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Wenn alle untreu werden

Von Manfred Müller

Treuebekenntnis inmitten von Furchtsamen und Opportunisten

Im Juli 1943 zelebrierte der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, in der Propsteikirche des westfälischen Wallfahrtsortes Telgte für Wallfahrer ein Pontifikalamt. Ein katholischer Pfadfinder aus der verbotenen Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg hielt in einem Brief fest, was sich nach dem Hochamt vor der Probsteikirche abspielte. Als Galen, so der Pfadfinder, aus der Kirche tritt, „erwartet eine riesige Menschenmenge den Bischof. […] In der Menge werden einige Lieder angestimmt, die die Gefühle aller im Augenblick zum Ausdruck bringen, z. B. ‚Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu, daß immer noch auf Erden für euch ein Fähnlein sei‘, ‚Fest soll mein Taufbund immer stehen’, ‚Großer Gott, wir loben dich’.“

Das erwähnte Treuelied aus dem 19. Jahrhundert stand als beliebtes Gemeinschaftslied in bündischen, studentischen, katholischen, evangelischen Liederbüchern und wurde auch in den Schulen der Weimarer Republik gesungen. So ist es erklärlich, daß die Menschenmenge im Wallfahrtsort Telgte gleich in dieses Lied einstimmen konnten, um es als Zeichen punktueller Unangepaßtheit der Obrigkeit entgegenzuhalten.

Novalis’ Ursprungsgedicht

Geschrieben hat den Text des Liedes 1814 der preußische Staatsbeamte und patriotische Dichter Max von Schenkendorf (1783–1817). Er verfaßte es als Kontrakfaktur zu dem geistlichen Lied „Wenn alle untreu werden“ von Novalis (Friedrich von Hardenberg). Das lyrische Ich wendet sich bei Novalis an Christus:
Wenn alle untreu werden,
so bleib ich dir doch treu,
daß Dankbarkeit auf Erden
nicht ausgestorben sei.
Für mich umfing dich Leiden,
vergingst für mich in Schmerz;
drum geb’ ich dir mit Freuden
auf ewig dieses Herz.
Daraus wurde bei Schenkendorf:
Wenn alle untreu werden,
so bleib ich euch doch treu,
daß immer noch auf Erden
für euch ein Fähnlein sei.
Gefährten meiner Jugend,
ihr Bilder bessrer Zeit,
die mich zu Männertugend
und Liebestod geweiht.
Aus „Geistliches Lied“ wurde bei Schenkendorf „Erneuter Schwur“. Schenkendorf, der – trotz Lähmung des rechten Armes infolge eines Duells – 1813 am Befreiungskampf gegen Napoleon teilgenommen hatte, schickte die Handschrift seines Gedichtes seinem Kriegskameraden Friedrich Ludwig Jahn („Turnvater Jahn“). Bald wurde das Gedicht zur Weise des „Wilhelmus von Nassauen“ in studentischen Kreisen gesungen. Im Text wurde aus der Ich-Struktur eine Wir-Struktur. („Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu“ usw.)

Nach den Befreiungskriegen

Anlaß für Schenkendorfs „Erneuten Schwur“ war die Sensationsnachricht, daß der nach Elba verbannte Napoleon überraschend in Frankreich gelandet war, das Land in einem Siegeslauf hinter sich brachte und Europas Völker erneut bedrohte.
Zahllose Opportunisten in den deutschen Einzelstaaten des von Napoleon zertrümmerten altehrwürdigen Reiches stellten sich flugs um, wurden „untreu“. Unter seinen Jugendgefährten hofft Schenkendorf noch Männer echt deutscher Tugend zu finden, die zu den Waffen eilen und wie 1813 bereit sind, aus Liebe zum bedrohten Vaterland selbst das eigene Leben hinzuopfern („… zu Männertugend und Liebestod geweiht“). Am Bild dieser Gefährten richtet Schenkendorf sich auf:
Wollt nimmer von uns weichen,
uns immer nahe sein,
treu wie die deutschen Eichen,
wie Mond und Sonnenschein!
Einst wird es wieder helle
In aller Brüder Sinn,
sie kehren zu der Quelle
in Lieb und Treue hin.
Schenkendorf bemüht die Eiche als Symbol deutscher Treue, führt Naturphänomene wie Sonne und Mond als Hinweis auf Göttliches an, um der festen Hoffnung Ausdruck zu geben, auch die jetzt Abgefallenen, die große Masse, würden zur deutschen Brüderschar zurückfinden.
Strophe 3 der Liedfassung blickt auf den bisherigen Freiheitskampf gegen Napoleon zurück:
Es haben wohl gerungen
Die Helden dieser Frist,
und nun der Sieg gelungen,
übt Satan neue List.
Doch wie sich auch gestalten im Leben mag die Zeit,
du sollst mir nicht veralten
o Traum der Herrlichkeit.
Der Traum der Herrlichkeit
Die Helden der Befreiungskriege haben Napoleon niedergerungen. Der Wiener Kongreß war gerade dabei, eine Neuordnung Europas für die Ära nach Napoleon zu schaffen, da greift Satan mit einer neuen „List“ in das Geschehen ein. Mit Satan ist eindeutig Napoleon gemeint, als teuflisch waren seine politischen Konzeptionen und seine militärischen Methoden von der antinapoleonischen Kriegspropaganda charakterisiert worden. Durch diese religiöse Aufladung waren die Kriegsanstrengungen der Anti-Napoleon-Koalition enorm gesteigert worden. Daran sollte nun angeknüpft werden.
Der „Traum der Herrlichkeit“, dem Schenkendorf nach wie vor anhängt, ist, wie die letzte Strophe zeigen wird, nicht rein innerweltlich zu verstehen, sondern hat eine metaphysisch-religiöse Einfärbung:
Ihr Sterne seid uns Zeugen,
die ruhig niederschaun,
wenn alle Brüder schweigen
und falschen Götzen traun.
Wir wollen das Wort nicht brechen,
nicht Buben werden gleich,
wolln predigen und sprechen
vom heil’gen deutschen Reich.
Die kleine Schar derer, die wie Schenkendorf aus der „Quelle“ leben, sind einer erhabenen Idee verpflichtet. Sie sind der aus der Schöpfungsordnung selbst hervorgegangenen deutschen Gesinntheit ergeben, die nichts wissen will von einem staatlichen Satellitensystem im Dienst des französischen Usurpators oder einer gesellschaftlichen Ordnung als Ausfluß der zerstörerischen Tendenzen der Französischen Revolution. Für die Neuordnung nach der nun zu leistenden erneuten Niederwerfung Napoleons wollen Schenkendorf und seine „Brüder“ die Sakralsphäre berücksichtigt sehen. Alle Wortkunst und Wortgewalt des Dichters sollen dazu dienen, die Idealvorstellung „von Kaiser und Reich“ (so in der Originalfassung des Gedichts) den Deutschen vor Augen zu stellen. Die Liedfassung machte daraus: „vom heil’gen deutschen Reich“.
Die Urfassung des Gedichts wollte an die ehrwürdige Kaisertradition der Deutschen anknüpfen und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation erneuern, also politisch handlungsfähig machen. Dabei mußte manches geschichtlich Überholte abgestoßen werden; die sakrale Würde, die das Reich über das bloß Diesseitige hinaushob, sollte aber nicht verlorengehen. Die Formel der Liedfassung ließ für die Zukunft auch eine republikanische Form des Reiches zu, sofern dabei der Kernbestand des „Heiligen“ gewahrt bleibe.

Welche Melodie?

Bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts hinein wurde dieses Lied immer mehr im deutschen Volksraum zu einem Bekenntnisgesang all derer, die über das Bestehende an nationaler Verfaßtheit noch hinaus wollten („predigen und sprechen vom heil’gen deutschen Reich“). In den 1920er-Jahren schlug der bekannte Musikpädagoge Walther Hensel vor, den „Erneuten Schwur“ nicht mehr nach der Melodie eines alten französischen Jagdliedes („Pour aller à la chasse faut être matineux“) zu singen, sondern nach der Melodie des aus den Niederlanden kommenden „Wilhelmus von Nassauen“. Dieser Vorschlag setzte sich mehrheitlich durch, doch kann man bis zum heutigen Tage auch noch gelegentlich die frühere musikalische Fassung hören.
Diese Melodie zum Treuelied (Text hier in der Ich-Pronominal-Struktur) war auch abgedruckt in „Der deutschen Jugend Liederschatz“, einer Liedersammlung, die der Prälat Carl Mosters seit 1909 in hohen Auflagen für die katholischen Jugendverbände herausgebracht hatte. Nach 1945 erschien Schenkdorfs Lied im Rahmen des „Altenberger Singewerks“ in dem Liederbuch für die katholische Jungenschaft „Die neue Fahrt“, das Hans Kulla herausbrachte (hier mit der Weise des Wilhelmusliedes). In dieser Fassung nahm es auch Werner Maaßen (später als Professor langjähriger Leiter der Ruhrland-Klinik Essen) bald nach dem Zweiten Weltkrieg in eine weit verbreitete Liedertext-Sammlung auf: „Unser Lied“, herausgegeben von „Neudeutschland Swidbertgau“ und wohl im Hinblick auf die britische Besatzungsmacht mit dem Vermerk versehen: „als Manuskript gedruckt“. In der Neubearbeitung von „Unser Lied“ aus der Mitte der 1950er-Jahre war das Treuelied nicht mehr zu finden, wenngleich auch dort einige Lieder nationaler Grundorientierung (wie etwa: „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand“) abgedruckt waren. Durch Weglassen konnte man auch damals schon unerwünschten Auseinandersetzungen auf Grund der differenzierten Rezeptionsgeschichte eines Textes oder einer Melodie aus dem Wege gehen.

Vom Kaiser und vom Reich

Für Österreich sind einige Zusatzanmerkungen angebracht. In katholisch-österreichischen, insbesondere landsmannschaftlichen (also monarchistischen) studentischen Verbindungen wird das Lied in einer textlichen Fassung gesungen, von der man annimmt, daß sie der ursprünglichen Fassung des Gedichts entspricht.
Sieht man von einigen eher unbedeutenden Abweichungen von der Urfassung ab, geht es vor allem um die Schlußzeile. Die erwähnten Verbindungen singen: „… vom Kaiser und vom Reich“, fast überall sonst wird heute an dieser Stelle gesungen: „… vom heil’gen deutschen Reich“. Dies ist eine textliche Umformung, wie sie ähnlich in der Rezeptionsgeschichte vieler (Volks-)Lieder zu beobachten ist. Die ursprüngliche Formulierung „vom Kaiser und vom Reich“ entspricht voll und ganz der politisch-geschichtlichen Grundauffassung Schenkendorfs, wie man besonders deutlich in einem Gedicht Schenkendorfs aus dem Jahr 1813 feststellen kann. Es trägt den Titel „Die Deutschen an ihren Kaiser“ und richtet sich appellativ an den Habsburger, der 1806 unter dem Druck der umwälzend-zerstörerischen Kriegspolitik Napoleons die deutsche Kaiserkrone niedergelegt hatte:
Deutscher Kaiser! Deutscher Kaiser!
Komm zu rächen, komm zu retten,
löse deiner Völker Ketten,
nimm den Kranz, dir zugedacht!

Ruf uns in des Reiches Namen,
lenk uns mit den alten Fahnen,
auf des deutschen Adlers Bahnen
blüht uns immer noch der Sieg.

Wirf nicht fort, was Gott geboten!
Wieder auf entsühntem Throne
In der alten heil’gen Krone
Sei der Stern der Christenheit!
Als bei der Verbreitung der Liedfassung von „Erneuter Schwur“ die sprachliche Doppelung von Kaiser und Reich durch die Formel vom „heil’gen deutschen Reich“ ersetzt wurde, widersprach das nicht der Grundauffassung Schenkendorfs. Der Hinweis auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das Schenkendorf so sehr schätzte, war hier unübersehbar. Nur dort, wo in der Rezeptionsgeschichte des Liedes diese Formel in einem antichristlich-neuheidnischen Sinne verstanden wurde, tat sich ein grundlegender Widerspruch zu Schenkendorfs Zielvorstellung auf.
Ein rechthaberischer Streit, wer denn beim Singen der letzten Zeile von „Erneuter Schwur“ die Intention Schenkendorfs genauer treffe, ist überflüssig. Ebenso bei der Frage, ob es in dem Lied gemäß Schenkendorf „alte Eichen“ oder „deutsche Eichen“ heißen müsse. Daß Schenkendorf die Eiche wie zahlreiche deutsche Patrioten seiner Zeit, etwa Theodor Körner oder Caspar David Friedrich), als ein deutsches Sinnzeichen verstand, ist eine Binsenweisheit. In seinem Gedicht „Frühlingsgruß an das Vaterland“ (1814) jubiliert Schenkendorf:
Wie mir deine Freuden winken
Nach der Knechtschaft, nach dem Streit!
Vaterland, ich muß versinken
Hier in deiner Herrlichkeit.
Wo die hohen Eichen sausen,
himmelan das Haupt gewandt,
wo die starken Ströme brausen,
alles das ist deutsches Land.

Ein ähnlicher Verweisungscharakter auf das Deutschsein liegt auch bei den „alten Eichen“ vor.

 
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