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„Demokratischer ­Konföderalismus“

Von Benedikt Kaiser, M. A.

Theorie und Praxis einer linken Idee


Ist es im globalen politischen System möglich, Enklaven zu bilden, die auf alternativen Herrschafts- und Wirtschaftsmodellen fußen und der Konzeption des klassischen Nationalstaates wie auch der Partizipation am kapitalistischen Weltmarkt entgegengesetzt sind? Immer mehr Menschen meinen: Ja. Viele berufen sich dabei auf Abdullah Öcalan und Murray Bookchin. Aber auch andere Akteure geben Antworten auf die Eingangsfrage(n).

Eine Antwort, zumindest in bezug auf die Entsagung kapitalistischer Verheißung, gibt auf die denkbar schlechteste Art und Weise das von der Kim-Familie diktatorisch regierte Nordkorea. Da das von einer teils bizarr anmutenden nationalbolschewistischen Ideologie gestählte Land keine Vorbildfunktion für andere Projekte innehat, kann dieser Sonderfall als stalinistisches Relikt des 20. Jahrhunderts beiseite geschoben werden: „Dreiteilung in Partei, Staat und Militär“1 der sogenannten chuch’e-Ideologie ist denjenigen, die nach politischen Konzepten des 21. Jahrhunderts suchen, schlichtweg unattraktiv.

Scharia-Gerichte und Föderalisierung

Eine andere Antwort, zumindest in bezug auf die Frage postnationalstaatlicher Ordnung, gibt Michael Wolffsohn, der bis ins Jahr 2012 dreißig Jahre lang als Professor für Neuere Geschichte an der Münchner Bundeswehruniversität wirkte. In seiner jüngsten Veröffentlichung mit dem ambitionierten Titel Zum Weltfrieden2 rät er zu einem System aus Föderalismen, das akute Krisen – etwa die weltpolitisch besonders bedeutsame in Palästina – aufheben oder zumindest eindämmen könnte. Wolffsohn meint, daß „föderative Rahmenbedingungen das Macht-Gleichgewicht sichern und Verteilungskartelle erschweren oder verhindern.“3 Dieser Fall der Machtverlagerung und behutsamer Dezentralisierung bzw. Föderalisierung verdient schon deshalb Beachtung, weil jedes Krisenmanagement herkömmlicher Art bei solch festgefahrenen Konflikten versagte. Derlei innovative Gedankenexperimente sind außerdem weniger gefährlicher als die Akzeptanz des Stillstands. Freilich blendet Wolffsohn als reiner Theoretiker weitgehend die konkrete Praxis aus, wenn er in seinem (Kon-)Föderalismus-Plädoyer ernsthaft die etwa einhundert Scharia-Gerichte in Großbritannien und die innerislamische Paralleljustiz in Teilen Deutschlands als Beispiel für Koexistenz in einem föderalen Gebilde heranzieht und deren staats- wie nationssprengende Wirkung – trotz einiger defensiver Rückversicherungen seinerseits – in der Konsequenz relativiert.4

Das Projekt Rojava

Ebenfalls verknüpft mit dem Terminus „Föderalismus“ ist die gegenwärtige Projektionsfläche linksrevolutionärer Träume nach dem neuen Anlauf für eine befreite Gesellschaft unterhalb eines Staatswesens: Rojava (kurdisch für »Westen«, gemeint sind die kurdischen Gebiete Syriens). Dort – also je nach Blickwinkel: in Westkurdistan oder in Nordsyrien – versucht sich die undogmatische kurdische Linke derzeit unter dem Schlagwort »Demokratischer Konföderalismus« am Aufbau einer staatsfernen Gesellschaft von unten. Dieses konföderal-autonomistische Konzept, das auf den Gründer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan zurückgeht, kann Signalwirkung auf den gesamten Nahen und Mittleren Osten ausüben – und gegebenenfalls darüber hinaus. Daß die praktische Umsetzung des theoretischen Revolutionsprojektes zumindest in den drei nordsyrischen kurdischen Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê derzeit überhaupt angegangen werden kann, geht auf den „Ordnungszerfall“ (Volker Perthes5) zurück, der den konfliktträchtigen Mittleren Osten momentan – folgenschwer für die Region, aber auch für Europa – mit aller Härte trifft.
Die nationalstaatliche Ordnung der arabisch-nahöstlichen Welt entstand nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und der Auflösung des Osmanischen Reiches 1922; die Grundlagen schuf das britisch-französische System Sykes-Picot mit seinen willkürlichen Grenzziehungen und der Ignoranz gegenüber tribalen, ethnischen und religiösen Verhältnissen. Nun steht dieses staatliche Gefüge kurz vor dem Kollaps, die drei „Schlüsselländer der arabischen Welt“ (Haluk Gerger) – Syrien, Irak und Ägypten – werden von einer Barbarisierungsspirale heimgesucht. Dies ist ein Umstand, der besonders das traditionell multiethnische und multireligiöse Syrien darben läßt, das unter der Ägide des säkularen Präsidenten Baschar al-Assad bei allen zweifellos vorhandenen Widersprüchen doch einen erfolgreichen und in breiten Schichten populären Stabilitätsanker darstellte (und für die von der Regierung gehaltenen Gebiete weiterhin darstellt) und sich auf einem insgesamt positiven Entwicklungsweg befand.6 Man muß diese von außen – von den sunnitischen Golfstaaten, der Erdo?an-Türkei und westlichen Geheimdiensten – entfesselte und bis heute subventionierte »vorsätzliche Zerstörung Syriens« (Karin Leukefeld) als Teil eines geopolitischen Ringens um die Neuordnung des Nahen Ostens zwischen – grosso modo – amerikanischen und russischen, sunnitischen und schiitischen Kräften ansehen, das gerade für die circa 30 Millionen Kurden unverhoffte Handlungsspielräume öffnet.

Tatort Kurdistan

Kurdistan ist gleich vierfach geteilt, die Siedlungsgebiete erstrecken sich auf türkisches, iranisches, irakisches und syrisches Staatsterritorium, wobei Syrien – obwohl dort nur 1,5 Millionen Kurden leben – zunächst die wichtigste Schlacht der kurdischen Bewegung im besonderen und für die geostrategische Konfliktsituation im allgemeinen sein wird. In diesem Sinne akzentuiert der türkische Politikwissenschaftler Haluk Gerger, daß „dieses Land zusammen mit Ägypten und dem Irak das historische, politische und geistige Zentrum des arabischen Nahen Ostens ist.“7 In Syrien liegt etwa die überwiegend kurdisch besiedelte Stadt Kobanê (arabisch: Ain al-Arab) an der türkisch-syrischen Grenze, deren Belagerung durch die Terrorbanden des Islamischen Staats (IS) 2014 für eine massive Aufmerksamkeitswelle in bezug auf kurdische Angelegenheiten in westlichen Medien sorgte; bisweilen standen dutzende Kamerateams auf einem Hügel in der Türkei, von dem aus der IS-Vormarsch rund um Kobanê live in die europäischen Wohnzimmer übertragen wurde. Bis dato verband man mit der in Deutschland verbotenen PKK und deren verbündeten Kräften – in Syrien sind das neben der Partei der demokratischen Einheit (PYD) die zivilen Räte und die Volksverteidigungskräfte (YPG) sowie deren Frauenverbände (YPJ) – vorwiegend Anschläge auf meist türkische Personen und Einrichtungen. Seit dem Fanal von Kobanê, das das geographische und strategische Zentrum des mittleren der drei territorial nicht miteinander verbundenen syrisch-kurdischen Kantone darstellt, gelten die kurdischen Kräfte als wirkmächtigste Truppe gegen neofundamentalistische Allianzen vom Schlage IS und dem Al-Kaida-Ableger Nusra-Front. Abgesehen davon, daß der stärkste und unerbittlichste Feind der sunnitischen Terroristen die seit Oktober von russischen Luftschlägen gestützte syrische Armee mit ihren verbündeten Milizen ist, haftet dem staatslosen Rojava-Experiment der Makel an, seine bloße Existenz den USA zu verdanken. Denn es waren US-Angriffe auf IS-Nachschubwege und die amerikanische Unterstützung für zur Hilfe eilende Peschmerga-Kämpfer aus Südkurdistan (Nordirak), die Kobanê vor dem Fall retteten. Der letzte Schritt auf dem Weg zur Stabilisierung der Front gegen den IS waren also jene kurdischen Paramilitärs, die gerade nicht beim Rojava-Aufbau beteiligt sind, diesem gar kritisch bis feindlich gegenüberstehen. Denn Rojava ist fest mit der Ideenwelt des PKK-Serok Abdullah Öcalan verbunden, dem viele irakische Kurden unter anderem aufgrund ihrer weiterhin feudal ausgerichteten Stammesgesellschaft oppositionell gegenüberstehen. Öcalan wirft ihnen – wie ohnehin beinahe allen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens – demgegenüber unter anderem vor, in „sexistischen“, „patriarchalischen“ oder schlicht „reaktionären“ Strukturen zu verharren.

Entwicklung der kurdischen ­Nationalbewegung

Treibende Kraft Rojavas sind PKK-Sympathisanten, deren Kaderpartei bis zur Jahrtausendwende eine klassische marxistisch-leninistische Formation war, und zum Ziel hatte, einen zentralistischen kurdischen Nationalstaat zu schaffen. Soweit bewegte sich die kurdische Befreiungsbewegung im Rahmen des herkömmlichen Nationalstaatsgedankens. Der auf der Gefängnisinsel Imral? inhaftierte Öcalan begann jedoch bereits ab 1999 – geschult am US-amerikanischen libertär-sozialistischen Theoretiker Murray Bookchin (1921–2006) – die Idee des „Demokratischen Konföderalismus“ (auch: „Demokratischer Kommunalismus“) auszuarbeiten, die dem Staat als solchem grundsätzlich eine Absage erteilt. Gegner und Anhänger Öcalans (und somit Rojavas) sind sich einig, daß Bookchins Einfluß auf die Agenda des kurdischen Demokratischen Konföderalismus gar nicht überschätzt werden kann. Bookchins zentrale Thesen verdienen daher nähere Betrachtung, obwohl (oder gerade weil) sie abseits ökologischer und linker Milieus noch wenig bekannt sind.

Amerikanischer Ideengeber der kurdischen Bewegung

Bookchins politisches Leben ist rasch zusammengefaßt: Als Kind russisch-jüdischer Migranten wuchs er in den USA auf, schloß sich zunächst einer orthodoxen kommunistischen Jugendgruppe an, fand über den Trotzkismus zum Anarchismus und verließ diesen, als er ihm zu individualistisch erschien, in Richtung einer „emanzipatorischen“, antiautoritär-libertären, ökologischen, radikaldemokratischen und sozialistischen Ideologienbildung: 1971 war er Mitbegründer des Institute for Social Ecology und erarbeitete den antistaatlich ausgerichteten „libertären Kommunalismus“, den er – fern von Marxismus und Anarchismus gleichermaßen – als eine eigene Lehre der revolutionären und libertären Linken betrachtet. Sein Politikverständnis beruht fundamental auf der Vorstellung, daß sich freie Bürger zusammenschließen, um kommunale Angelegenheiten konsensual zu lösen.8 Er verweist dabei auf die Etymologie des Wortes „Politik“, das sich vom griechischen Wort für „Stadt“ (polis) herleitet. Politik/polis interpretiert Bookchin daher schlicht als das direkte Regieren einer Stadt durch ihre Bürger9 und rekurriert – auch ein linker Theoretiker der Jetzt-Zeit kommt nicht ohne Traditionslinien aus – auf die griechische Vorstellung von harmonischen Bürgern in einer sie umgebenden harmonischen Umwelt, wie sie auch im Sozialismus des frühen 19. Jahrhunderts (etwa von Charles Fourier, 1772–1837) gepflegt wurde.10 Den Sozialismus des 21. Jahrhunderts bezeichnet er als „Kommunalismus“ und nimmt damit Bezug auf das revolutionäre Experiment der Pariser Kommune von 1871. Konkret zitiert er außerdem zustimmend ein amerikanisches Wörterbuch, daß den Kommunalismus als „eine Regierungstheorie oder Regierungsstruktur [bezeichnet], bei der im Wesentlichen autonome lokale Gemeinschaften in einer Konföderation locker miteinander verbunden sind.“11 Für die lokalen Gemeinschaften, die sich miteinander vernetzen und verbinden – konföderieren – sollen, sieht er die Notwendigkeit, sie als „Entwicklungsort des Verstandes und der Diskussion“ ihren „historischen Möglichkeiten“ zu öffnen.12
Föderalismus und Konföderalismus scheidet Bookchin voneinander. Ersteren sieht er als klassisches Behelfsmittel des Nationalstaates, letzteren als anzustrebendes „Netzwerk von Volksversammlungen“, die „über die Politik bestimmen und absetzbare Abgeordnete in lokale und regionale Konföderationsräte berufen würden“. Deren primäre Aufgabe wäre es, „über Meinungsverschiedenheiten gerichtlich zu entscheiden und reine Verwaltungsaufgaben zu übernehmen“.13 Ihre politische Funktion nach Bookchin wäre also eine – unserem Verständnis nach – genuin unpolitische: sie ist „rein verwaltend und praktisch“, die Vertreter der basisdemokratischen Nachbarschafts-, Dorf- und Stadträte hätten „keinerlei politische Entscheidungsfunktion“14; diese stünde ausschließlich den öffentlichen Vollversammlungen zu. Die Versammlungen der Dörfer oder Städte würden in ein konföderales System der gegenseitigen Abhängigkeit und Hilfe gestellt; politisch wie ökonomisch wären die einzelnen Gemeinschaften auf Kooperation und Konsens angewiesen. Was in den Kommunen zählt, ist für Bookchin stets das – wohl nur in der Theorie auffindbare – selbstbestimmte, rational handelnde, selbstlose und reflexive Individuum, das sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt. Gewiß: Dies mag eine Verkürzung der Bookchin-Philosophie sein, aber er geht summa summarum von ebensolchen Voraussetzungen seines optimistischen Menschenbildes aus. Entscheidender als die nähere Untersuchung des utopischen Blickes auf die Menschen, ist an dieser Stelle der Standpunkt zur nationalen Frage. Bookchin stellt sich noch radikaler als das Gros linker Denker gegen jedwede Bezugnahme auf Abstammung und Nation. Nationalbewußtes Denken sei in jeder Hinsicht eine „Rückentwicklung“15, das Endziel des Libertären Kommunalismus (bzw. Demokratischen Konföderalismus) sei erreicht, wenn „freie Kommunen nach und nach die Nation ersetzen und konföderale Organisationsformen den Staat ablösen“. Ist dies erreicht, so hofft Bookchin, „wird sich die Menschheit vom Nationalismus befreit haben.“16
Zunächst befreite sich Öcalan vom Nationalismus und begann, aus der Haft heraus „seine“ Bewegung vom selbigen zu reinigen.

Öcalans Weiterentwicklung und ­ihre Umsetzung in Rojava

Öcalan verabschiedete sich infolge der unstrittig ausschlaggebenden Auseinandersetzung mit Bookchin17 also vom marxistisch grundierten Befreiungsnationalismus der PKK, und im selben Zuge wandte er sich auch vom potentiell kurdischen Nationalstaat ab, da es, so Öcalan in seiner programmatischen Schrift Demokratischer Konföderalismus, „Nationalismus und Nationalstaaten gewesen (sind), die so viele Probleme im Mittleren Osten verursachten“18. Grundthema der Öcalan-Anhänger in Rojava und anderswo, die an Bookchin angelehnt eine selbstbestimmte Entität alternativer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aufbauen möchten, ist daher nicht die Schaffung einer kurdischen Nation – deren integrale Verwirklichung in naher Zukunft ohnehin unmöglich erschiene –, sondern die Selbstverwaltung der Individuen in einer anzustrebenden nichtkapitalistischen, ökologischen, „geschlechtergerechten“ Gesellschaft ohne Allmacht des Staates. Der Begriff der Konföderation bezieht sich dabei auf die Zusammenarbeit autonomer Entitäten, im konkreten Fall Rojavas also der drei Kantone.
Diese werden momentan von den PKK-nahen YPG/YPJ und kleineren verbündeten Milizen kontrolliert und militärisch gesichert. Ihnen kommt freilich entgegen, daß die sunnitisch-neofundamentalistischen Bündnisse an dutzenden Fronten mit Assad-loyalen syrischen Truppen und deren Verbündeten gebunden sind und ohnehin keine Großoffensive auf Rojava durchführen könnten. Weiterhin verzichten die syrischen Kräfte – auch mangels Kapazitäten – auf eine jede Konfrontation mit den Kurden, da diese sich momentan weitgehend neutral zum syrischen Staat verhalten und ihnen ihre einzelnen Stützpunkte im kurdischen Gebiet gewähren; der deutsche Kurdistan-Aktivist Ulf Petersen spricht daher von einer Art „Doppelherrschaft“ der Kurden mit dem syrischen Staat.19 Rojava wird von Damaskus folglich geduldet, zumal – als ein weiterer Aspekt – dort lebende Assad-loyale Minderheiten (überwiegend Angehörige der christlichen assyrischen, armenischen, chaldäischen und aramäischen Volksgruppen) in Rojava durchaus effektiv vor den Nachstellungen der unterschiedlichen Dschihadisten-Allianzen geschützt sind. Ohnehin ist es auch diese gewollte, aber nicht immer haltbare überkonfessionelle, überethnische Komponente, die das aktuelle Westkurdistan-Projekt vom marxistisch-zentralistischen Befreiungsnationalismus der „alten“ PKK des Kalten Krieges scheidet.

Gesellschaftsvertrag 2.0

Im „Gesellschaftsvertrag von Rojava“ wird allen ethnischen, sozialen, kulturellen und nationalen Gruppen völlige Gleichberechtigung zugesagt; Ziel sei die völlig freie Entfaltung eines jeden Individuum innerhalb eines auf Freiwilligkeit beruhenden pluralistischen Gebildes, das kein Staatswerdungsprojekt sein soll. Derartige Ideen erinnern nicht nur an Bookchin, sondern auch an die im Kommunistischen Manifest formulierte Marx-Engels-Utopie der „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ In der Assoziation wird dann nicht regiert wie in einem peu à peu abzuschaffenden Nationalstaat, sondern, so die Theorie Öcalans, konsensorientiert „selbstverwaltet“, was auch die Güterverteilung und die Eigentumsfrage betrifft.
Bis zum Absterben des Staates ist es jedoch ein langer Weg, und die ersten praktischen Schritte Rojavas werden aktuell in Form von basisdemokratisch gewählten Straßen-, Block-, Stadt- und Gemeinderäten gestaltet. Seit 2014 wird der radikaldemokratische „Gesellschaftsvertrag“ als Handlungsanweisung gelesen: Anders als im bisherigen syrischen Nationalstaat soll es mehrere Amtssprachen geben, alle Einwohner Rojavas sind gleichberechtigt, es gibt Frauenquoten und Diskriminierungsverbote. Gefängnisse sind gemeinsame Resozialisierungsanstalten, staatliche Kräfte wie die Polizei sind formal abgeschafft, und eine Sicherheitskraft kann jeder sein, da jeder Teil der Gesellschaft ist: Geplant ist tatsächlich eine sechswöchige Sicherheits-Grundausbildung aller Menschen. Der Aufbau der Gesellschaft erfolge über Räte von unten nach oben – wobei „oben“ relativ ist, da stark egalitäre Züge jeder möglichen Hierarchisierung, aber auch jeder Ethnisierung des Sozialen, entgegenwirken sollen. Ökonomisch favorisiert wird eine gegenkapitalistische Vision, wobei aufgrund des derzeitigen nichtkonfrontativen Vorgehens etwa der (größtenteils arabisch dominierte) Großgrundbesitz nicht angetastet wird.
Es ließen sich noch derlei mehr antikapitalistische, feministische, basisdemokratische, ökologische und egalitäre Forderungen auflisten: Allein, der „Gesellschaftsvertrag von Rojava“ und die Aura, die ihn umgibt, erinnern bereits jetzt zunehmend an eine säkularisierte heilsgeschichtliche Utopie vom Paradies auf Erden. Und in der Tat geraten deutschsprachige Linke – von einigen Ausnahmen abgesehen – ins Schwärmen für dieses „Menschheitsprojekt“. Übersehen werden dabei knallharte Fakten: Die heterogene kurdische Bewegung ist, auch wenn sie sich antinationalistisch aufstellen möchte, eine dezidiert kurdisch-identitäre Angelegenheit. Sie betreibt den regelrechten Führerkult um Öcalan auch in der derzeitigen syrisch-irakischen Ausnahmesituation rund um dort – und allgemein im Nahen und Mittleren Osten – herrschende „Konstellationen der Barbarei“ (Frank Deppe20). „Gerade in den großen Krisen sind deshalb charismatische Persönlichkeiten gefragt, die eine bewegende Stimmung des Aufbruchs erzeugen können“21, wußte der 2012 verstorbene marxistische Theoretiker Robert Kurz zu vermelden, und Rojava ist hierfür gerade keine Ausnahme. Zudem gibt es im Internet abrufbare Berichte von Menschenrechtsaktivisten, die darauf hinweisen, daß es mit der Errichtung des herrschaftsfreien Utopia nicht weit her ist: kurdische PYD-Gegner werden willkürlich inhaftiert und die regimegegnerischen, antiautoritären linken Revolutionäre sind dabei – so der Vorwurf –, ein autoritäres Regime zu installieren. Auch wenn Öcalan behauptet, der Demokratische Konföderalismus sei nicht nur jenseits des Staates zu denken, sondern auch antihegemonial, so wissen die Rojava-Revolutionäre mit dem marxistischen Vordenker Antonio Gramsci, daß es gelte, die Mehrheit der Menschen, d. h. die Hegemonie über die Gesellschaft zu erlangen, um diese zu revolutionieren. Nicht umsonst gibt es in Rojava ideologischen Unterricht. Daß aber nicht jeder Mensch sein Bewußtsein und seine Existenz „revolutioniert“ sehen möchte, sollte zumindest jedem mit realistischem Menschenbild klar sein. Und selbst der linke Politikwissenschaftler Stefan Bollinger gibt grundsätzlich zu bedenken, „daß die revolutionäre Beglückung eines anderen Volkes (…) ebenfalls auf Dauer zerstörend wirkt“22. Dies ist mithin ein Einwand, der besonders bei einem multiethnischen Gefüge wie Rojava Gültigkeit besitzt, da sich das Gros der Einwohner – ob Rojava-Aktivisten das grundsätzlich goutieren oder nicht – entlang ethnischer, stammesbezogener und konfessioneller Identitäten gruppiert.
Die Hegemonie der Räteherrschaftsbefürworter in den drei kurdischen Kantonen Syriens entspringt ferner einer von den derzeitigen Kooperationspartnern gebilligten Führungsfunktion; sie beruht zwingend auf Zustimmung, also auf Konsens seitens derer, auf die sie sich erstreckt. Hegemonie ist ja nach Gramsci gerade die ständige Bedingung für die Machtausübung und politische Führung auf konsensualer Grundlage; der italienische Intellektuelle plädierte in der Theorie für den lang anhaltenden Stellungskrieg, der in der Zivilgesellschaft beginne.23 Genau das vollzieht sich praktisch in Rojava, erschwert durch den permanenten Ausnahmezustand des Krieges und des Terrors.

Hegemonie und Gefahr des ­Totalitarismus

Übertragen auf die konkrete Lage bedeutet dies, daß die Hegemonie der Kurden in Rojava legitimiert ist. Was passiert aber, wenn die Krisensituationen – etwa der IS – als gemeinsame Bedrohung aller Ethnien und Konfessionen in Nordsyrien wegfallen? Wie verhält sich die herrschende Schicht Rojavas – und das sind allen Floskeln zum Trotze die Kurden – gegenüber „Abweichlern“, die den langwierigen Gesellschaftsaufbau des Demokratischen Konföderalismus nicht mittragen wollen? Werden die Kurden dann selbst „imperialistisch“, und zwar in dem Sinne, daß sie auf den Verfall ihrer Hegemonie autoritär und drakonisch gegenüber jenen reagieren, die ihnen den Konsens aufgekündigt haben? Berichte von Menschenrechtsaktivisten bieten Anlaß zur Sorge; ebenso die Tatsache, daß der Demokratische Konföderalismus (bzw. Libertärer Kommunalismus) den Keim des Totalitarismus in sich trägt: Öcalans Vordenker Bookchin schrieb immerhin, daß „der Kommunalismus eine alles abdeckende politische Idee“24 ist. Bedenkt man, daß in den Rojava-Schulen bereits ideologischer Unterricht angesetzt wurde, ist die Gefahr jedenfalls nicht gänzlich von der Hand zu weisen, daß auch hier wieder ein linksrevolutionäres „Menschheitsexperiment“ den Keim der Unterdrückung in sich trägt, wenn von einer Idee „alles“ abgedeckt werden soll.
Erschwerend tritt hinzu, daß der sonst so libertäre Bookchin für die Bewohner der demokratischen Konföderation eine „unbedingt erforderliche moralische Erziehung und Charakterbildung“25 einfordert. Bookchins idealtypischer Anti-Autoritarismus – und vielleicht der gegenwärtige kurdische, der selbstverständlich keine Eins-zu-Eins-Umsetzung sein kann, aber sich stark an ihm orientiert – kann sich so sehr rasch als sein Gegenteil entpuppen.

Dem Gegner die Argumente ­nehmen

Der eventuelle Kollaps des IS sowie ähnlicher Milizen und der Sieg Assads wäre ebenfalls für Rojava projektgefährdend, denn der syrische Staat wird auf Dauer keine expliziten gegenstaatlichen Strukturen in einem Landesteil dulden können, der 60 Prozent der Weizenproduktion aufbringt und als „Kornkammer Syriens“ (Anja Flach26) gilt. Die Interessen der kurdischen Gebieten Syriens (sollten sie denn auch in einem Nachkriegssyrien Bestand haben) und jene des restlichen Syrien würden sich widersprechen, wodurch erneute Konfliktgefahr gegeben wäre. Diese könnte nicht ohne weiteres durch den Umstand behoben werden, daß die Selbstverwaltung vor Ort – in den kurdischen Kantonen – ihren Angelegenheiten nachginge und der Staat in Damaskus den seinen: „Keine Nation kann effizient sein, wenn die Regierung in eine Richtung zieht und die Kommunalverwaltung in eine andere.“27 Kommende Konfrontationen mit der Staatsmacht klingen auch in Öcalans Werk konkret an, bei Bookchin indes lediglich theoretisch, wenn er die konföderalen Strukturen wohl treffend als „duale Gegenmacht gegenüber dem Staat“28 bezeichnet. Dabei hat es der syrische Staat unter Bashar al-Assad, und das ist positiv zu werten, selbst in der Hand: Ein Entgegenkommen dem kurdischen Bevölkerungsteil gegenüber würde den ideologischen Verfechtern des „Demokratischen Konföderalismus“ bei den mehrheitlich apolitischen Menschen die Zustimmung rauben, da diese eben nicht – wie Bookchin annahm – nach partizipatorischer Dauerbeteiligung und einer alle Lebensbereiche umfassenden Revolution verlangen. Die Einstellung jedweder Arabisierungsversuche und Diskriminierung wäre Pflicht, eine integrierende „höhere Idee“ des Staates – die das Gros der Syrer unabhängig von Konfession und Ethnie erfaßt – sollte wieder gefunden werden, die Abwendung vom Zentralismus der regierenden Baath-Partei müßte bedingungslos föderale (nicht: konföderale) Strukturen und konsequente nationalkulturelle Autonomie für Kurden und andere beinhalten.
Ausgerechnet der jungkonservative Philosoph Edgar J. Jung (1894–1934) könnte für diesen Ansatz Pate stehen. In seinem Opus magnum befürwortete er föderale Elemente zur Aufhebung ethnischer Konflikte in einem konkreten Raum. Großstaaten, so Jung, könnten nur bestehen und die produktiven Kräfte aller in ihnen lebenden Völker entfesseln, „wenn in den engeren Lebensgemeinschaften das Leben ungehindert emporblüht.“29 Mit Jung gesprochen müßte in einem künftigen Syrien die Reibungsfläche zwischen den einzelnen Ethnien und Konfessionen so klein wie möglich gehalten sein; dafür wäre sogar eine These Öcalans heranzuziehen, die Etablierung föderaler, allen Kurden offenstehender Strukturen im Iran, in der Türkei, in Syrien und im Irak gemeinschaftlich anzugehen. Diese Art Föderation wäre dann nicht antistaatlich, sondern verliefe „unterhalb des Staates“. Verzichten müßten in diesem Falle die Verfechter des Demokratischen Konföderalismus – und konkret Öcalan – auf den Anspruch, eine Weltalternative erfunden zu haben und von Rojava aus Stück für Stück der Erde zu erfassen und zu „konföderieren“.

Anziehungskraft des Demo­kratischen Konföderalismus

Immerhin zeigen sich mittlerweile von dieser Vision auch dynamische politische Gruppen in Südamerika und Katalonien angezogen. Dabei ist beispielweise das nach Selbständigkeit von Spanien strebende Katalonien ein geeignetes Beispiel dafür, daß die Liquidierung der nationalen Frage à la Bookchin selbst in linken demokratisch-konföderalistischen Kreisen nicht ohne weiteres erfolgen kann, da diese nicht im luftleeren Raum agieren, wie ein reiner Theoretiker, sondern die konkreten Lebensrealitäten vor Ort mit einbeziehen müssen. So irritiert es sicherlich den durchschnittlichen Leser der antinationalen Wochenzeitung Jungle World, wenn er von einem bekannten Politiker der feministischen, antikapitalistischen und progressiv sozialistischen Candidatura d’Unitat Popular (CUP) erfährt, daß sie zwar am kurdischen Konzept des demokratischen Konföderalismus orientiert seien, daß es aber eine „fast schon historische Mission“ sei, „ein nationales Projekt“ speziell für die unteren Schichten des Volkes zu begründen, „also das Nationale mit dem Sozialen zu verbinden“.30
Und bei dem eingangs erwähnten Michael Wolffsohn fehlt zwar die antikapitalistische und feministische Schlagseite, aber auch er sieht in einem neuen Föderalismus ein „Zauberwort“31 für verschiedene räumlich-politische Konstellationen von Palästina bis Großbritannien. Für Kurdistan bringt er – wie Öcalan – die Bildung vier föderaler kurdischer Gebilde ins Spiel (Etappe 1), die in einer Konföderation uniert (Etappe 2), aber ihren eigentlichen Staaten (Irak, Iran, Syrien, Türkei) nicht amputiert würden.32 Es ginge also auch unterhalb des Staates, nicht nur gegen ihn, ohne dessen Dialektik aus Schutz und Gehorsam allgegenwärtiges Chaos herrschte; daher bleibt gerade im Nahen und Mittleren Osten der Staat als Idee eine „kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegeneinander“ (Friedrich Nietzsche).

Anmerkungen

1?Frank, Rüdiger: Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates, München 2014, S. 109.
2?Wolffsohn, Michael: Zum Weltfrieden. Ein politischer Entwurf, München 2015.
3?Ebd., S. 14.
4?Vgl. ebd., S. 39.
5?Überwiegend lesenswert: Perthes, Volker: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay, Berlin 2015.
6?Leukefeld, Karin: Flächenbrand. Syrien, Irak, die arabische Welt und der Islamische Staat, Köln 2015, S. 45.
7?Gerger, Haluk: Widerstand im Nahen Osten! Die Politik der USA, der Westmächte und der Türkei gegen die arabischen Länder von 1945 bis in die Gegenwart, Frankfurt am Main 2012, S. 521.
8?Vgl. Bookchin, Murray: Die nächste Revolution. Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken, Münster 2015, S. 31.
9?Vgl. ebd., S. 32.
10?Vgl. ebd., S. 91.
11?Zit. n. ebd., S. 36.
12?Ebd.
13?Ebd., S. 62.
14?Ebd., S. 97.
15?Ebd., S. 156.
16?Ebd., S. 161.
17?Zum Verhältnis der Ideen Öcalans und Bookchins insbesondere: civaka-azad.org/vom-marxismus-zu-kommunalismus-und-konfoederalismus-bookchin-und-oecalan/, zuletzt eingesehen am 14. November 2015.
18?Öcalan, Abdullah: Demokratischer Konföderalismus, Neuss 2012, S. 8.
19?Vgl. Petersen, Ulf: Die Rojava-Revolution zwischen kurdischer Selbstbestimmung und sozialer Utopie, in: Küpeli, Ismail (Hrsg.): Kampf um Kobanê. Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens, Münster 2015, S. 27–37, hier: 28.
20?Weiterführend zu Imperialismus und Gewaltpolitik: Deppe, Frank/Salomon, David/Solty, Ingar: Imperialismus, Köln 2011.
21?Kurz, Robert: Das Charisma der Krise, in: ders.: Der Tod des Kapitalismus. Marxsche Theorie, Krise und Überwindung des Kapitalismus, Hamburg 2013, S. 77–79, hier 77.
22?Bollinger, Stefan: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Linke und Nation. Klassische Texte zu einer brisanten Frage, Wien 2009, S. 7–34, hier: 17.
23?Vgl. Deppe, Frank: Der Staat, Köln 2015, S. 60.
24?Bookchin, Die nächste Revolution, S. 35.
25?Ebd., S. 99.
26?Flach, Anja: Eine Reise von Südkurdistan nach Til Koçer, in: dies./Aybo?a, Ercan/Knapp, Michael (Hrsg.): Revolution in Rojava. Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo, 2. Aufl., Hamburg 2015, S. 25–28, hier: 25.
27?Mosley, Oswald: 100 Fragen zum Faschismus, in: Kaiser, Benedikt/Fröhlich, Eric: Phänomen Inselfaschismus, Kiel 2013, S. 258–322, hier 280.
28?Bookchin, Die nächste Revolution, S. 39.
29?Jung, Edgar J.: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich (Nachdruck der 3. Aufl., Berlin 1930), Toppenstedt 2013, S. 361.
30?Mense, Thorsten: Interview mit Arrufat, Quim: „Die Gesellschaft ist bereit dafür“, in: Jungle World vom 15. Oktober 2015.
31?Wolffsohn, Zum Weltfrieden, S. 22.
32?Vgl. ebd., S. 54 f.

 
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