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Eine notwendige Richtigstellung

Von Marcel Grauf

Was Coudenhove-Kalergi wirklich wollte

Nur wenige Autoren, die sich mit der Idee einer europäischen politischen Ordnung beschäftigten, dürften unter den deutschen Rechten eine solche Bekanntheit erlangt haben wie Graf Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi. Kaum ein Beitrag, der die ideologische Ausrichtung der Europäischen Union zu ergründen versucht, versäumt es, Coudenhove-Kalergi zu zitieren oder ihn wenigstens als geistigen Vater der EU zu präsentieren. Gipfeln kann dies fallweise auch in der Aussage, daß ein sogenannter „Kalergi-Plan“ in der unmittelbaren Umsetzung sei, der, zwecks Verwirklichung eines nicht näher bekannten Zieles, auf die Auslöschung der europäischen Völker ziele.

Obwohl oft zitiert, scheint Coudenhove-Kalergi gleichzeitig einer der am wenigsten gelesenen Autoren zu sein. Daß wieder und wieder dieselben Zeilen aus seinen Werken zitiert werden, läßt vermuten, daß ein Studium der Quellen bei den zahlreichen Autoren zumeist ausgeblieben ist und vielmehr ein „rechtes Zitierkartell“ besteht, das munter voneinander abschreibt. Wer Coudenhove-Kalergis Schriften kennt und unvoreingenommen studiert hat, erkennt schnell, welche Irrtümer hier immer wieder kolportiert werden. Die verwendeten Textfragmente werden nicht nur, vermutlich mit der Absicht einer falschen Darstellung, verkürzt dargestellt, sondern es werden Aussagen auch in einer Art und Weise dargestellt, wie sie bei einer sachgemäßen Betrachtung der Quellen schlicht nicht haltbar sind. Nicht weniger sträflich erscheint hier die ständige Darstellung der Schriften als normative Pamphlete, sprich eine von Soll-Aussagen geprägte, polemische Stellungnahme. Coudenhove-Kalergi, der zwar von Normen getrieben war, unternahm selbstverständlich auch den Versuch, die politischen Prozesse und gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit zu analysieren und die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Nie war er reiner Analytiker. Selbst in seinem Werk Praktischer Idealismus weist der Schriftsteller darauf hin, daß sich seine Einteilungen und Verallgemeinerungen „auf ästhetische, nicht auf mathematische Wahrheiten“1 begründen. Wer es aber unterläßt, darauf hinzuweisen, welche Teile der Schriften Coudenhove-Kalergis als Analyse, Prognose oder als Wunschvorstellung des Autors zu werten sind, verhindert, daß diese Schriften in einen sachgemäßen Kontext eingeordnet werden.

Die Europäer: Schicksals- und ­Kulturgemeinschaft

Was nun aber hat Coudenhove-Kalergi tatsächlich geschrieben? Welche Analysen waren zutreffend, welche Aspekte vernachlässigte er, welche seiner Prognosen haben sich bewahrheitet und welche seiner Forderungen verwirklicht? Coudenhove-Kalergi war nicht der erste Autor, der sich Gedanken über ein gesamteuropäisches Staatengebilde machte. Sicher gingen nicht alle alten Europavorstellungen hinsichtlich des institutionellen Gebildes ins Detail und blieben eher abstrakt – wie etwa Dante Alighieris Monarchia. Völlig neu ist Coudenhove-Kalergis Vorstellung jedoch nicht. So finden wir schon im Weltfriedensplan des französischen Beamten Pierre Dubois oder im Föderations-Plan mit 21 Artikeln des böhmischen Königs Georg von Podiebrad Vorschläge zu einer weitgehenden Vergemeinschaftung Europas, die in Teilen sehr viel vertiefender sein sollte, als es in der heute real existierenden Europäischen Union der Fall ist. Dennoch finden wir keine Artikel, welche Dubois und Podiebrad verteufeln oder die Verwirklichung ihrer Pläne erkennen wollen. Selbstverständlich wäre es vor dem Hintergrund völlig anderer politischer Umstände auch absurd, Pläne aus dem 14. oder 15. Jahrhundert heranzuziehen und ihre gegenwärtige konkrete Umsetzung zu behaupten. Doch auch Coudenhove-Kalergis Pan-Europa wurde schon 1923 verfaßt. Als aktuell kann also auch dieses Werk nicht bezeichnet werden. Gerechterweise muß darauf hingewiesen werden, daß Pan-Europa in einem vergleichsweise überschaubaren zeitlichen Abstand vor Gründung der Europäischen Gemeinschaften erschien und ein Zusammenhang mit den gegenwärtigen europäischen Strukturen viel eher zu finden wäre. Auch waren es sicher einige von Coudenhove-Kalergi genutzte Schlüsselbegriffe, welche auf seine Schriften aufmerksam machten. Warum aber hat der Graf und sein „Plan“ einen solchen Bekanntheitsgrad in rechten Medien erlangen können? Und wie verhält sich diese im Verhältnis zu seinem tatsächlichen politischen Gewicht im Nachkriegseuropa des 20. Jahrhunderts?
Coudenhove-Kalergi war im Gegensatz zu den Nachkriegs-„Europäern“ nicht nur vom Frieden als einziger Norm getrieben. Er betrachtete die Europäer als eine Schicksals- und Kulturgemeinschaft, aber auch als eine biologische Einheit.2 Wenigstens noch 1923 beschreibt er Europa als das „qualitativ fruchtbarste Menschenreservoir der Welt“3. Europa aber sei bedroht. Nicht biologisch, wie wir es heute sehen, sondern vielmehr durch ein politisches System, das dazu führe, daß sich die Menschen Europas fortwährend bekämpften und so Europa auf seinen Niedergang zusteuerten. Dem Untergang in Selbständigkeit zu entgehen, sei daher nur möglich, wenn sich die europäischen Völker in einem politisch-wirtschaftlichen Zweckverband vereinigten.4 Es darf hierbei nicht vergessen werden, daß Pan-Europa in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verfaßt wurde. Die Folgen eines europäischen Bruderkrieges waren noch allgegenwärtig, der Krieg in Form von Besatzungen noch zugegen. Er war sich sicher, daß Europa auf Dauer nicht überleben könne, wenn nicht eine politische Vereinigung zur Vermeidung von innereuropäischen Kriegen beitrage.
Darüber hinaus sah Coudenhove-Kalergi aber auch das abnehmende Gewicht Europas in der Welt. Dem zerstückelten Kontinent standen neben Rußland auch die Vereinigten Staaten entgegen. Vor allem in Rußland und der späteren Sowjetunion sah Coudenhove-Kalergi, auch nach dem Zweiten Weltkrieg, eine der größten Bedrohungen Europas überhaupt. Wer nun schlußfolgert, daß er somit das Heil Europas in einer Errettung durch die Vereinigten Staaten von Amerika sah, irrt. Europa könne sich nur allein helfen, da weder der Westen noch der Osten die Absicht habe, Europa zu retten. Oder in seinen Worten: „Rußland will es erobern – Amerika will es kaufen.“5 Eine Einschätzung, die wir in diesen Tagen teilen mögen. Sowohl nach innen als auch nach außen könnte Europa sein Fortbestehen also nur gemeinsam behaupten.

Weltpolitische Analysen großteils überholt

Sein Ansinnen beinhaltete also eine politische Zusammenführung der europäischen Staaten und Völker in einem, dies vorweg, föderalen System. Nun gilt Coudenhove-Kalergi freilich nicht als Begründer des Föderalismus. Selbst hinsichtlich einer europäischen Dimension darf ihm mit Rückblick auf historische Europakonzeptionen abgesprochen werden, der Erfinder des europäischen Föderalismus zu sein. Seine politische Vision mag in seiner Zeit zwar eine nicht weitverbreitete gewesen sein, doch erscheint sie uns aus unserer heutigen Perspektive als weniger spektakulär, als es uns manche Artikel glauben machen wollen. Coudenhove-Kalergi forciert diesen Gedanken insbesondere vor dem Hintergrund des beginnenden 20. Jahrhunderts, zeigt Konfliktlinien auf und versucht, hierzu Stellung zu nehmen. Reden wir über Europa, können wir uns diese Fragen zum Teil heute noch stellen, andere wiederum sind längst hinfällig. Die Frage, ob Rußland, wenigstens hinsichtlich eines möglichen politischen Verbandes, Teil Europas ist, kann auch heute noch diskutiert werden. Ob jedoch England oder Großbritannien zu Europa gehört, wird heute kein Teil einer seriös geführten Debatte mehr sein – nicht nur, weil England ganz zweifellos Teil der europäischen Kulturgemeinschaft ist, sondern auch weil Großbritannien seinen Status als Weltmacht wie in den 1920er Jahren nicht aufrechterhalten konnte. Auch die Frage, wie mit den französischen, belgischen, portugiesischen, italienischen, spanischen, holländischen und dänischen Kolonien und Territorien umzugehen sei, hat für uns heute keinerlei praktische Bedeutung mehr. Der Kolonialismus in dieser Form ist uns heute nicht mehr bekannt. Große Teile von Coudenhove-Kalergis weltpolitischen Analysen sind also längst überholt und nur noch im historischen Rückblick interessant. Andere Aspekte, wie die selbstverständliche Zuordnung der Türkei zu Asien, wenigstens politisch6, werden von gegenwärtigen EU-Laudatoren gern vergessen, wenn Coudenhove-Kalergi wieder als geistiger Vater der Europäischen Union präsentiert oder sein Name für Preisverleihungen herangezogen wird. Das gleiche Schicksal ereilte übrigens auch Friedrich Naumann. Während die nach ihm benannte Stiftung einer Erweiterung der Union um die Türkei nicht entgegensteht, schloß Naumann eine Einbindung der Türkei aus kulturellen Gründen aus.
Auch wenn sich die politischen Rahmenbedingungen seit dem Erscheinen von Pan-Europa wesentlich verändert haben, lohnt ein Blick auf die institutionellen Vorschläge Coudenhove-Kalergis zur Neuordnung Europas. Er plädierte für die Einrichtung zweier europäischer Kammern, wobei eine als „Völkerhaus“, die andere als „Staatenhaus“ bezeichnet wurde. Das „Völkerhaus“ sollte aus seiner Sicht mit je einem Abgeordneten auf eine Millionen Europäer besetzt werden, was dem Europäischen Parlament wenigstens nicht hinsichtlich der Zusammensetzung entspricht, das die Bürger lediglich degressiv proportional repräsentiert. Das „Staatenhaus“ entspricht in etwa der Europäischen Kommission. So sollte jede europäische Regierung einen Vertreter entsenden.7 Ein wesentlicher gedanklicher Unterschied findet sich jedoch in der Frage nach der Intensität der europäischen Integration. Während die Europäische Union eine immer engere Union anstrebt8, stellt Coudenhove-Kalergi den Staaten in Aussicht, innerhalb der Föderation über ein Maximum an Freiheit zu verfügen9.
Zur Durchsetzung seiner Idee formulierte er unmißverständlich, daß alle „demokratischen“ Parteien die pan-europäische Bewegung unterstützen müßten. Die Feinde der europäischen Einigung erkannte er in nationalen Chauvinisten, Kommunisten, Militaristen und Schutzzollindustrien. Die größte Gefahr ginge hier von letzteren aus10:
„Sie werden also den Kampf gegen Pan-Europa mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln führen. Sie werden Zeitungen kaufen und in den Dienst des Staates stellen, sie werden Bücher und Artikel bei Nationalökonomen bestellen, die den Nachweis erbringen sollen, der intereuropäische Freihandel bedeute den Ruin Europas. Sie werden versuchen, England gegen die paneuropäische Union aufzuhetzen, sie werden Nationalisten und Militaristen unterstützen und von nationaler Ehre reden, wo sie nur um den eigenen Profit zittern. Sie werden sogar versuchen, ihre kommunistischen Todfeinde als Sturmböcke gegen den Pan-Europismus zu verwenden und mit demagogischen Mitteln die Arbeiterschaft gegen Pan-Europa zu mobilisieren.“11

Blut- und Geistesadel bringt keine Vorbilder mehr hervor

Welch Ironie, daß gegenwärtig ebenjene Mittel genutzt werden, um die Europäische Union auch gegen den Willen der Völker Europas zu behaupten. So sind es doch gerade heute die Nationalisten, die in Europa nicht nur ein wirtschaftliches Konstrukt, sondern auch eine Kultur- und Schicksalsgemeinschaft sehen. Coudenhove-Kalergi erwartete jedoch staatlicherseits auch keine erzwungene Zusammenführung, wenngleich er den Staaten in der praktischen Umsetzung eine zentrale Rolle zusprach. Vielmehr erwartete er eine breite Bewegung über die Stände hinweg, die aus dem Volk heraus den Willen äußert, Europa zu vereinigen.12 Diese Erwartung, ja Überzeugung, hat sich bisher bekanntermaßen, wenigstens in der Masse, nie bewahrheitet. Das erzwungene Wirtschaftskonstrukt Europäische Union, das die Norm des europäischen Friedens nur zur Legitimation nutzt, hat es nie geschafft, die Herzen der Europäer zu gewinnen. Coudenhove-Kalergi hat in seiner Wunschvorstellung wohl eines der größten Versäumnisse der Europäischen Union angesprochen. Während für ihn die gesellschaftliche und kulturelle Komponente ein selbstverständlich wichtiger Faktor war, glaubt die Europäische Union, die nur nach Funktionalität gegründet und nach institutioneller Logik geführt wurde und wird, daß ihr die Völker Europa gutgläubig und womöglich dankbar folgen. Eine besondere Loyalität gegenüber dem politischen System scheint sich jedoch nie entwickelt zu haben. Wir mögen also gewisse Parallelen zwischen Pan-Europa und der heute real existierenden Europäischen Union erkennen. Genauso sehen wir aber grundlegende Unterschiede sowohl im Wesen der Institutionen als auch in der Umsetzung. Wer also in der Europäischen Union die Verwirklichung von Coudenhove-Kalergis Pan-Europa erkennt, muß sich vorwerfen lassen, sich einer sehr oberflächlichen Betrachtung zu frönen.
Obwohl Pan-Europa das bedeutendste Werk Coudenhove-Kalergis sein dürfte, findet vor allem sein Praktischer Idealismus Eingang in Artikel, die ihm unterstellen, die Auslöschung der europäischen Ethnie zu fordern oder gar zu planen. Konkret wird behauptet, er plante die Schaffung einer „eurasisch-negroiden Zukunftsrasse“13, die wiederum von einem „geistige[n] Herrenvolk der Juden“14 geführt werden solle. Beide Begrifflichkeiten finden sich in Praktischer Idealismus. Beide, übrigens an verschiedenen Stellen des Buches zu finden, können aber nicht als Forderung Coudenhove-Kalergis verstanden werden. Wie dargelegt werden soll, ist die erstere Formulierung im Zusammenhang mit einem möglichen Verlauf künftiger Menschheitsgeschichte zu sehen, in der er sowohl positive als auch negative Aspekte erkennt. Hinsichtlich des „geistige[n] Herrenvolk[es] der Juden“ muß gezeigt werden, in welchem Zusammenhang diese Formulierung überhaupt steht.
Bevor Coudenhove-Kalergi eine „eurasisch-negroide Zukunftsrasse“ prognostizierte, beschäftigte er sich mit den beiden Polen menschlichen Daseins, die für ihn der Stadt- und der Landmensch sind. Beiden weist er positive wie negative Eigenschaften zu. Diese Eigenschaften könnten durch „Kreuzung“ in Teilen verlorengehen, aber auch erhalten und kombiniert werden. Zwar weist er auf die möglichen positiven Aspekte von Kreuzungen hin, erkennt aber auch, daß nicht jede Kreuzung einen wünschenswerten Menschentypus hervorbringen muß: „Wo Inzucht [Rustikalmensch/Landmensch] und Kreuzung [Urbanmensch/Stadtmensch] unter glücklichen Auspizien zusammentreffen, zeugen sie den höchsten Menschentypus, der stärksten Charakter mit schärfstem Geist verbindet. Wo unter unglücklichen Auspizien Inzucht und Mischung sich begegnen, schaffen sie Degenerationstypen mit schwachem Charakter, stumpfem Geist.“15
Bis zu diesem Punkt beschäftigt sich Coudenhove-Kalergi also nicht zentral mit der Vermischung der Rassen. Allerdings fügt er an, daß die bestehenden Rassen und Kasten mit der „Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil“16 keinen Bestand in der Zukunft haben werden. Daß Coudenhove-Kalergi hiermit falsch lag, soll noch erörtert, an dieser Stelle aber hinten angestellt werden. Coudenhove-Kalergi steht dieser Entwicklung an dieser Stelle wenigstens nicht entgegen. Er prognostiziert sie nur und sieht in der Zukunft eine Vielfalt der Persönlichkeiten, die an die Stelle der Vielfalt der Völker tritt. Ebenso unterstreicht er aber, daß gerade die „Inzucht“, also die Nichtvermischung, den vollendesten Typus hervorgebracht hat, nämlich den Gentleman, den stoischen klassischen, apollinischen Blutadel.17
Dennoch sieht Coudenhove-Kalergi den alten Blut- und auch Geistesadel als gescheitert. Beide brächten keine Führer und Vorbilder mehr hervor, sondern hätten sich in großen Teilen an Herrscher und Kapital verkauft, statt dem Volk voranzugehen.18 Adel aber sei eine fundamentale Voraussetzung, um eine Gesellschaft nach vorne zu bringen, sie weiterzuentwickeln.19 Wenn der alte Adel also gescheitert ist und nur noch eine Fassade darstellt, bleibt es unverzichtbar, neue Aristokraten zu finden. Besondere Eigenschaften schreibt er hierbei den „Qualitätsrassen“ des Blutadels und des Judentums zu. Freilich nicht ohne einzuschränken, daß diese nur geeignet seien, sofern sie nicht dem Hof oder dem Kapital dienten. Die Kunst des Regierens sei nicht nur eine Eigenschaft, vielmehr ein Instinkt, der nicht erlernt, sondern jemandem im wahrsten Sinne des Wortes im Blute liege.20 Der nicht korrumpierte Blutadel ist nach Coudenhove-Kalergi also durch seine herangezüchteten Talente ein unverzichtbarer Teil der europäischen Führungselite – so wie der Blutadel seine Eigenschaften über Generationen entwickelte und festigte, verhalte es sich auch beim Judentum, was dazu führte, daß die Juden eine besondere Auslese durchliefen, weshalb ihnen eine besondere Qualität zugesprochen werden müsse. So spalteten sich die Juden in jene, die sich aus Willensschwäche, Skrupellosigkeit und Opportunismus taufen ließen, und jene, welche fortan eine kleine, aber ausgelesene Gemeinschaft bildeten.21 Mit anderen Worten: Coudenhove-Kalergi nimmt an, daß diese Auslese nur die Besten hervorgebracht haben oder eine Gruppe von Juden mit den besten Voraussetzungen. Das Judentum zeichne sich vor allen anderen durch seine geistige Überlegenheit aus. Dennoch leide das jüdische Volk durch seine Geschichte auch an „Zügen des Sklavenmenschen“22, die aber unter günstigen Umständen verschwinden könnten. Die Aristokraten der Zukunft seien jedoch „weder feudal noch jüdisch“23. Erst die Symbiose des Blut- und des jüdischen Geistesadels könne beiden ihre positiven oder wünschenswerten Eigenschaften abringen um einen neuen Adel zu schaffen.

Jüdische Rasse wurde an Exklusivität und Auslese von keiner anderen übertroffen

Manch einer mag sich an dieser Stelle hinsichtlich Coudenhove-Kalergis „Plänen“ bestätigt sehen. Tatsächlich sei aber auf eine wesentliche Tatsache hingewiesen: Coudenhove-Kalergi sah die Bedeutung des Judentums nicht aus religiösen oder ideologischen Gründen. Vielmehr erkannte er in ihm eine Gruppe, wie es keine andere in Europa gibt. Eine Rasse, die an Exklusivität und Auslese von keiner anderen übertroffen wurde und somit ihre speziellen Eigenschaften entwickeln konnte. Es ist also nicht die Rasse an sich, die einen gemeinsamen genetischen Ursprung haben muß, vielmehr spricht er von einer „Rasse“, die sich durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen und marginalisierten Gruppe zum europäischen Geistesadel entwickelt hat. Auch hier unterläßt es Coudenhove-Kalergi nicht, darauf hinzuweisen, welch unterschiedliche Wege solch exklusive Rassen gehen können. Statt Willensstärke und Geistesschärfe können sich auch Charakterlosigkeit und Beschränktheit herausbilden. Für Coudenhove-Kalergi war der Antisemitismus in Neid und Beschränktheit begründet.24 Diese Ansicht, sicher auch durch die Werke seines Vaters Heinrich Graf von Coudenhove-Kalergi herausgebildet, ließ ihn die Juden zwar als eine Gruppe mit besonderer Blutmischung betrachten, aber auch als einen Teil der europäischen Völker.
Obwohl sich Coudenhove-Kalergi als Demokrat verstand, macht er unmißverständlich deutlich, für wie unerläßlich er das Vorhandensein einer (guten) Aristokratie hält:
„Heute ist Demokratie Fassade der Plutokratie: weil die Völker nackte Plutokratie nicht dulden würden, wird ihnen die nominelle Macht überlassen, während die faktische Macht in den Händen der Plutokraten ruht. In republikanischen wie in monarchischen Demokratien sind die Staatsmänner Marionetten, die Kapitalisten Drahtzieher: sie diktieren die Richtlinien der Politik, sie beherrschen durch Ankauf der öffentlichen Meinung die Wähler, durch geschäftliche und gesellschaftliche Beziehungen die Minister.“25
Das Judentum nimmt hinsichtlich des Zukunftsadels seine zentrale Rolle nicht aus verschwörerischen Gründen, sondern aus praktischen Erwägungen ein. So könnte nach der Logik Coudenhove-Kalergis der von ihm als positiv bewertete mögliche Zukunftsadel auch von einer neuen Synthese verschiedener Menschengruppen abgelöst werden, sofern ersterer auch, wie der seinerzeitige Adel, der Dekadenz zerfällt. Besonders zu unterstreichen gilt es aber, daß die Vision Coudenhove-Kalergis nicht verwirklicht wurde. Der Blutadel verlor in Europa zunehmend an Bedeutung und ist heute, wenigstens in politischer Hinsicht, oft nur noch Repräsentant oder nimmt symbolische Funktionen ein. Wo der Adel noch in der Politik Einfluß nimmt, tut er dies, weil sich einzelne Persönlichkeiten hervorgetan haben. Zu einer Synthese, wie sie der Graf forderte, kam es bekanntlich nie.
Es wird den geneigten Leser vielleicht wundern, daß der „Adel“ in Praktischer Idealismus nur etwa ein Drittel des gesamten Werkes ausmacht. Es folgen noch die Kapitel „Apologie der Technik“ und „Pazifismus“. Eine detaillierte Analyse dieser Kapitel darf jedoch vor dem Hintergrund der vorliegenden Fragestellungen an anderer Stelle erfolgen.

Etliche Prognosen haben sich nicht bewahrheitet

Nicht nur, daß Coudenhove-Kalergis Vorschläge für Pan-Europa nicht umgesetzt wurden, wir müssen weiter feststellen, daß sich etliche seiner Prognosen nicht bewahrheitet haben. Obwohl er der weißen Rasse eine besondere Bedeutung zumaß, nahm er eine zunehmende Vermischung an. Tatsächlich stellen wir aber fest, daß wir trotz der Überwindung von Zeit und Raum noch eine deutliche Abgrenzung der Völker erkennen können, und zwar nicht nur zwischen Europa und der restlichen Welt. Auch innerhalb Europas erkennen wir noch in großen Teilen, wer Italiener, Spanier, Grieche, Deutscher, Engländer, Ire oder Pole ist. Ganz deutlich sehen wir aber, wer kein Europäer ist. Die Überwindung von Vorurteilen scheint entgegen der Annahme Coudenhove-Kalergis eben keine zu erwartende Entwicklung zu sein. Vielmehr sieht sich die gegenwärtige Politik gezwungen die Gleichheit der Völker und Kulturen, auch im ethnischen Sinne, durch eine regelrechte Propaganda zu manifestieren.
Man mag Coudenhove-Kalergi vorwerfen, historische Ideen und Modelle nicht verstanden oder ihr Wirken falsch analysiert zu haben, wie er es etwa im Falle des Faschismus tat. Ihm zu unterstellen, an der Auslöschung Europas gearbeitet zu haben, ist aber falsch. Zugute gehalten werden muß ihm an dieser Stelle aber auch seine Auffassung Europas als eine Kultur- und Schicksalsgemeinschaft. Eine Vorstellung, die den Denkern der heutigen Europäischen ­Union gänzlich zu fehlen scheint. Coudenhove-Kalergi teilt jedoch eine Ansicht mit seinen Kritikern. Beide Seiten schätzen den Einfluß der Pan-Europa-Union und der Ideen des Grafen als weitaus größer ein, als sie es letzten Endes waren. Noch 1953 sah Coudenhove-Kalergi eine Bewegung heraufziehen, der sich Millionen von Europäern anschließen werden, um in einem gemeinsamen Bewußtsein an einem gemeinsamen Europa zu arbeiten.26 Doch weder die Pan-Europa-Union noch Coudenhove-Kalergi spielten im politischen Prozeß der Integration der Europäischen Union eine aktive Rolle.27
Auf ein breites Erwachen der europäischen Völker warten wir noch heute. Sicher braucht es eine Avantgarde, die vorbildlich voranschreitet und dem Volk den Weg weist. Der Verlauf des 20. Jahrhunderts hat aber gezeigt, daß es hierfür nicht die Vermischung exklusiver Gruppen braucht. Die europäischen Völker selbst brachten und bringen aus ihrer Gesamtheit immer wieder hervorragende Persönlichkeiten hervor, die geeignet sind, Europa zu führen.

Eine Auseinandersetzung mit Denkschulen der Europäischen Union fehlt

Bleibt noch zu ergründen, warum Coudenhove-Kalergi eine solche Aufmerksamkeit erfährt. Unterstellt man keine Boshaftigkeit, scheint die Annahme einer mangelhaften Quellenanalyse und einer unsauberen und unkritischen, gar gutgläubigen Übernahme von qualitativ minderwertigen Artikeln zutreffend. Warum die deutsche „Rechte“ sich jedoch auf derlei „Pläuhhuuuuuuuuuune“ stürzt, bleibt fraglich. Einerseits muß doch festgehalten werden, daß das Vorhandensein oder auch das Nichtvorhandensein von „Verschwörungen“ gegen das deutsche oder europäische Volk in keinem Maße zur Veränderung der gegenwärtigen politischen Lage beiträgt. Nun mag es einfacher erscheinen, diese scheinbar planlose Politik mit solchen Pamphleten besser erklären zu können, doch birgt das Zitieren inhaltlich falscher Artikel, die sich mit historischen und vor allem überlebten Vorstellungen beschäftigen, nur die Gefahr, sich des Vorwurfs der Unseriosität auszusetzen. Vielleicht sind es aber auch eigene mangelnde Ideale oder die fehlende Eigenschaft, diese selbstbewußt zu vertreten. Wer sich selbst als Krone des Gerechtigkeitssinnes betrachtet und eine Politik nur abzulehnen vermag, wenn er tiefes Unrecht und Verschwörungen aufdeckt, scheint derlei Geschichten zur Legitimation des eigenen Handelns zu benötigen. Wer nicht bereit ist, sich einzugestehen, daß die eigene politische Idee mit den Freiheiten anderer unvereinbar sein kann, muß bereit sein, über diese anderen hinwegzugehen oder wird dank seiner schwachen Haltung nicht zur Veränderung beitragen können. Oder wie es Coudenhove-Kalergi formulierte: „Es gibt kein Leben der Tat ohne Unrecht, Irrtum, Schuld: wer sich scheut, dieses Odium zu tragen, der bleibe im Reiche der Passivität.“28
Gleichzeitig finden wir kaum Arbeiten von rechter Seite, welche sich mit den aktuellen und modernen Denkschulen der Europäischen Union auseinandersetzen und hier ihre Kritik, etwa an der Kulturlosigkeit dieser Theorien, äußern. Dieses, verbunden mit der Erkenntnis, daß sich aus manchen dieser theoretischen Modelle schon Ideologien entwickelt haben, würde eine sehr viel breitere und vor allem realitätsnahere Kritik an dem politischen Konstrukt der Europäischen Union erlauben. Die Namen Coudenhove-Kalergi, Earnest Hooton, Henry Morgenthau und Theodore Kaufman sind unverständlicherweise um ein vieles bekannter als Jean Monnet, Altiero Spinelli, Stanley Hoffman, David Mitrany oder Ernst Haas. Während sich mit letzteren die Denkschule und auch die Vorgänge innerhalb der Europäischen Union um ein vielfaches besser erklären lassen, bieten die ersteren vielleicht einfach die „besseren Geschichten“. Es spricht nichts dagegen, sich in einer objektiven Art und Weise mit derlei „Plänen“ zu beschäftigen; nicht jedoch ohne auch stets das politische Gewicht der Autoren zu erfassen und die tatsächliche Umsetzung zu prüfen und nicht nur willkürlich zu interpretieren. Wer aber beabsichtigt, die Europäische Union grundlegend zu kritisieren, wird nicht umhinkommen, sich auch mit den mitunter trockenen Theorien europäischer Integration zu beschäftigen.

Anmerkungen

1?Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus: Praktischer Idealismus, Pan-Europa-Verlag, Wien 1925: Vorbehalt.
2?Coudenhove-Kalergi, Richard, Nikolaus: Die europäische Nation, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1953: 24.
3?Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus: Pan-Europa, Pan-Europa-Verlag, Wien 1923: VIII.
4?Coudenhove-Kalergi, 1923: XI.
5?Coudenhove-Kalergi, 1923: XI.
6?Coudenhove-Kalergi, 1923: 36.
7?Coudenhove-Kalergi, 1923: 153 f.
8?Vertrag über die Europäische Union: Präambel.
9?Coudenhove-Kalergi, 1923: 153.
10?Coudenhove-Kalergi, 1923: 163.
11?Coudenhove-Kalergi, 1923: 164.
12?Coudenhove-Kalergi, 1923: 166–168.
13?Coudenhove-Kalergi, 1925: 23.
14?Coudenhove-Kalergi, 1925: 54.
15?Coudenhove-Kalergi, 1925: 22.
16?Coudenhove-Kalergi, 1925: 23.
17?Ebenda.
18?Coudenhove-Kalergi, 1925: 37.
19?Coudenhove-Kalergi, 1925: 44 f.
20?Coudenhove-Kalergi, 1925: 46 f.
21?Coudenhove-Kalergi, 1925: 50.
22?Coudenhove-Kalergi, 1925: 54.
23?Coudenhove-Kalergi, 1925: 55.
24?Coudenhove-Kalergi, 1925: 52.
25?Coudenhove-Kalergi, 1925: 39.
26?Coudenhove-Kalergi, 1953: 12.
27?Neisser, Heinrich: Die europäische Integration – eine Idee wird Wirklichkeit, Innsbruck University Press, Innsbruck 2008: 36.
28?Coudenhove-Kalergi, 1925: 22.

 
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