“, um einen westlich-östlichen „Kriegskeim zu ersticken“.13 Auch der erste Band der Trilogie Der Wundertäter (1957, Bd. 2 1973, Bd. 3 1980) atmete noch stark den Geist eines – begabten – SED-Autoren. Bewegung in Strittmatters Leben kam mit der Publikation seines noch heute überaus lesenswerten Romans Ole Bienkopp (1963), der in den Jahren des Umbruches der Besitz- und Arbeitsverhältnisse auf dem Lande angesiedelt ist, also in etwa der Periode 1952–1959. Der Protagonist Bienkopp ist leidenschaftlich und schöpferisch, drängt nach vorne, will dem Dorf des Geschehens die Forcierung der „neuen Bauerngemeinschaft“ schmackhaft machen. Dabei hat er nicht nur mit Widerständen „reaktionärer“ Provenienz zu kämpfen, sondern zunehmend mit der ermüdend-zersetzenden Parteibürokratie. Die Gestalt des Ole Bienkopp, der jeder Eigennutz fremd ist14, der nach Gemeinschaft und Zusammenleben strebt, dabei aber an den Vorgaben von „oben“ und den Unzulänglichkeiten der Machthaber scheitert – das war einerseits ein in dieser Qualität und mit diesem Topos recht singulärer „sozialistischer Heimat- und Bauernroman“ (Wolfgang Emmerich) und andererseits den Herrschenden zu viel des Parteikritischen. Schon der Kampf um das Erscheinen geriet zum Kampf um die Schriftstellerexistenz. Der Parteiapparat erkannte – ganz richtig – eine kritische Haltung im Ole Bienkopp, und es folgten monatelange Auseinandersetzungen im Zentralkomitee, dem Kulturministerium und unter Schriftstellern. Dann erschien der Roman, flankiert von einer staatlich gelenkten Kampagne gegen das Buch und seine Botschaft.
Strittmatter ließ sich von SED-gesteuerten Leserbriefinszenierungen und bürokratischen Winkelzügen nicht mundtot machen; seine Biographin weist darauf hin, daß er sich an ein Bonmot des Schriftstellerkollegen Franz Fühmanns (1922–1984) hielt, das besagte, man stelle das Naturrecht des Schriftstellers über die Gesetze der DDR.15 Mit Hermann Kant, den Strittmatter noch zu Aula-Zeiten bewunderte, vereinte ihn inhaltlich allerdings nichts mehr. Kants steiler Aufstieg 1978 zum Schriftstellerverbandsvorsitzenden korrelierte zeitlich mit Strittmatters Rückzug aus der Öffentlichkeit und der Vertiefung in sein tätiges Landleben im brandenburgischen Weiler Schulzenhof. Während Kant die SED und ihren Staat weiterhin als Lebenselixier ansah, schrieb Strittmatter in sein Tagebuch, daß er eine Alternative zu Marxismus und Partei gefunden habe: „Diese Alternative habe ich mir in den letzten Jahren ‚erlebt‘. Sie heisst Glaube, sie heisst Mystik (sic).“ Seine einschlafende Rolle als Schriftstellerfunktionär habe ihm zudem „Abscheu“ und „Ekel“ vor Parteifunktionen gelehrt, außerdem gruselte es ihn nun vor der „Gesellschaftsbeglückung, die sich Marxismus nennt“.16 Mit Hermann Hesse beruhigte er sich angesichts der Tatsache, dem falschen ideologischen Glauben angehangen zu haben, daß es „niemals zur Schande gereicht, wenn man, sobald man zu anderen Ansichten kam, bereit ist, sich zu berichtigen“.17
1980 erschien derweil der dritte Band des Wundertäters, der mit dem ersten, 23 Jahre zuvor publizierten nicht mehr viel gemein hatte und eine Abrechnung mit der stalinistischen Epoche der DDR beinhaltete. Während sich Strittmatter in seiner anderen großen Trilogie – Der Laden (1983, 1987, 1992) – ins Dorfmilieu seiner Heimatregion der Lausitz hineinversetzte und viel Autobiographisches einflocht, dabei aber weniger politisch Angreifbares offenbarte, ist der dritte Wundertäter in mehrfacher Hinsicht provokant gewesen. Der Protagonist Stanislaus Büdner erlebt den Aufbau der DDR, wirkt als Journalist und Schriftsteller, möchte „anpacken“ und dem Sozialismus dienen, scheitert aber – wie Ole Bienkopp – an der Mittelmäßigkeit und Unzulänglichkeit der SED-Genossen, die ihn aus der Partei ausschließen. Er bewährt sich in der „Produktion“, d. h. in seinem Fall: im Schacht. Dort erlebt er unter anderem eine Episode, in der die Geschichte eines deutschen Mädchens erzählt wird, die durch einen Soldat der Roten Armee zu Tode mißbraucht wurde: Ein Tabubruch in der sowjethörigen DDR, der seinesgleichen suchte und entsprechend diffamierende Kampagnen gegen den Autoren nach sich zog. Strittmatter focht das nicht an, er hatte sich längst auf seinen Schulzenhof – fern jeder Großstadt – zurückgezogen, wo er sich ganz seinem Werk, seinen Pferden und der Natur hingab; kurz: er war längst ins Innere emigriert, oder, wie es Robert Darnton nennt, ins „innere Exil“18. Dort nahm er vorweg, daß die als Zukunftsoption im Raum stehende Massenzuwanderung katastrophale Folgen haben werde, daß man sich „Sprengstoff anderer Art herholen“19 würde; dort vertiefte er sich über Jahre ins Gesamtwerk des norwegischen Schriftstellers Knut Hamsuns, den er bewunderte, dort fand er zu Ernst Jünger, von dessen literarischen Werk er sich angezogen fühlte und dessen Schreibweise er „kosmisch wie die meine“20 empfand, dort verfaßte er den Abschlußband seiner Laden-Trilogie, der erst nach der Wende (1992) erschien. Dieser dritte Band, der noch einmal die längst versunkene Dorfwelt der mitteldeutschen Landarbeiter und Bauern der Nachkriegsepoche aufleben läßt, wurde mehr als hunderttausendmal verkauft, aber eben fast ausschließlich im Osten der erweiterten Bundesrepublik. Gabriele Eckart hat auf die Sinnstiftung des Buches für die Wendegeneration hingewiesen und verglich die Wirkung mit jener der Heimatfilme im zerstörten Nachkriegsdeutschland. „Der Raum der Geborgenheit“, so die sächsische Schriftstellerin, „den wir mit dem Wort Heimat assoziieren, funktioniert dabei als ein imaginärer Ort der Versöhnung.“21
Strittmatters Rolle als Stifter eines identitären Bewußtseins der Wende-Ostdeutschen wurde noch einmal im Januar 1994 akzentuiert: Als Strittmatter am letzten Tag des Monats starb, ergriff das die „neuen Bundesländer“ außerordentlich; ein Volksschriftsteller war dahingeschieden, für den es, so Wolfgang Emmerich zu Recht, „in der Alt-Bundesrepublik wohl kein Pendant gibt.“22 Die Alt-Bundesrepublik revanchierte sich auf ihre vergangenheitsbewältigende Art und Weise: Man inszenierte einen medialen Skandal um den toten Strittmatter, weil man herausgefunden hatte, daß allen Polizeiregimentern – also auch demjenigen Strittmatters – während des Krieges von Heinrich Himmler ein SS-Zusatz in die Regimentsbezeichnung beigegeben wurde. Die Beschädigung durch die bundesdeutschen Vergangenheitsbewältiger war nachhaltig: 2012 beschloß Strittmatters Heimatstadt Spremberg, zum 100. Geburtstag des Ehrenbürgers keine Würdigung durchzuführen.

Der Dissident: Erich Loest

Derartige Schmähungen und vermeintliche SS-Verwicklungen blieben Erich Loest schon deshalb erspart, weil er vierzehn Jahre jünger war und daher nicht einmal ein halbes Jahr am Krieg beteiligt war; dafür blieb ihm ansonsten wenig erspart, was in der DDR an Repression nur denkbar war, und wer als junger Mensch von heute wissen will, wie die DDR war und was ein Schriftsteller durchleben mußte, sollte zuallererst Loests Autobiographie Durch die Erde ein Riß (1981) lesen, heute und in naher Zukunft.
Erich Loest wurde 1926 im mittelsächsischen Mittweida geboren, meisterte 1944 sein Abitur, wurde eingezogen und erlebte das Kriegsende als designierter „Werwolf“, was allerdings aufgrund der allgemeinen Auflösungserscheinungen nicht mehr von Bedeutung war. Von 1947 bis 1950 arbeitete er als Volontär und Redakteur bei der Leipziger Volkszeitung (LVZ), verließ aber das Blatt, um sich als freier Schriftsteller zu versuchen. Dabei sollte ihm das Studium am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ der Universität Leipzig helfen, das damals die Kaderschmiede junger Autoren war. Er schloß Freundschaft zu kritischen Marxisten wie Gerhard Zwerenz, hörte Vorlesungen bei Ernst Bloch und dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer, reiste mit Erwin Strittmatter als Vertreter der DDR-Nachwuchsautoren nach Ungarn, positionierte sich allerdings – wohlgemerkt im kleinen Kreise – für eine Entstalinisierung der DDR, für einen demokratisierten Sozialismus mit volkstümlichen Antlitz. Deshalb wurde er erst von der Stasi überwacht, dann aus Schriftstellerverband sowie Partei, der er seit LVZ-Zeiten angehörte, ausgeschlossen und wegen seines Festhaltens an Erneuerungsforderungen verhaftet und als „englischer Agent“ zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, die er bis 1964 im „Gelben Elend“ genannten Horrorknast in Bautzen absaß.23
Erst danach wurde dem Geschundenen als existenzsichernde Nische angeboten, Unterhaltungs- und Kriminalromane zu verfassen, was er – mangels Alternative – annahm. Loest lebte fortan unter dem Radar im östlichen Leipziger Zentrum und produzierte Unterhaltungsliteratur am Fließband. So wurde er mit dem Pseudonym „Hans Walldorf“ der an Verkaufszahlen wohl stärkste Krimiautor der DDR; auch die heute noch amüsierenden Bücher Der Mörder saß im Wembley-Stadion (1967) und Der elfte Mann (1969) verdankt man dieser schöpferischen Zwangsphase. Als ihn jedoch Freunde drängten, wieder zu Gegenwartsproblemen Stellung zu beziehen, begann Loest 1974 die Arbeit an einem Roman, der biographisch alles verändern sollte: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene erschien – von der und für die Zensur leicht modifiziert – erst 1978, denn seine Fertigstellung im Sommer 1976 fiel ausgerechnet mit der Affäre um den Liedermacher Wolf Biermann zusammen, die eine neue Repressionswelle in der DDR-Kulturpolitik auslöste. Und Loests Buch war ein dissidenter Akt, der das Leben im ostdeutschen Teilstaat plastisch darstellte. Hauptfigur war ein Durchschnittsmensch, ein Leipziger Ingenieur ohne Ehrgeiz, der sich schlichtweg einer Karriere verweigert, weil er, nach entsprechenden Negativeindrücken von „der Macht“, selber keine Macht besitzen oder gar ausüben wolle. Loest zeigte die DDR-Gesellschaft, wie sie sich gerade nicht sehen wollte: kleinbürgerlich bis spießig, unsolidarisch und karriereorientiert. Wolfgang Emmerich hat recht, wenn er schreibt, daß man nirgends Genaueres, „und zwar auf unterhaltsame Weise, über die wirkliche DDR und ihre zentrale Provinz Sachsen lesen“24 könne als bei Loest. Literarisch bleibenden Wert besitzt vor allem auch sein monumentales Geschichtspanorama Völkerschlachtdenkmal, das 170 Jahre Leipziger, sächsische und deutsche Geschichte zu einem Erzählstrang verdichtet. Daß Loest in seinem Spätwerk eine erweiterte Neufassung unter dem Namen Löwenstadt vorlegte, war ein ebenso gewagter wie erfolgreicher „Relaunch“ eines großen Buches; es sollte mit Loests Wendeepos Nikolaikirche (1995) als Bildungsroman über die ost- und gesamtdeutsche Geschichte gelesen und weiterempfohlen werden.
Diese späteren Bücher mehrten Loests Ruhm, aber zunächst waren für ihn die 1970er Jahre rund um Es geht seinen Gang ein entbehrungsreicher Lebensabschnitt voller Turbulenzen, Diskussionen mit Zensoren und seinem Mitteldeutschen Verlag zu Halle/Saale – der ohnehin unter kritischer Beobachtung stand (weil er in kürzester Zeit zwei als „zu kritisch“ angesehene Werke veröffentlichte: Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. und Günter de Bruyns Buridans Esel) –,bitterböser Korrespondenzen und Vertragsfeilschereien, schließlich: Auflagenmanipulation, Verlagsverlust und künstliche Verknappung: All das schildert Loest in dem begleitend zu lesenden Dokumentationsband Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR (1984), der wie kein zweiter Zeitzeugenbericht die erdrückende Situation für Kulturschaffende im Sozialismus darstellt. Dieses Buch erschien bereits im Westen, denn Loest ging 1981 mit einem Dreijahresvisum in die BRD, um einem eventuellen weiteren folgenreichen Prozeß zu entgehen. Er spürte den Atem der Repressionsorgane, die vom Typus allzugut bekannte Kampagnen in verschiedenen Leitmedien gegen ihn starteten (und insgesamt 31 Aktenordner Überwachungsmaterial zu Loests Vita sammelten!25). So verzichtete er auf eine Rückkehr in den Osten und gab sein Leipzig auf, in das er nach dem Zusammenbruch der DDR wieder übersiedelte. Über den Umzug in die BRD sprach Loest erhellend mit dem Deutschlandfunk, und es zeigt sich in diesem exemplarischen Gespräch, das Loest ein gänzlich anderes Verhältnis zu seinem Vaterland besaß als etwa sein Jahrgangsgenosse und Schriftstellerkollege Hermann Kant. Loest wollte nicht dauerhaft in „BRD“ und „DDR“ denken, sah keine zwei unterschiedliche Nationen, im Gegenteil: „Ich ging von Deutschland nach Deutschland. Ich blieb, ich war mir dessen bewußt, im deutschen Sprachraum, im Kulturraum, im Geschichtsraum.“26 Auch das bis heute festzustellende, folgenreiche – man denke an Pegida, AfD und Co. – Faktum, daß das Volksbewußtsein in Ostdeutschland höher zu veranschlagen war und ist als im Westen, bemerkt Loest, wenn er hervorhebt, daß die Zugehörigkeit zu Deutschland bei der ostdeutschen Bevölkerung „wacher“ ist; das Bewußtsein, „daß es ein Volk ist, daß es eine Sprache ist, eine Nation ist“,27 daß das deutsche Volk also überhaupt ist und keine Vollversammlung von vereinzelten Individuen mit den einzigen Gemeinsamkeiten Konsumstreben und Arbeitsmarktkonkurrenz. Ein Umstand, der bei zeitgenössischen deutschen Schriftstellern in dieser Klarheit längst nicht mehr als gegeben angenommen werden darf.

Was bleibt

Dieser Titel einer kontrovers diskutierten Erzählung (1990) Christa Wolfs beendet die Geschichte der DDR-Literatur: Chronologisch, weil nach dem Mauerfall publiziert, ideenpolitisch, weil es ebenso eine Rechtfertigungsschrift einer berühmten ostdeutschen Schriftstellerin bezüglich der Stellung ihres Berufsstandes in der SED-Diktatur war, wie ein zeitloses psychologisches Porträt omnipräsenter Überwachungsorgane. Was bleibt steht auch am Ende dieses kursorischen Rundganges durch die DDR-Literatur am Beispiel nur zweier Typen von Schriftstellern. Was bleibt: Das ist die Erkenntnis, daß es jenseits all der westdeutschen Literaten eine vitale deutsche Literatur gegeben hat; das ist die Gewißheit, daß man es bei Autoren im real existierenden Sozialismus mit keinem monolithischen Block zu tun hatte; das ist die Indizienlast, die annehmen läßt, daß die Wurzeln für das heutige ostdeutsche Sonderbewußtsein, das einer gesamtdeutschen Renaissance dienen könnte, nicht zuletzt auch im – vom homo bundesrepublicanensis28 – allzu voreilig abgeschriebenen Schrifttum des untergegangenen sozialistischen Teil-Deutschlands liegen: Man muß diese Wurzeln nur freilegen und sich aufs neue erschließen. Dies verschafft nicht nur Lesegenuß, sondern schärft das Verständnis für Vergangenes, lehrt Psychologisches über Gegenwärtiges und hilft bei der Bewußtseinsbildung für Zukünftiges. „Es geht darum“, so Thor v. Waldstein in seiner feinen Schlüsselschrift zur Metapolitik, „unter den Deutschen wieder so etwas wie geistige Gemeinschaft und seelische Verwandtschaft neu zu stiften.“29 Die Kenntnis der Besonderheiten der eigenen kulturellen Geschichte ist hierfür einer von unzähligen Bausteinen.

Anmerkungen

1?Es ist, wie der Historiker Stefan Bollinger anmerkt, als Ironie der Geschichte zu begreifen, daß sich eine eigene „DDR-Identität“ bzw. ostdeutsche Regionalidentität erst nach 1990, nach den Irrungen des Einheitsprozesses konstituierte. Ein ost-„identitäres“ Bewußtsein, wie es heute vielen ehemaligen DDR-Bürgern innewohnt, gab es in der Geschichte des realexistierenden DDR-Sozialismus in dieser Form nicht. Vgl. Stefan Bollinger: Einleitung, in: ders. (Hg.): Linke und Nation. Klassische Texte zu einer brisanten Frage, Wien 2009, S. 7–34, hier 18.
2?Slavoj Žižek: Totalitarismus. Fünf Interventionen zum Ge- oder Missbrauch eines Begriffs, Hamburg 2012, S. 103.
3?Hans-Dietrich Sander: Geschichte der Schönen Literatur in der DDR. Ein Grundriß, Freiburg 1972, S. 14.
4?Schauplatz sind die in der Aufbauphase der DDR eingesetzten Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF). Robert Iswall, Journalist und seinem Schöpfer Kant in der Biographie recht ähnlich, erhält den Auftrag, anläßlich der Schließung „seiner“ alten ABF, die dem Geist der Arbeiterdichtung des „Bitterfelder Wegs“ verpflichtet war, eine Abschiedsrede zu formulieren. Die Rede wird nie gehalten, aber so entsteht ein Roman, der ein geschicktes Netz aus Anekdoten und sozialistischer Bewußtseinsschärfung darstellt. Ziel ist die Zurschaustellung der Haltung, daß bereits in wenigen Jahren DDR einiges geschaffen wurde.
5?So das Urteil bei: Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, 4. Aufl., Berlin 2009, S. 203.
6?Der lesenswerte Roman konnte erst nach drei Jahren Diskussionen und einigem Hin und Her zwischen Zensurbehörde, Autor und Parteistellen erscheinen. Der Grund läßt sich schon im ersten Satz des Buches erahnen: „Ich will aber nicht Minister werden!“ Dieser Ausspruch wird von Kants Alter ego David Groth, dem Chefredakteur einer sozialistischen Zeitung, ausgesprochen. Aber auch wenn einige übereifrige Funktionäre das Buch verzögerten, ist dies kein Beleg für etwaige Systemgegnerschaft Kants. Er war vielmehr der konstruktive Kritiker und formulierte immer vom sozialistischen Standpunkt aus.
7?Irmtraud Gutschke/Hermann Kant: Die Sache und die Sachen, Berlin 2011, S. 204.
8?Ebd., S. 60.
9?Günter de Bruyn: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Frankfurt/Main 1997, S. 374.
10?Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 53.
11?Vgl. Vgl. Bernd-Rainer Barth u. a. (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Handbuch, Berlin 1994, S. 723.
12?Christian Eger: Erwin Strittmatter, in: Mitteldeutsche Zeitung v. 27. Juli 2012.
13?Zit. n. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 179.
14?Strittmatter war ein heimat- wie naturverbundener „Sozialist des Herzens“ (Christian Eger) und antiliberal. An Armin Mohler erinnert sein Verdikt: „Im ganzen wird sichtbar, was eine kurze Zeit des Liberalismus dem Volke kostet. Es wird um Jahre in der Entwicklung zurückgeworfen.“ An anderer Stelle konstatiert er, daß die Irrungen des liberalen Westens in „ethische, moralische und kulturelle Verrohung“ führen. In: Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973, Berlin 2014, S. 95, 386.
15?Vgl. Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biographie, 3. Aufl., Berlin 2012, S. 281.
16?Erwin Strittmatter: Der Zustand meiner Welt. Aus den Tagebüchern 1974–1994, 3. Aufl., Berlin 2014, S. 76.
17?Ebd., S. 117.
18?Ebd., S. 172.
19?Robert Darnton: Die Zensoren. Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat. Vom vorrevolutionären Frankreich bis zur DDR, München 2016, S. 242.
20?Strittmatter, Der Zustand meiner Welt, S. 380.
21?Ebd., S. 484.
22?Zit. n. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 488 f.
23?Ebd., S. 489.
24?Kant schwieg, Strittmatter schwieg. Aber letzterer vertraute 1976 – nach seinem Gang ins innere Exil – seinem Tagebuch die Aussöhnung mit Loest an: „Wichtig (...) war mir LOEST. Man hat ihn (…) verhaftet, ihm den Prozess gemacht! (...) Man hatte das konstruiert. Heute ist mir das klar. Damals nicht. Ich war sektiererisch vernagelt und fürchtete Repressalien. Heute fürchte ich Repressalien nicht mehr.“ Außerdem hätten er und seine Frau Eva (1930–2011, sie war eine vielgelesene Lyrikerin) sich bei Loest für ihr Schweigen entschuldigt; Strittmatter: Der Zustand meiner Welt, S. 60 f.
25?Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 304.
26?Vgl. Darnton, Die Zensoren, S. 241.
27?Erich Loest: Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR, Köln 1984, S. 85.
28?Ebd., S. 88.
29?Thor v. Waldstein: Metapolitik. Theorie – Lage – Aktion, Schnellroda 2015, S. 18.
30?Ebd., S. 54.

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com