Archiv > Jahrgang 2016 > NO II/2016 > Carl Gustav Jung und die deutsche Seele 

Carl Gustav Jung und die deutsche Seele

Von Lore Waldvogel

In den Geisteswissenschaften herrscht eisiges Schweigen, der Name Carl Gustav Jung ist tabu: antimodern, mystisch, völkisch, gnostisch – um nur einige der Vorwürfe zu nennen.

Was wahrscheinlich noch viel schwerer wiegt, ist, daß er Adolf Hitler nicht als Psychopathen, sondern als mystischen Medizinmann und als Sprachrohr des kollektiven Unbewußten der Deutschen – bezeichnete denen er übrigens einen ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex attestierte. Dieser sei das Resultat einer geographisch bedingten inneren Zerrissenheit zwischen Ost und West und der vergleichsweise späten Entwicklung eines nationalen Bewußtseins – nachdem Engländer und Franzosen die Kolonien bereits unter sich aufgeteilt hatten. So erklärte Jung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, im Oktober 1938, dem amerikanischen Auslandskorrespondenten H. R. Knickerbocker die Seelenlage der Germanen („Diagnosing the Dictators“, in: C. G. Jung Speaking: Interviews and Encounters, hrsg. v. William McGuire, R. F. C. Hull, London 1980, S. 123–140). Und nun habe wieder ihr alter Gott, der Sturm- und Brausegott Wotan, von ihnen Besitz ergriffen. Der schien „wirklich nur geschlafen zu haben im Kyffhäuser, bis die Raben ihm Morgenluft meldeten“. Wotan sei offenbar, trotz Christianisierung, eine nicht totzukriegende „Grundeigenschaft der deutschen Seele, ein seelischer ‚Faktor‘ irrationaler Natur, eine Zyklone, welche den kulturellen Hochdruck abbaut und wegreißt“. Nietzsches Dionysos: eigentlich nichts anderes als eine Chiffre für Wotan, bewußt oder unbewußt. Der rastlose Wanderer, der große Zauberer, der Entfessler der Leidenschaften, der immer dann „wiederkommt, wenn der Christengott sich als zu schwach erweist“, er sei – das habe man wohl vergessen – „eine germanische Urgegebenheit, ein wahrster Ausdruck und eine unübertroffene Personifikation einer grundlegenden Eigentümlichkeit insbesondere des deutschen Volkes“, schreibt Jung in seinem berüchtigten Wotan-Aufsatz im Jahr 1936 (Jung, G W X , S. 203–218). Enthusiastisch warb Knickerbocker für die Thesen des Schweizer Nervenarztes und fand, er sei der einzige, der wirklich verstünde, was in Deutschland vor sich ginge. Die darauf folgenden apokalyptischen Ereignisse schienen Jungs Vorahnung zu bestätigen. Nach Kriegsende war er es, der auf der absoluten Kollektivschuld aller deutschen Volksangehörigen insistierte. Nur durch die Begegnung mit den eigenen seelischen Abgründen, dem „Schatten“, sei eine Genesung denkbar – das könne aber noch 100 Jahre dauern. Deutsche Bürger, die behaupteten, sie wüßten von nichts, in Buchenwald mit Schrumpfköpfen und anderen Horror-Exponaten zu konfrontieren, fand Jung genau richtig. Als Deutsche müßten sich ausnahmslos alle, sogar die Widerstandskämpfer, mit ihrem kollektiven Unbewußten auseinandersetzen und ihre Schuld eingestehen. („The Post-War Psychic Problems of the Germans“, in: C. G. Jung Speaking, S. 153–158). Heute wissen wir, daß die in Buchenwald ausgestellten Lampenschirme aus Menschenhaut schon damals eine Fiktion waren, daß Greuelpropaganda fester Bestandteil der britischen Kriegsführung ist, und daß Jung von 1941 bis 1945 als „Agent 488“ für das amerikanische Office of Strategic Services (OSS), dem Vorläufer der CIA, arbeitete (Deirdre Bair: C. G. Jung. Eine Biographie, übers. v. Michael Müller, München 2005). Seine Äußerungen über die Deutschen sind also mit Vorsicht zu genießen, und man könnte heute durchaus den Standpunkt vertreten: Geschieht diesem Oberpriester der Integrität und der authentischen Lebensführung ganz recht, wenn er in der Versenkung verschwindet – wenn da nicht so viele andere wertvolle Gedanken wären, die unter anderem die deutsche Mystik, Goethe und die deutsche Romantik in die moderne Psychologie hinüberretten. Ein alternativer Ansatz wäre alchemistisch und damit auch jungianisch: Schädliches in sein Gegenteil verwandeln. Wie könnten wir uns von Jung die Heilung dessen, was wir in Ermangelung eines besseren Begriffs „Volksseele“ nennen wollen, zurückholen, die uns das von ihm propagierte Kollektivschuld-Dogma bis heute verwehrt? Dank des von Jung hochgeschätzten Paracelsus, dem Begründer der Giftkunde, wissen wir ja: ubi malum, ibi remedium. Das hatte er wahrscheinlich von den Kräuterhexen. Die kannten noch die wirklich wissenswerten Naturgesetze wie zum Beispiel: daß man häufig neben der Giftpflanze im Wald auch gleich die das Gegengift enthaltende Heilpflanze antrifft.

Seelenverlust, Trauma, Dissoziation

Eine Frage, die man gleich zu Anfang stellen könnte, wäre, ob die Volksseele überhaupt noch da ist. Angesichts des seelenlosen Erscheinungsbildes der BRD – egal wo man hinschaut: Politik, Architektur, Geistesleben, Volkskultur – erscheint die Frage durchaus berechtigt. Fast alle Naturvölker kennen den Begriff des Seelenverlusts, der als eine der größten Gefahren für den Menschen und Ursache für viele Krankheiten gilt. In Jungs Schriften ist diese Vorstellung sehr präsent – viel mehr als der – bei Freudianern geläufigere Begriff des Traumas, der seelischen Verletzung. Zu behaupten, Jung habe mehr auf das Seelenverständnis der Naturvölker als auf das Theoriegebäude Sigmund Freuds gegeben, wäre keineswegs übertrieben. Beide Begriffe versuchen, ein einschneidendes, als seelische Gewalt erlebtes Schockerlebnis zu erfassen, das sich nachhaltig auf die psychische und körperliche Gesundheit auswirkt und die Lebenskraft einschränkt. Natürlich wäre die physische Zerstörung der Heimat durch flächendeckenden Bombenterror ein solches Erlebnis, ebenso wie die gewaltsame Entwurzelung aus der angestammten Heimat, nicht zu vergessen die gewaltsame Teilung des Landes mittels einer Betonmauer und die nach Kriegsende verabreichten Erniedrigungen, die man uns bis heute wohldosiert in die geistige Nahrung mischt. Im Grunde handelt es sich beim Seelenverlust um den Verlust von Kraftquellen. Während Schamanen von Krafttieren und Schutzgeistern sprechen, die einen Menschen aus verschiedenen Gründen verlassen können, spricht die moderne Psychologie von „Dissoziation“: „Wenn Dinge, die bewußt sein sollten, es nicht sind, findet Dissoziation statt: Der Mensch verliert seinen Kopf“ (Jung, Face to face, BBC-Interview). Seelenteile oder Anteile der Persönlichkeit spalten sich ab und sind dem Bewußtsein nicht mehr zugänglich:. Man geht davon aus, daß es sich dabei zunächst um eine Überlebensstrategie der Psyche handelt, die aber, wenn sie sich nicht korrigiert, zu Krankheit führen kann. Der Schamane hilft dem Kranken mit Gesängen und Ritualen, sich an die Krafttiere zu erinnern, sie zu visualisieren und zu bitten, wieder zurückzukommen. Die analytische Psychologie bietet verwandte Techniken an; bei Jung wäre das die „aktive Imagination“ und das Auffinden einer „heilenden Fiktion“: Das erst 2009 veröffentlichte, aufwendig illustrierte Rote Buch ist Dokument seiner eigenen Selbstheilung und Selbstwerdung, die nach seinem Bruch mit Freud vonnöten war (Jung, Das Rote Buch, Düsseldorf 2009). Die Schamanin Sandra Ingerman, die im Grunde den gleichen Ansatz vertritt wie Jung, ist im Laufe ihrer therapeutischen Arbeit zur Erkenntnis gelangt, daß das von Freud empfohlene „Erinnern und Durcharbeiten“ wenig Heilung verspricht, solange man das traumatische Erlebnis in den Vordergrund der Betrachtung stellt. Stattdessen hilft sie ihren Patienten, sich aktiv an das eigene Wesen zu erinnern, sich die eigene Natur bewußtzumachen, sich heilende Geschichten zu erzählen und verlorene Seelenanteile wieder einzusammeln:
„Unser ursprüngliches, wahres Wesen wurde vergessen und ersetzt durch Projektionen, die uns von Familie, Vorgesetzten und Autoritäten auferlegt werden. Also helfe ich den Menschen, sich daran zu erinnern, wer sie wirklich sind (…). Es ist unser Geburtsrecht, uns seelisch vollständig ausdrücken zu dürfen. Ein Leben ohne Sinn ist gleichbedeutend mit Verzweiflung.“ (Sandra Ingerman, Soul Retrieval)
Die Tatsache, daß wir uns im öffentlichen Diskurs gar nicht fragen dürfen, wer wir sind und was uns ausmacht, ist so besehen eigentlich kriminell. Ziel der wohl immer noch anhaltenden „Re-education“ ist ja, daß wir unserer Volksseele abschwören und aufhören, wir selbst zu sein, also so zu sein, wie wir als Volk und als Angehörige dieses Volkes, das ja eine historisch gewachsene Größe ist, naturgemäß nun einmal sind. Daß dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist, ist aber eigentlich auch klar. Einer tausend Jahre alten Eiche kann man schließlich nicht einfach einreden, sie müsse ab jetzt aber bitte schön eine Quitte sein. Auf persönlicher Ebene würde eine derartige Umerziehung zwangsläufig in die Neurose führen, die nach Jung nämlich dann eintritt, wenn einem die „Selbstwerdung“ verwehrt wird, wenn man nicht seiner inneren Wahrheit gemäß leben darf oder man es sich selbst nicht gestattet.

Aktive Imagination und heilende Fiktion

Daß uns mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs offensichtlich Kraftquellen verlorengegangen sind – viele Volksangehörige waren so verzweifelt, daß sie Selbstmord begingen –, wird niemand ernsthaft in Frage stellen. Daß wir die jetzt dringend wieder benötigen, um uns den aktuellen Herausforderungen zu stellen, liegt eigentlich auch auf der Hand. Daß durch die „Re-education“ ein großer Teil des Volkscharakters aus dem Bewußtsein verdrängt wurde, wird auch niemand anzweifeln. Wenn wir also postulieren, daß so etwas wie Seelenverlust auf kollektiver Ebene stattgefunden hat, müssen wir als nächstes auch der unangenehmen Tatsache ins Auge sehen, daß unsere natürlichen Selbstheilungskräfte, etwa durch Schöpfen aus geistigen Kraftquellen, die die Hervorragendsten unserer Ahnen der Volksgemeinschaft hinterlassen haben, dadurch behindert werden, daß die diskursive Realität von einem masochistischen – aus einem anderen Blickwinkel: sadistischen – historischen Narrativ beherrscht wird. Das müßte Jung wohl auch einsehen, wenn er noch am Leben wäre. Daß dieses Narrativ uns manipulierbar und erpreßbar macht und nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa schadet, hat jüngst der amerikanische Autor Colin Liddell in seinem Essay zur Notwendigkeit der moralischen Aufrüstung Deutschlands hervorgehoben. Es ist eigentlich völlig offensichtlich, daß sich ein einseitiges Schuldnarrativ auf Dauer schlecht als identitäts- und sinnstiftender Mythos eignet, und daß ein enger Zusammenhang zu den gravierenden politischen Fehlentscheidungen, dem dramatischen Geburtenrückgang und der allgemeinen Zunahme von Depressionen bestehen muß. Die Art und Weise nämlich, wie man sich seine eigene Herkunft erzählt, hat enorme psychische Konsequenzen – das wird heute auch von Psychologen anerkannt, die sich auf die Therapie von „Kriegsenkeln“ spezialisiert haben (Sabine Bode: Kriegsenkelkinder. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart, zuletzt 2015). Sie empfehlen ihren Patienten, ein positives Narrativ zu entwickeln, sich an die Errungenschaften ihrer Vorfahren zu erinnern, sich trotz physischer Entwurzelung imaginäre Wurzeln und Kraftquellen zu erschließen. Da Kriegsenkel-Therapeuten beim individuellen Schicksal ansetzen, aber nicht die Autorität besitzen, das übergeordnete Narrativ in Frage zu stellen, können sie im Jungschen Sinn nicht als echte Heiler in Erscheinung treten. Gerade Jung hat ja im Gegensatz zu Freud mit Nachdruck betont, daß die historischen Umstände, in die ein Mensch hineingeboren wird, die „historischen Dominanten“, das individuelle Bewußtsein, ganz entscheidend prägen und beeinflussen. Die historisch bedingte Seelenlage des Kollektivs wirkt sich also auch immer auf das Einzelschicksal aus. Der wirklich kollektiv wirksame mystische Heiler ist nach Jung Schamane, Arzt und Künstler zugleich, seine Aufgabe ist die psychische und physische Heilung der ganzen Gruppe, und meistens sucht er sich diese Rolle nicht aus, sondern wird von höheren Kräften – der Natur – dazu auserkoren.
Es ist erstaunlich, daß diese Kriegsenkelspezialisten eher geneigt sind, die aus der psychoanalytischen Shoah-Forschung stammende Theorie der Vererbung von Traumata zu übernehmen und mit Patienten kraftspendende Familiengeschichten zu entwickeln, als sich die Frage zu stellen, welche katastrophalen Auswirkungen ein übergeordnetes, völlig einseitiges historisches Narrativ haben könnte, das obendrein nicht einmal angezweifelt werden darf. Es wird nichts helfen, wir müssen unsere Fantasie ankurbeln: ein neues Narrativ muß her. Colin Liddell hat in seinem Text ja darauf hingewiesen, daß ein gemäßigteres, objektives historisches Narrativ schon völlig ausreichen würde. Wie Jung betont, kann „der Mensch (…) seine Nichtigkeitserklärung nicht für immer hinnehmen. Irgendwann kommt es zu einer Gegenreaktion. Ein sinnentleertes Leben erträgt der Mensch nicht“ (Jung, Face to Face). Das war als Kritik an der Moderne formuliert, aber es läßt sich problemlos auf unsere Situation übertragen. Und es müßte doch auch im Interesse der sogenannten Sieger sein, daß die Gegenreaktion gemäßigt ausfällt.
Apropos: In den USA – anders als in Deutschland – ist die Phrase „controlling the narrative“ in Politik und Medien sehr geläufig. Wie jede PR-Abteilung weiß, muß man eine Geschichte so erzählen, daß sie die eigenen Interessen bedient, und zwar bevor sie jemand anders anders erzählt. Uns Deutschen mag diese Haltung aufgrund eines kulturell tief verankerten und besonders ausgeprägten Wahrhaftigkeitsstrebens völlig fremd und unsympathisch sein, aber das darf uns nicht davon abhalten, zu erkennen, daß andere Völker, zumal jene, die einen Vorteil aus unserer Niederlage ziehen, ein anderes Verhältnis zur Wahrheit und zum „story-telling“ haben. Und sich natürlich unsere Geschichte so erzählen, daß sie ihnen Kraft spendet, wenngleich auf unsere Kosten.

Deutschland als Patient

Das Narrativ „Deutschland als Patient“ hat im Zuge von Angela Merkels irrationalem Verhalten in der Flüchtlingskrise wieder neuen Aufwind in der englischsprachigen Welt bekommen — es wird allerdings nicht von Empathie begleitet, wie man dies eigentlich von Volksgruppen erwarten würde, die permanent vorgeben, sich um das Wohlergehen aller Erdenbürger zu sorgen. Anstelle einer ernstgemeinten Einfühlung in das erfahrene Leid der Deutschen und der Anerkennung der Ursachen einer wohl nicht ganz von der Hand zu weisenden kollektiven Neurose (zumindest auf politischer Ebene) dient dieses Narrativ wieder nur als Schmählied. Genauso geistesgestört wie die Nationalsozialisten sind sie eben immer noch, so der Subtext. Immer von einem Extrem ins andere: Erst begehen sie die schrecklichsten Verbrechen der Menschheit, dann haben sie wieder überzogene Schuldgefühle und wollen scheinheilig die Armen der ganzen Welt im eigenen Land speisen, während diejenigen, die zu ihrem deutschen Wesen stehen, Flüchtlingsheime anzünden. Vielleicht ist es wirklich besser, man durchmischt sie mit anderen Völkern, dann hat dieser ganze Wahnsinn in Mitteleuropa ein Ende, denkt sich der Inder auf der anderen Seite des Erdballs, dem zeit seines Lebens das angloamerikanische Geschichtsnarrativ eingetrichtert wurde, und dem auch die Goethe-Institute wenig Gelegenheit bieten, sich ein differenzierteres Bild zu machen. Im Gegenteil: Die Institutionen, die dem Ausland eigentlich das Wesen und den Wert der deutschen Kultur vermitteln sollten, sind eifrig dabei, das Narrativ der Sieger fortzuschreiben und sich für deren Ziele einspannen zu lassen. Allein zu diesem Zweck beziehen sie wohl auch ihre finanziellen Mittel. C. G. Jung hat mit seinen Kriegsinterviews zweifelsohne einen haarsträubenden Beitrag zum Bild von „Deutschland als Patient“ geleistet. In einem Interview, das am 11. Mai 1945, vier Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht, in der Schweizer Zeitung Weltwoche erschien, bezeichnete er zehn Prozent der Deutschen als „hoffnungslose Psychopathen“.1 Er verriet seinen Lesern außerdem, daß sich hinter der deutschen Gemütlichkeit eine eigentliche Seelenlosigkeit und Herzenskälte verberge. Natürlich wurde das Interview ins Englische übersetzt und in dem Band C. G. Jung Speaking gemeinsam mit den Knickerbocker-Interviews veröffentlicht. Jungs Aussagen untermauern das vernichtende Deutschlandbild, das in englischen und amerikanischen Schulen und an Universitäten bis heute vermittelt wird. Der in den USA lehrende Germanist Kai Hammermeister bestätigt, daß in der amerikanischen Auslandsgermanistik „oftmals eine tiefsitzende Abneigung gegen das Deutsche die wichtigste Motivation (für die Beschäftigung mit der deutschen Kultur) ist. Beispielsweise sichern die meisten germanistischen Institute in den USA ihr Überleben nur dadurch, daß sie regelmäßig einschreibeintensive Kurse über die dunklen Seiten des deutschen Charakters anbieten (…). Das typische Deutsche wird präsentiert als eine verachtenswerte, aber bestenfalls verkäufliche Mischung aus militaristischem Mordbrennertum und Vernichtungslagersadismus.“2 In der deutschen Ausgabe des Bandes C. G. Jung Speaking/Jung im Gespräch sucht man vergebens nach den Kriegsinterviews: Man will dem hiesigen Leser diese völkerpsychologisch hanebüchenen Aussagen Jungs wohl lieber nicht zumuten – wir dürfen aber davon ausgehen, daß sie von Dozenten besagter Kurse in den USA als zuverlässiges Quellenmaterial geschätzt werden. Sich als Deutscher klarzumachen, wie extrem dieses projizierte Narrativ wirklich ist, mit dem wir im Ausland bis heute stigmatisiert werden, kann einen einerseits in die Verzweiflung treiben, andererseits fördert es einen sehr heilsamen Bewußtwerdungsprozeß, der uns erlaubt, die Projektionen unbewußt feindseliger anderer abzuschütteln. Heilsam wäre es übrigens auch für die englischsprachige Welt, sich der eigenen Projektionen bewußt zu werden und sie zurückzunehmen — nach Jung ist ja die Rücknahme von Projektion ein ganz entscheidender Schritt im Individuationsprozeß und die Voraussetzung für eine echte Beziehung zum anderen.3 Die Frage, inwieweit Jung für dieses einseitig negative Bild einer minderentwickelten, problematischen deutschen Psyche mitverantwortlich ist, wäre ein Dissertationsprojekt für sich. Erstaunlich ist die Radikalität seiner Ansichten und sein Mangel an Empathie allemal, da Jungs Denken seine Wurzeln in der deutschsprachigen Geistestradition hat und ohne sie undenkbar wäre.

Europa: Tradition und Moderne

Nun sind wir allerdings nicht nur Deutsche, sondern auch Europäer. Viele der seelischen Probleme und deren Ursachen, die uns heute zu schaffen machen, teilen wir mit unseren europäischen Nachbarn — wenn nicht sogar mit allen Gesellschaften, die sich zur Modernisierung entschlossen haben. In der Beschäftigung mit der Moderne und der europäischen Frage sah Jung eine seiner Hauptaufgaben, wie ihm selbst während eines dreimonatigen Aufenthalts in Indien bewußt wurde. Ein eindrucksvoller Traum vom Heiligen Gral erinnerte ihn an seine eigentliche Lebensmission: die Suche nach dem heilenden Gefäß für die europäische Zivilisation. Ähnlich wie Konrad Lorenz ging Jung davon aus, daß die Moderne kein gesunder Zustand in der zivilisatorischen Entwicklung war, sondern deutliche Anzeichen von Krankheit aufwies und deshalb der Heilung bedurfte. Insbesondere im Wegfallen sinnstiftender Symbole, ja in der aktiven, anhaltenden Zerstörung der Symbolwelt seit der Reformation, sah Jung eine der Ursachen für die seelische Desorientierung, unter der seine Patienten — und auch er selbst — zu leiden hatten. Zwei Hauptmomente durchziehen Jungs Werk wie ein roter Faden, die er für die kollektive Desorientierung mitverantwortlich macht: die Ideologien der Moderne und das Christentum. Anders als die völkische Psychologin Mathilde Ludendorff, die die Kirchen in gänze ablehnte, weil sie ihnen die gezielte seelische Entwurzelung der Völker mittels Psychomanipulation unterstellte, wodurch die Völker anfällig für „induziertes Irresein durch Occultlehren“ würden4, war Jung hin- und hergerissen zwischen einer kritischen und einer affirmativen Haltung zum Christentum. Einerseits hatte er in seiner Jugend den christlichen Glauben als tote Tradition kennengelernt, weil er mit Symbolen und Mythen operierte, die ihm nicht einmal sein eigener Vater, der reformierte Pfarrer, erklären konnte. Andererseits war ihm klar, daß das Christentum ein integraler Bestandteil der europäischen Zivilisation war, und daß man das Kind nicht einfach mit dem Bade ausschütten konnte. Jung wußte, daß Symbole psychische Energien zu bündeln vermochten, die frei flottierend zu einem echten Problem für die Gesellschaft, wenn nicht sogar für die ganze Welt werden konnten. So richtete sich seine Kritik am Christentum auch vornehmlich auf den bilderstürmenden Protestantismus: „Zufolge der Niederreißung der Schutzmauern hat der Protestant die heiligen Bilder als Ausdruck wichtiger unbewußter Faktoren verloren, zusammen mit dem Ritus, welcher seit undenklichen Zeiten ein sicherer Weg gewesen ist, mit den unberechenbaren Kräften des Unbewußten fertig zu werden. Ein großer Betrag an Energie wurde so befreit und floß sogleich in die alten Kanäle der Neugier und Eroberungssucht, wodurch Europa die Mutter von Drachen wurde, welche den größeren Teil der Erde verschlungen haben.“5 Auch hier läßt Jung es sich nicht nehmen, seinen antideutschen Ressentiments Ausdruck zu verleihen: „Aber da der Protestantismus das Glaubensbekenntnis der abenteuerlustigen germanischen Stämme geworden ist mit der für sie charakteristischen Neugier, Eroberungssucht und Rücksichtslosigkeit, ist es möglich, daß ihr besonderer Charakter sich mit dem Frieden der Kirche nicht vertrug, wenigstens nicht auf Dauer. Es sieht aus, als ob sie noch nicht ganz so weit waren, daß sie einen Erlösungsvorgang ertragen und sich einer Gottheit unterwerfen konnten, welche sich sichtbar gemacht hatte im großartigen Aufbau der Kirche. Es war vielleicht zuviel vom Imperium Romanum oder von der Pax Romana in der Kirche, zuviel wenigstens für ihre Energien, die damals und auch heute noch ungenügend domestiziert sind“6, so die Sicht des Schweizers in seinem Aufsatz „Dogma und natürliche Symbole“ im Jahr 1939. Wir begnügen uns an dieser Stelle mit einem Hinweis auf die Tatsache, daß — im Gegensatz zum barbarischen Germanien — das von den Reformatoren Calvin und Zwingli domestizierte Alpenland keinen einzigen nennenswerten Komponisten hervorgebracht hat. Was hier auch mitschwingt, ist die teilweise verklärende Rückbesinnung auf die katholische Kirche, die Jung mit vielen protestantischen und moderne-kritischen Denkern teilt. Insbesondere der vor-modernen Qualität des katholischen Denkens in Kategorien wie Mysterium und Paradox war Jung sehr zugetan, da diese den irrationalen Kräften des Unbewußten eher gerecht zu werden schienen als der blutleere, bildarme Rationalismus der Protestanten. Jungs Tiefenpsychologie, die ja eigentlich „Seelsorge“ für den modernen Menschen zu sein versucht, ist sicherlich auch als Strategie zur Rettung des Christentums zu verstehen: sie erweitert die Resonanzräume für die individuelle Sinnfindung im Zeitalter der Moderne, ohne jedoch in Konkurrenz zum christlichen Glauben treten zu wollen. Wo immer es ging, empfahl Jung seinen Patienten die Rückkehr in den Schoß ihrer jeweiligen religiösen Tradition. Für Jung waren die Religionen die großen Heilsysteme der Menschheit, und alle psychischen Probleme, die er bei Patienten über 35 analysiert hatte, erschienen ihm als „Probleme der religiösen Einstellung“: „Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits der 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, daß er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht …“ (Ges. Werke 11, S. 362). So brachte er zum Beispiel eine jüdische Patientin, die typische neurotische Symptome einer intellektuellen, modernen Großstädterin aufwies, wieder in Kontakt mit der Tradition ihrer Vorväter: Im therapeutischen Gespräch hatte sich herausgestellt, daß der Großvater ein chassidischer „Zaddik“ gewesen war. Wie Jung in seinen Memoiren berichtet, war diese Erinnerung und Rückverbindung mit dem Glauben des Großvaters ihrer Genesung sehr zuträglich.7 Allerdings: Bei dieser Heilungsgeschichte geht es nicht nur um die Rückkehr zu einer Tradition, sondern auch um die liebende Zuwendung zu den eigenen Ahnen — die aber natürlich immer einem konkreten Volk angehören.

Heilung der Ahnenreihe

Selbst die ansonsten eher links-grün eingestellte psychospirituelle Szene nähert sich inzwischen Positionen an, die man bisher nur in nationalistischen Kreisen zu denken wagte. So liest man mit Erstaunen in der Februar- Ausgabe der kostenlosen Esoterik-Zeitschrift Sein, daß eine sibirische Schamanin namens Ayla in Berlin und Cottbus Workshops anbietet, in denen Teilnehmer Kontakt zu den Ahnen ihres Volksstammes aufnehmen können.8 Der Begleittext ist zwar allgemein gehalten, ist aber eindeutig auf die deutsche historische Erfahrung zugeschnitten. Man liest hier: „Jeder Mensch ist nicht nur genetisch, sondern auch energetisch Teil seiner Ahnenreihe. Und so wie ein Baum seine Wurzeln hat, so erben wir auch von unseren Vorfahren sowohl ihren Schmerz als auch ihre Kräfte und Potenziale.“ (…) „Aufgrund des Verlusts der Verbindung zu den Ahnen verlor der Mensch einen großen Teil seiner Kraft, die ihn darin unterstützt, gesund und wohlhabend zu sein und ein glückliches Familienleben zu führen.“ (…) „Wir alle sind Bürger irgendeines Landes — auch das ist Teil unserer Wurzeln. Wenn unsere Nation eine schwere Zeit durchlebt, den Verlust von Selbstvertrauen zu beklagen hat und das Gefühl von Schuld auf sich lädt (zum Beispiel durch einen Krieg), dann fließt auch genau diese Energie in die auf diesem energetischen Feld stehenden Ahnenbäume. Darin liegt oftmals der Grund, daß die Ahnenreihen nicht gesund werden. Wenn der Schmerz in der Nation, im Volk, sitzt, können die familiären Stammbäume von sich aus kaum gesunden.“ Daß unser politisch verordnetes, historisches Narrativ uns dazu zwingt, eine gesamte Ahnengeneration zu dämonisieren und damit unsere eigenen energetischen Kraftquellen zuzuschnüren, wird zwar nicht explizit erwähnt, aber es steht natürlich unübersehbar zwischen den Zeilen. Neben der Heilung der Ahnenreihe werden auch von anderen Therapeuten auffallend viele Vorträge und Workshops zu den Themen „Selbstliebe“9 und „Auflösung von Schuld“ angeboten. Der deutschstämmige spirituelle Lehrer und Bestsellerautor Eckhard Tolle, der inzwischen in Kanada lebt, erklärt die Beschaffenheit des „individuellen und kollektiven Schmerzkörpers“10 und wie man sich davon freimacht. Auch die Therapeutin Sylvia Harke, die sich auf die maßgeblich durch Jung geprägten Gebiete Hochsensibilität und Kreativität spezialisiert, erklärt in ihrem Videoclip „Auflösung übertriebener Schuldgefühle“ auf YouTube die psychologischen Mechanismen von Schuld. In einem Nebensatz erwähnt sie, das Schuldthema sei auch auf kollektiver Ebene eigentlich „sehr, sehr groß, wenn Sie sich das mal ganz genau anschauen“, ohne daß sie jetzt dabei auf Einzelheiten eingehen möchte.11 Gerd „Bodhi“ Ziegler, der sich als Pionier im Bereich spirituelle Therapie und Transformationsarbeit bezeichnet und sich auf die Liebe spezialisiert, spricht von einem kollektiven Energiefeld, das hinter dem persönlichen Schmerz aktiv sein kann und den Zugang zur Liebe versperrt. Da es häufig auf „Schuldprogrammen, die uns klein halten“ beruht, die eine echte Liebeserfahrung verhindern — Schmerz, Angst und Schuld bilden hier eine Einheit —, zielt seine Transformationsarbeit darauf ab, dem tiefsten Schmerz zu begegnen (der begrenzt ist), und sich ihm grenzenlos hinzugeben. Die wahrhaftige Konfrontation führt, so Ziegler, zwangsläufig zur Auflösung des Schmerzes und der Schuldprogramme und macht den mit negativen Energien besetzten emotionalen Raum frei für Erfahrungen von Liebe, Frieden und echter Verbundenheit.12 Man mag von der Esoterik-Szene halten was man will: Gegen die Auflösung von „Schuldprogrammen, die uns kleinhalten“, ist eigentlich nichts einzuwenden. Die Tatsache, daß selbst in der New-Age-Szene scheinbar politischen Fragen auf psychologischer Ebene nachgegangen wird und vielleicht sogar wirksame Lösungen auf energetisch-emotionaler Ebene gefunden werden, zeigt wohl, wie dringend diese Fragen für das Überleben unseres Volkes sind, und wie sehr sie unser seelisches Erleben und unsere Liebesfähigkeit berühren. Oberflächliche Methoden wie Selbsthypnose durch Liebesmeditationen und Affirmationen sind längst passé – es geht jetzt ans Eingemachte, und man stellt sich, wieder eine jungianische Denkfigur, dem dunkelsten aller Schatten: Nicht einer tatsächlich begangenen Schuld, sondern einem eingeredeten bzw. tradierten Schuldgefühl, das unsere Lebensenergien blockiert. Die Tatsache, daß diese Heilmethoden nun von modernen Schamanen, Psychologen und psychospirituellen Lehrern entwickelt werden, spricht übrigens nicht gerade für unsere modernen Künstler, Literaten und Intellektuellen. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe, diese Dinge mutig anzusprechen und kreative Lösungen zur Heilung der Volksseele zu finden – zumindest wenn man Jungs archaische Auffassung von der gesellschaftlichen Aufgabe des Künstlers teilt. Nach Jung steht der Künstler in der Tradition der Seher, Propheten und Heiler. Weder bei Picasso noch bei James Joyce konnte Jung diese für die Gesellschaft überlebenswichtige Qualität entdecken.

Alchemie

Jungs Versuch der Rettung des Christentums verlief wesentlich über den verdrängten alchemistischen Untergrund der Renaissance, der für ihn den Schlüssel zur Heilung der europäischen Tradition barg. Seine Beschäftigung mit alchemistischen Werken und Symbolen der Wandlung ist alles andere als okkultistisch; es zeigt sich darin eine Grundtendenz des Jungschen Denkens, das Irrwege, Krisen, Probleme und Schattenseiten des menschlichen Daseins in ihrer Negativität benennt, aber gleichzeitig immer die Ganzheit und die Heilung im Blick hat und bereit ist, das positive Potential in einer Negativität zu sehen. Besagte psychospirituelle Szene und auch praktizierende Psychotherapeuten in Deutschland haben diesbezüglich sehr viel von Jung übernommen. Schlagwörter wie „Krise als Chance“ entspringen der Jungianischen Auffassung, daß jede Neurose einen Sinn hat und letztlich Gutes für uns will: sie bringt uns dazu, innezuhalten und uns zu fragen, ob unser Leben wirklich im Einklang steht mit unserem inneren Auftrag, mit unserer Natur. Auch wenn man ein derart optimistisches Narrativ von Krankheit zumindest auf kollektiver und politischer Ebene als Selbsttäuschung empfinden mag – wo genau ist jetzt das positive Potential in der Überflutung europäischer Länder mit fremden Volksstämmen? Und was soll daran gut sein, daß man einem Volk die Alleinschuld für alle Ungerechtigkeiten der Welt aufbürdet? – so fördert es zumindest auf persönlicher Ebene eine reflektierte, schöpferische Haltung zum Leben und einen lösungsorientierten Umgang mit allen Problemen, die uns begegnen. Jung hat sie nicht erfunden; er führt im Grunde genommen eine Denktradition fort, die besonders charakteristisch für den deutschsprachigen Raum ist, ohne daß dies den meisten Deutschen überhaupt bewußt wäre. Nicht einmal Jung scheint sich das klar gemacht zu haben. Britischen Vertretern der „Perennial Philosophy“ – zu der sich übrigens auch Prinz Charles bekennt13 – ist aber offenbar inzwischen schon aufgefallen, daß sich im deutschen Sprachraum eine grundlegend andere Sicht auf die Welt manifestiert hat, und daß Jung in einer spezifisch deutschsprachigen Geistestradition steht: „Es ist kaum bekannt, daß sich die Sichtweise des deutschen Denkens auf die uns umgebende Welt, und vor allem auf das Verhältnis des Menschen zur Welt, deutlich von den Hauptströmungen unserer [der englischsprachigen, Anm. d. Übers.] Denktradition unterscheidet. Zum Teil vom alchemistischen Denken des Mittelalters und der Renaissance geprägt, das in den deutschsprachigen Ländern die reichsten Blüten trieb, entwickelten diese Völker ein Weltverständnis –, und vor allem ein Verhältnis zur Welt – das dem Denken, das man in Indien und anderen Teilen Asiens antrifft, häufig näher ist als dem Empirismus der britischen Tradition oder dem Rationalismus der Franzosen“. (Stephen Cross, Jack Herbert: Inward Lies the Way. German Thought and the Nature of Mind, London: Temenos Academy 2008). Was hier gemeint ist, ist wohl das alte asiatische Denken, für das Jung sich sehr interessierte und das sich mit den animistischen bzw. mystischen Strömungen der deutschen Geistestradition gut verträgt – also der Annahme einer „Durchseeltheit“ der Welt, die alles Lebendige miteinander verbindet und in der Grundtendenz optimistisch ist. Nicht zufällig schließt Jungs Essay über „Das Seelenproblem des modernen Menschen“ (1928) mit Hölderlins Ausspruch „Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch“, den man übrigens auch als Paraphrase des eingangs zitierten paracelsischen Gesetzes lesen kann.

Coda

Jungs Beschreibungen des deutschen Charakters und der deutschen Seele sind auch insofern mit Vorsicht zu begegnen, als Jung sich nach seinem Bruch mit Freud zunehmend dem Druck ausgesetzt sah, sich zu rechtfertigen und sich vom nationalsozialistischen Deutschland zu distanzieren. Man könnte auch vermuten, daß ihm als Schweizer, der in einem reformierten Pfarrhaus großgeworden war, der dionysische Zug im Germanischen tatsächlich nicht ganz geheuer war. Aber nicht nur in bezug auf „Seelenverlust“ bietet Jungs Werk interessante Impulse: Auch seine Zeitkritik ist immer wieder eine Bereicherung – insbesondere seine Kritik an der Moderne, einschließlich der modernen Kunst, und am materialistischen Wissenschaftsbegriff. Ebenso interessant ist seine von großer Wertschätzung geprägte Beschäftigung mit vormodernen und außereuropäischen Kulturen, bei gleichzeitigem Wissen darum, daß eine Heilung der europäischen Zivilisation nicht durch Rückgriff auf das I Ging oder die Upanischaden, sondern aus einer Besinnung auf verschüttete Denktraditionen in der eigenen Kultur erfolgen muß. Bei all dem besonders einnehmend ist die ihm eigene Bescheidenheit, die auch sein Selbstverständnis als Arzt prägte: „Der Arzt muß der Natur als Führerin folgen und was er dann tut, ist weniger Behandlung als vielmehr Entwicklung der im Patienten liegenden schöpferischen Keime“ (Jung, GW XVI, 44).

Anmerkungen

1 „The Postwar Psychic Problems of the Germans“, in: C. G. Jung Speaking: Interviews and Encounters, hg. v. William McGuire und R. F. C. Hull. London: Picador 1980, S. 153–158. Hier: S. 156.
2 Kai Hammermeister, „Was ist konservative Literatur?“ in: Erträge. Schriftenreihe der Bibliothek des Konservatismus, hg. v. der Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung, Berlin 2014, S. 103–104.
3 Marie-Louise von Franz, Spiegelungen der Seele. Projektion und innere Sammlung in der Psychologie C. G. Jungs, Stuttgart: Kreuz Verlag, 1978.
4 Mathilde Ludendorff, Induziertes Irresein durch Occultlehren, Pähl: Hohe Warte 1970.
5 C. G. Jung, „Dogma und natürliche Symbole“, in: Menschenbild und Gottesbild, Grundwerk Bd. 4, Olten: Walter, 1984, S. 41–67. Hier: S. 53.
6 Ebd.
7 C. G. Jung, Träume, Erinnerungen, Gedanken. hg. v. Aniela Jaffé, Solothurn und Düsseldorf: Walter 1971, S. 144.
8 Freya Alina Last, „Die Kraft der Ahnen“, in: Sein. Bewusstsein intelligent leben. 02/2016, S. 34–35.
9 z.B. Veit Lindau, „Selbstliebe – Die Kraft aus dem Innern“: www.youtube.com/watch? v=VFP1ks2B01s
10 www.youtube.com/watch= Sb_YCOkbh8A
11https://www.youtube.com/watch?v=93bn6yp7Klo
12 „Bedingungslose Liebe mit Veit Lindau und Bodhi Ziegler“: www.youtube.com/watch? v=yeWjsCy98j4. Siehe auch: Gerd „Bodhi“ Ziegler: Wer liebt hat alles. Liebe, Sexualität und Partnerschaft befreit leben. Bielefeld 2015.
13 The Prince of Wales. Harmonie. Eine neue Sicht unserer Welt, München: Riemann 2010.
Literaturhinweise
Sandra Ingerman: Soul Retrieval. Mending the Fragmented Self, New York 1991, S. xii.
Sabine Bode: Kriegsenkelkinder. Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart, zuletzt 2015.
Jung, Das Rote Buch, hrsg. v. Sonu Shamdasani, Düsseldorf 2009.
Jung, „Wotan“ (1936) in: GW X, S. 203–218.
Jung-Interview mit John Freeman, BBC, London 1959.
William McGuire, R. F. C. Hull (Hrsg.), C. G. Jung Speaking: Interviews and Encounters, London 1980.
Colin Liddell, „The Need for German Moral Rearmament“
www.counter-currents.com/2015/04/the-need-for-german-moral-rearmament/

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com