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Geld und Zinsen

Von Mag. Gregor Hochreiter

Strukturelle und ethische Grundlagen der wiederkehrenden Wirtschaftskrisen


Es ist ein untrügliches Zeichen der inneren Morschheit einer polit-ökonomischen Ordnung, wenn sie sich als alternativlos darstellt und mit dem geschichtsphilosophischen Verweis, das gegenwärtige System sei der Höhepunkt der Entwicklung, gegen grundlegende Kritik, ja sogar gegen den bloßen Versuch einer Reflexion versperrt. Weil jegliche gesellschaftliche Ordnung im Dienste des Gemeinwohls steht und weil keine konkrete Verwirklichung einer gesellschaftlichen Ordnung in dieser vergänglichen Welt vollkommen ist, aber die Gesellschaft zu jedem Zeitpunkt um die möglichst beste, d. h. dem Gemeinwohl möglichst umfassend dienende Ordnung zu ringen hat (Benedikt XVI.), lösen mit dem Stigma der Ausgrenzung geahndete Denkverbote bestehende Probleme nicht.

Zwei der gegenwärtig mit öffentlichen Denkverboten belegten Themenfelder im Bereich der sozio-ökonomischen Ordnung sind zum einen die Verfaßtheit der Geldproduktion und zum anderen die Infragestellung der allgemeinen Erlaubtheit der Zinsennahme. Diese modernen Tabus führen zu offensichtlich widersinnigen Aussagen wie dem wiederholt geäußerten Vorschlag, die Schuldenkrise mit der Aufnahme weiterer Schulden zu lösen. Ebensowenig regt sich nennenswerter Widerspruch, wenn hochverzinste Kredite an notleidende Staaten damit gerechtfertigt werden, daß dies ein lukratives Geschäft wäre.
Dieser Artikel zielt darauf ab, beide Tabus zu hinterfragen. Es soll gezeigt werden, daß die Inumlaufbringung von Geld in Form von zinsenbelasteten Krediten nicht den Forderungen des Gemeinwohls entspricht, worunter der bekannte katholische Sozialphilosoph und Begründer der „Wiener Schule des Naturrechts“, Johannes Messner, „die Ordnung der allseitig verwirklichten Gerechtigkeit“1 versteht.

Sinn und Zweck des Geldes

In der abendländischen Tradition zählt die Versorgung der Gesellschaft mit Geld zu den wesentlichen Aufgaben der staatlichen Autorität. Diese ist von der Allgemeinheit eingesetzt worden, um dem Gemeinwohl und damit den Bürgern der Polis in ihrem Streben nach einem guten Leben zu dienen. Eingeführt worden ist das Geld, so Aristoteles, durch gesellschaftliche Übereinkunft. Darauf weist der griechische Begriff für Geld hin, den Aristoteles von griechisch nomos (dt. Gesetz, allgemeine Übereinkunft) ableitet: „Und es trägt den Namen ‚Geld‘ (nomisma), weil es sein Dasein nicht der Natur verdankt, sondern weil man es als ‚geltend‘ gesetzt (nomos) hat.“2
Zur Verwirklichung des guten Lebens bedarf es auch der materiellen Güter. Diese können entweder in Eigenproduktion hergestellt oder über den Markt bezogen werden. Der Bezug über den Markt kann wiederum auf zweierlei Art erfolgen, nämlich entweder als direkter Naturaltausch oder als indirekter Tausch unter Zuhilfenahme des Geldes. Die Einführung des Geldes ermöglicht die Abwicklung von Tauschakten, die ohne Zuhilfenahme des Geldes nicht realisierbar wären. Der direkte Tausch von Schuhen und der Errichtung eines Hauses scheitert unter anderem daran, daß der Baumeister keinen Bedarf für das dem Wert des Hauses entsprechende Äquivalent an Schuhen hat. Die Einführung des Geldes überwindet dieses Hindernis, weil das Geld „in gewissem Sinn zu einer Mittelinstanz [wird], denn alles läßt sich an ihm messen, auch das Zuviel also und das Zuwenig, wie viel Schuhe denn etwa einem Haus oder Nahrungsmitteln gleich sind.“3 Geld als Wertmaßstab setzt ursprünglich unvergleichbare Dinge in eine Beziehung zueinander, ermöglicht dadurch den Wertvergleich und fungiert damit als Instrument der (Tausch-)Gerechtigkeit. Die Geldwirtschaft versetzt den Schuster zudem in die Lage, Schuhe an alle Wirtschaftsakteure der Währungsgemeinschaft zu verkaufen, unabhängig davon, ob er die von den Käufern hergestellten Güter selber benötigt. Den jeweils erhaltenen Verkaufspreis legt er zur Seite und kann nach Verkauf von entsprechend vielen Schuhen den Bau des Hauses in Auftrag geben. Geld stellt somit einen Anspruch auf die in einer Währungsgemeinschaft auf dem Markt angebotenen Güter und Dienstleistungen dar, und zwar im Umfang des angegebenen Geldwertes.
Auch wenn in früheren Zeiten die Währung meist in Form von Münzen zirkulierte, so ist bei einer Geldschuld nicht der Wert des Geldstoffes, das heißt der intrinsische Wert von Silber oder Gold, entscheidend, sondern der der Münze zugewiesene Währungsbetrag (lat. valor impositus). Gegen die Vertreter des neuzeitlichen Metallismus ist einzuwenden, daß der Geldtausch kein Naturaltausch ist, bei dem die beiden Tauschpartner jeweils eine bestimmte Menge eines Gutes in einer näher spezifizierten Qualität hingeben, also zum Beispiel ein Stück Vieh gegen eine Unze Feingold. Gegen die nominalistisch gestimmten Chartalisten für die in radikaler Weise ein Euro gleich einem Euro ist, ist der Einwand zu formulieren, daß bei einer zeitlich gestreckten schuldbefreienden Zahlung oder einem Dauerschuldverhältnis nicht die Überreichung der nominellen Geldschuld genügt, die bei einer starken Teuerung lediglich eine deutlich geminderte Kaufkraft auszuüben imstande ist, sondern die ursprünglich geschuldete Kaufkraft. Daraus folgt, daß die Stabilität des Geldwerts das vorrangige Ziel der Währungsbehörden zu sein hat. Aristoteles weist allerdings bereits darauf hin, daß das Geld in seinem Wert durchaus wie die anderen Güter schwanke, aber nicht so sehr wie diese.

Die Besonderheiten der gegenwärtigen Geldproduktion

Im historischen Kontext betrachtet weist die gegenwärtige Geldverfassung drei Besonderheiten auf. Erstens ist das sich aus der Zentral- und den Geschäftsbanken zusammensetzende Bankensystem Emittent der kaufkraftwirksamen Geldmenge und nicht wie historisch üblich der Staat. Zweitens besteht die Geldmenge zum überwiegenden Teil aus – noch dazu zinsenbelasteten – Krediten, weil zusätzliche Zahlungsmittel nicht über zusätzliche Ausgaben in den Geldumlauf gebracht werden, sondern durch Kreditschöpfung. Folglich steigt mit jeder Geldmengenausweitung die nominelle gesamtgesellschaftliche Verschuldung, und die geldpolitische Bekämpfung von Schuldenkrisen führt vorrangig zu einer – mitunter politisch intendierten – Änderung der Gläubiger-Schuldner-Struktur bei einem steigenden Gesamtniveau. Drittens erfolgt die Geldschöpfung in einem zweistufigen Prozeß. Die Zentralbank steuert die sogenannte monetäre Basis, während die Geschäftsbanken den quantitativ größeren Anteil an der Geldmenge durch die sogenannte Giralgeldschöpfung in Umlauf bringen.
Monopolistischer Geldproduzent im engeren und eigentlichen Sinne ist die Zentralbank. Diese vergibt bei der gewöhnlichen Geldpolitik gegen die Verpfändung von notenbankfähigen Anleihen den Geschäftsbanken zum Leitzins Kredite. Aus Nicht-Geld, das heißt der Anleihe, wird Geld in Form von Kredit geschöpft. Die Geschäftsbanken verwenden dieses Guthaben bei der Notenbank, um darauf auftürmend ein Vielfaches an Krediten an das Publikum zu vergeben. Mit anderen Worten: Die Geschäftsbanken hebeln die von den Zentralbanken erhaltenen Kredite. Zum Zweiten greifen die Geschäftsbanken nicht nur auf die Spareinlagen des Publikums zurück, um in ihrer Funktion als Intermediär zwischen dem sparwilligen Teil der Bevölkerung und jenen Wirtschaftssubjekten, die einen Kreditbedarf zu befriedigen suchen, zu vermitteln. Darüber hinaus wird ein Gutteil der täglich fälligen Sichteinlagen zur Kreditvergabe herangezogen, womit täglich fälliges Bargeld in einen zeitlich gebundenen Kredit verwandelt wird. Schumpeter spricht zutreffend von der „Schaffung von neuer [Kaufkraft] aus Nichts“.4 Aus Nichts wird diese Kaufkraft deswegen geschaffen, weil diesem auch Zirkulationskredit genannten Kredit keine entsprechende Spareinlage gegenübersteht. Schumpeter deutet den Bankier deswegen auch nicht als Zwischenhändler, sondern als Produzent der Ware Geld, und Adam Smith lobt die neuen Banktechniken, weil diese gleichsam Straßen durch die Luft errichten, dank denen jener Boden, der früher für die Straßen benötigt wurde, nunmehr produktionssteigernd für landwirtschaftliche Zwecke genutzt werden kann.5
Weil die Geschäftsbanken nur einen Bruchteil der täglich fälligen Sichteinlage als Barreserve vorrätig halten, wird diese Praxis Bruchteilreservehaltung (engl. fractional reserve banking) genannt. Die neuzeitliche ökonomische Theorie rechtfertigt diese Vorgehensweise für gewöhnlich damit, daß der Großteil der Girokonto-Inhaber ihre Sichtguthaben nicht gleichzeitig durch Abhebung in Bargeld umwandeln möchte. Wenn beispielsweise aus Erfahrung an jedem Tag rund 10 % der täglich fälligen Sichteinlagen abgehoben oder überwiesen werden, können die restlichen 90 % der in den Tresoren der Banken brachliegenden Gelder durch Kreditvergabe fruchtbar gemacht werden. Die Banken erzielen durch diese Praxis höhere Einnahmen und die Wirtschaftsakteure erhalten Kredite für zusätzliche Wirtschaftsprojekte. Daß Gründungen und Unternehmensexpansionen vornehmlich nicht mit Eigenkapital, sondern mit aus dem Nichts geschöpften Fremdkapital finanziert werden, ist nach Schumpeter das Charakteristikum der kapitalistischen Produktionsweise.6
Diese Praxis setzt die Geschäftsbank allerdings dem Risiko eines „Bank Runs“ aus. Dieses Risiko gründet in der berechtigten Sorge der Inhaber eines Girokontos um ihre Einlagen, schließlich ist ein Großteil der täglich fälligen Kontoführungsguthaben nicht durch Banknoten gedeckt, sondern durch nicht sofort fälligstellbare Forderungen an Kreditnehmer, wobei wir es gegenwärtig nicht mit Einzelfällen infolge einer individuell tollkühnen Geschäftspraxis zu tun haben, sondern um ein allgemein übliches, das heißt um ein systemisches Phänomen. Diese Nichtübereinstimmung der Laufzeiten wird in der einschlägigen Fachliteratur als Fristeninkongruenz bezeichnet; im neudeutschen Fachjargon läuft diese Praxis, die die „goldene Regel“ des Bankengeschäfts verletzt, unter dem Schlagwort „borrow short, lend long“. Die Zentralbank, die sich auch als „Bank der Banken“ versteht, kann als Kreditgeber der letzten Instanz in akuter Notlage befindlichen Geschäftsbanken Überbrückungskredite letztlich in nahezu unbegrenzter Höhe gewähren. Mit diesen Krediten an „systemrelevanten Banken“ wird jedoch nicht das Problem behoben, sondern im Gegenteil die „systemische Instabilität“ institutionalisiert.
Die rechtliche Frage, ob bei der Sammelverwahrung von täglich fälligen Geldern der Verwahrer die hinterlegten und damit vom Hinterleger jederzeit abrufbaren Gelder zwischenzeitlich verwenden darf, beschäftigte bereits das Römische Recht intensiv. Konzeptuell wurde unterschieden zwischen dem depositum regulare (dt. eigentliche Verwahrung) und dem depositum irregulare (dt. uneigentliche Verwahrung). Erstere hat zum Vertragsgegenstand eine unvertretbare Sache wie den im Theater bei der Garderobe abgegebenen Mantel. Der Verwahrer darf die hinterlegte Sache weder ge- noch verbrauchen und muß sofort und auf Verlangen ein- und dieselbe Sache rückerstatten. Bei der uneigentlichen Verwahrung werden vertretbare Sachen zur Sammelverwahrung übergeben und dadurch miteinander vermengt. Bei diesem Rechtsgeschäft schuldet der Verwahrer die Rückgabe des sogenannten tantundem eius generis et qualitatis, d.h. eines Gutes von gleicher Art und Güte. Dem Kontoinhaber ist es letztlich egal, ob er diesen oder jenen 100-Euro-Schein bei der Auszahlung seines Guthabens erhält. Deswegen ist die Formulierung, ein Kunde würde bei der Bank sein Geld abheben, rechtlich unzutreffend.
Da beim depositum irregulare im Unterschied zum depositum regulare das Eigentum an der hinterlegten Sache an den Verwahrer übergeht, darf dieser frei über die hinterlegten Gelder, die nunmehr seine eigenen Gelder sind, verfügen. Aus diesen rechtlichen Überlegungen folgt, daß Geschäftsbanken keine 100 %-Reservehaltung vorzusehen haben. Eine dem Publikumsbedarf nach Krediten entsprechende Unterdeckung der täglich fälligen Sichtguthaben ist rechtlich statthaft, wenngleich sichergestellt sein muß, daß die Gläubigerinteressen der Einleger nicht grob fahrlässig beeinträchtigt werden.
Diese kurze Zusammenschau der neu zeitlichen Geldproduktion hat folgende Implikationen: Erstens, der Gutteil der heute umlaufenden kaufkraftwirksamen Geldmenge besteht nicht aus Geld, sondern aus Forderungen auf Geld, d. h. aus Forderungen auf das gesetzliche Zahlungsmittel. Kollabiert das Bankensystem unkontrolliert, schrumpft die für Markttransaktionen zur Verfügung stehende Geldmenge rapide, was in einem auf extremer Arbeitsteilung beruhenden Wirtschaftssystem katastrophale Folgen hätte. Weil zweitens die Geldmenge über den Kreditmarkt ausgeweitet wird, erhöht eine Geldmengenausweitung die Verschuldung der Gesellschaft genauso wie die Geldvermögen. Die Bankbilanz muß schließlich ausgeglichen sein. Daraus folgt, daß aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive mit einer expansiven Geldpolitik die Schuldenproblematik nicht nur nicht zu beheben ist, sondern notwendigerweise verschlimmert wird. Zwischen 2007 sind denn auch die weltweiten Schuldenberge von 141.000 Mrd. $ auf 199.000 Mrd. $ angewachsen, wobei sich die der Staaten von 33.000 auf 58.000 Mrd. $, die der Unternehmen von 38.000 auf 56.000 Mrd. $, die der privaten Haushalte von 33.000 auf 40.000 Mrd. $ und die des Finanzsektors von 37.000 auf 45.000 Mrd. $ erhöhten.7
Sofern das System als Ganzes am Leben erhalten werden soll, muß die gewünschte Entschuldung eines Wirtschaftssektors von den anderen Sektoren mehr als nur aufgefangen werden. Die von Ökonomen unterschiedlicher Provenienz häufig vernommene Formulierung, wonach ein Staat aus seinen Schulden herauswachsen könne, ist demnach nur richtig, wenn man ihn um den wichtigen Halbsatz ergänzt, solange die Unternehmen und die Haushalte sich verstärkt verschulden. Daher erweist sich die seit geraumer Zeit ausgerechnet von Wirtschaftsliberalen als vorbildlich präsentierte Budgetkonsolidierung im ehemaligen Wohlfahrtsstaat schlechthin, Schweden, bei näherem Hinsehen als unvollständige Bestandsaufnahme. Tatsächlich reduzierte sich die Staatsverschuldung im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends um 20 Prozentpunkte. Ausgeblendet wird allerdings, daß die Verschuldung der privaten Haushalte im selben Zeitrum um 36 Prozentpunkte auf 87 % des BIP signifikant anschwoll und sich beispielsweise in einer gewaltigen Immobilienblase manifestiert. Der letztlich relevante Indikator des gesamtgesellschaftlichen Schuldenstands erhöhte sich im Untersuchungszeitraum um 21 % auf 340 % des BIP.
Aber auch die allgemeine Erlaubtheit der Zinsennahme und a fortiori der Zinseszinsen führt zur ständigen Mehrung der einen exponentiellen Verlauf nehmenden gesamtgesellschaftlichen Verschuldungskurve. Weil Geld als zinsenbelasteter Kredit in Umlauf gebracht wird und weil Kredite an den Staat, die Unternehmen und die Haushalte gegenwärtig gewohnheitsmäßig verzinst werden, und weil die Guthaben der Sparer um die Zinsen und Zinseszinsen zunehmen, muß zur Rückzahlung der um die Zinsenbelastung gestiegenen ursprünglichen Kreditsumme mehr Geld, d. h. mehr zinsenbelasteter Kredit in Umlauf gebracht werden. Deswegen entspricht das heutige Geld- und Kreditsystem einem riesigen Schneeballsystem. Dieses ist dadurch charakterisiert, daß es den Aufschlag auf eine eingebrachte Summe nicht aus der gestiegenen Produktivität begleicht, sondern aus den laufenden Einnahmen zusätzlicher Mitspieler bzw. Schuldner. Dieses Spiel geht nur so lange gut, wie sich genügend Nachschuldner finden. Fallen diese aus, weil sie entweder nicht mehr kreditfähig oder nicht mehr kreditwillig sind, bricht das Finanzkartenhaus in sich zusammen.
Die erdrückende Dominanz des angelsächsischen Kapitalismus hat es mit sich gebracht, daß das traditionelle Verständnis des Phänomens Zinsen nahezu vollständig verlorengegangen ist, weswegen es an dieser Stelle skizziert werden soll. Es wird sich zeigen, daß die unter den zeitgenössischen Ökonomen vorherrschenden Auffassungen, wonach Zinsen eine Mietgebühr für Kapital, eine Liquiditätsprämie, der Ausdruck der Rentabilität des Kapitals oder der Ausdruck der Zeitpräferenz wären, unzutreffend sind.

Das abendländische Zinsenverbot

„Quidquid sorti accedit, usura est.“ – „Wucher ist, was immer zur Stammsumme hinzutritt.“ hl. Ambrosius und „Usura solum in mutuo cadit.” – „Der Zinsenwucher ist nur im Darlehen angesiedelt.“ (hl. Bernhardin von Siena). Diese beiden Formeln fassen die abendländische Zinsenlehre in knappster Form zusammen.
Gegenstand einer Darleihe (lat. mutuum) sind vertretbare Güter, die auch Gattungsgüter genannt werden. Der römische Jurist Gaius charakterisiert ein Gattungsgut als „res quae numero pondere menasurave constant“ – „Sachen, die man zählen, abwiegen und messen kann“ – wie etwa Wein, Öl, Weizen und auch Geld. Diese Güter zeichnen sich durch die Unmöglichkeit der Trennung von Gebrauch und Verbrauch aus. Vertretbare Güter werden beim Gebrauch verbraucht; Brot zu verspeisen, heißt es zu verbrauchen. Weil der Gebrauch einer vertretbaren Sache ihren Verbrauch bedeutet, schuldet der Darlehensnehmer nicht die Rückerstattung ein- und desselben Gutes, sondern nur des tantundem.

Zins vs. Zinsen

Von der Darleihe zu unterscheiden ist die Gebrauchsleihe einer unvertretbaren Sache, bei der ein- und dieselbe Sache zu retournieren ist. Diese Form der Leihe gesteht dem Ausleihenden den ordnungsgemäßen und substanzschonenden Gebrauch der Sache zu – wie z. B. die Nutzung eines Mietautos. Der Verbrauch der Sache, worunter z. B. die substantielle Veränderung der gemieteten Sache zu verstehen ist, ist dem Leihenden nicht gestattet. Der (Miet-)Zins (im Singular!) ist das gerechtfertigte Entgelt für die sachgemäße Nutzung der gemieteten Sache als Entschädigung für die Abnutzung und für die mit der Vermietung anfallenden sonstigen Kosten.
Dagegen stellen die Geldzinsen (im Plural!) einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Tauschgerechtigkeit dar, denn „der Darlehensvertrag verlangt seiner Natur nach lediglich die Rückgabe der Summe, die ausgeliehen wurde. Jeder Gewinn, der die geliehene Summe übersteigt, ist deshalb unerlaubt und wucherisch“, argumentierte Papst Benedikt XIV. in seiner 1745 an die Bischöfe Italiens gerichteten Enzyklika „Vix Pervenit“ („Über den Wucher und andere ungerechte Gewinne“). Eine der lateinischen Bezeichnungen für diesen ungerechtfertigten Aufschlag ist „usura“, der mit sprachlicher Präzision den Kern der Beanstandung anzeigt: „Das Wort usura (Zinsen) kommt nämlich von usus (Gebrauch), weil für den Gebrauch von Geld Lohn entgegengenommen wird, als ob der Gebrauch des verliehenen Geldes selbst verkauft würde.“7 Mit anderen Worten: Die Annahme, daß der Geldzins nichts anderes wäre als ein Mietzins für das Mietgut „Geld“, übersieht, daß der Gegenstand einer Gebrauchsleihe eine unvertretbare Sache, Geld jedoch eine vertretbare Sache ist. Miete für eine Sache zu verlangen, deren Eigentümer man nicht mehr ist, denn bei einer Darleihe geht das Eigentum an den Darlehensnehmer im Unterschied zur Gebrauchsleihe über, verstößt aus offensichtlichen Gründen gegen die Gerechtigkeit. Dieses Urteil trifft umso mehr auf die vom das Bankensystem aus dem Nichts geschöpfte Kredite zu.
Es sollte nunmehr verständlich sein, warum die abendländische Tradition die Zinsennahme immer mit scharfen Worten abgelehnt hat. Aristoteles spricht in seiner „Politik“ von der „widernatürlichsten Erwerbkunst von allen“ (1248a), der im Auftrag von Papst Pius V. herausgegebene „Catechismus Romanus“ bezeichnet die (Zinsen-)Wucherer als „die ärgsten und bittersten unter den Räubern“. Aus naheliegenden Gründen ist es immer als besonders schändlich angesehen worden, aus der Notlage eines Darlehensnehmers durch das Verlangen von besonders hohen Zinsen ein gutes Geschäft zu machen.

Erlaubte Aufschläge – das Interesse

Während das Verlangen eines Aufschlages aus dem Darlehensvertrag an sich unerlaubt ist, bestehen eine Reihe extrinsischer Titel, die einen Aufschlag auf die Stammsumme rechtfertigen. Diese Titel sind unter dem Begriff des Interesses zusammengefaßt, der aus dem römischen Schadenersatzrecht stammt. Der Terminus „id quod interest“ (dt. „das, was dazwischenliegt“) bezeichnet den vertragsrechtlichen Schadenersatz. Den Unterschied zwischen den Zinsen und dem Interesse definiert der große Dominikaner Raymond von Penyafort folgendermaßen: „Interesse, id est non lucrum, sed vitatio damni.“ – „Das Interesse ist kein Gewinn, sondern die Vermeidung des Schadens.“
Die Lehre von den extrinsischen Titeln kennt vier klassische Fälle: 1.) Die Konventionalstrafe (lat. poena conventionalis): diese darf bei verspäteter Rückzahlung verlangt werden und wird meist in Form von Verzugszinsen der Stammsumme zugeschlagen. 2.) Der konkrete Vermögensschaden (lat. damnum emergens) auf seiten des Darlehensgebers: dieser fällt beispielsweise dann an, wenn die Teuerung die Kaufkraft des Geldes mindert. Bei einer Teuerungsrate von 2 % pro Jahr würde bei Rückerstattung der ursprünglich dargeliehenen € 100 der Gläubiger Kaufkraft lediglich im Ausmaß von € 98 erhalten. Deswegen ist der Schuldner zur Rückzahlung von € 102 verpflichtet, die dieselbe Kaufkraft wie die € 100 bei Vertragsabschluß haben. 3.) Der mögliche entgangene Gewinn (lat. lucrum cessans): im Unterschied zum damnum emergens zielt das lucrum cessans darauf ab, den Darlehensgeber für den Verzicht auf eine in Aussicht stehende Gewinnmöglichkeit zu entschädigen. 4.) Der Risikoaufschlag (lat. periculum sortis): dieser deckt das Risiko eines etwaigen Zahlungsausfalls ab.
Es wäre falsch, die genannten extrinsischen Titel als Form der Auslöcherung einer an sich realitätsfernen Doktrin zu bezeichnen. Denn die reiche Entfaltung der abendländischen Zinsenlehre versuchte den unterschiedlichen rechtlichen und ökonomischen Sachverhalten gerecht zu werden. Weil die Kardinaltugend der Gerechtigkeit als Leittugend des gesellschaftlichen Miteinanders das friedliche Zusammenleben sichert und weil die Zinsennahme gegen das 7. Gebot verstößt und damit das ewige Seelenheil des Wucherers gefährdet, mußte in kasuistischer Einzelfallbetrachtung fein säuberlich zwischen den der Gerechtigkeit entsprechenden und den der Gerechtigkeit widersprechenden Einkommensarten unterschieden werden.

Zinsen versus Gewinnbeteiligung

Während Geld „per se“ unfruchtbar ist, kann es „per accidens“, d. h. bei Hinzutreten bestimmter Umstände, durchaus einen legitimen Mehrertrag hervorbringen. Eine dieser akzidentiellen Umstände ist die investive Verwendung des Geldes, also der Ankauf oder die Anmietung von Produktionsfaktoren zu Produktionszwecken und der anschließende gewinnbringende Verkauf der produzierten Waren. Diese Form des Aufschlages – der Unternehmensgewinn – ist innerhalb der moralisch gebotenen Grenzen statthaft.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Unternehmensbeteiligung und einem Darlehen ist der Umstand, daß der (Mit-)Eigentümer gegen das Unternehmen eine unsichere Forderung hat, die von dem im vorhinein nicht abschätzbaren Unternehmensgewinn abhängt. Im schlimmsten Fall kann sich die Forderung an das Unternehmen sogar in eine Forderung an den (Mit-)Eigentümer wandeln, falls im Konkursfalle die Verbindlichkeiten des Unternehmens das Eigenkapital übersteigen. Die heute bei Kapitalgesellschaften übliche Beschränkung der Haftung war der Antike und dem Mittelalter unbekannt. Beim Darlehensvertrag hält der Gläubiger hingegen eine sichere Forderung über die übergebene Sache in Händen. Der Schuldner schuldet dem Gläubiger die gesamte Stammsumme unabhängig von der Verwendung des Darlehens: sei es zu Konsumzwecken, die niemals einen Gewinn abwerfen, oder zu Produktivzwecken unabhängig vom finanziellen Erfolg der wirtschaftlichen Unternehmung. Sicher war die Forderung aber auch deswegen, weil der Konkurs lange Zeit unbekannt war und säumige Schuldner in den Schuldturm geworfen werden konnten.

Zusammenfassung

Diese einführenden Gedanken führen zu drei grundlegenden institutionellen Reformmaßnahmen. Erstens muß das Geld wieder als Aktivgeld in Umlauf gebracht werden, indem die Geldschöpfung dem Staat zugewiesen wird oder wie es die Monetative-Initiative vorschlägt, eine unabhängige Zentralbank dem Staat einen im Regelfall nicht rückzahlbaren unverzinsten Kredit einräumt. Wenn die Gesellschaft nach mehr Zahlungsmitteln verlangt, weil sie einen größeren Teil der nötigen wirtschaftlichen Güter nicht im eigenen Haushalt herstellen oder über den Naturaltausch erhalten, sondern über den Markt beziehen will, soll sie nicht genötigt werden, sich zum Zwecke der Beschaffung von Zahlungsmitteln zu verschulden. In Anwendung des Subsidiaritätsprinzips sollte nach Maßgabe des Gemeinwohls auch den untergeordneten Gemeinschaften das Recht zugestanden werden, eine eigene Währung herauszugeben.
Zudem ist den Geschäftsbanken die Giralgeldschöpfung weitestgehend zu untersagen. Dies wäre regulatorisch am einfachsten zu bewerkstelligen, indem die Eigentümer der Geschäftsbanken mit ihrem Privatvermögen für etwaige das Eigenkapital übersteigende Verluste zu haften haben. Damit wäre unter Einhaltung der rechtlichen Vorgaben des depositum irregulare einerseits die ökonomisch notwendige Flexibilität der Kreditversorgung sichergestellt. Andererseits wäre durch das Verbot, Banken als Kapitalgesellschaften zu führen, eine institutionel le Schranke gegen eine exzessive Risikoneigung eingeführt. Alternativ wäre den Geschäftsbanken vorzuschreiben, für jeden Euro täglich fälliges Geld einen Euro als Reserve zu halten. Dieser Vorschlag wird gegenwärtig auf Island diskutiert. Und drittens ist die Zinsennahme zu verbieten.
Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß zwischen den handelnden Wirtschaftsakteuren und den jeweils vorherrschenden Institutionen eine Wechselwirkung besteht. In den Institutionen spiegelt sich die in einer Gesellschaft vorherrschende Seelenverfassung und Wertehierarchie wider. Leicht abgewandelt läßt sich mit Platon sagen, daß es so viele Wirtschaftsverfassungen gibt wie Seelenverfassungen. Andererseits beeinflussen Institutionen die Gesellschaft, indem sie gewisse Handlungen belohnen und andere sanktionieren. Das Geld- und Finanzsystem ist davon nicht ausgenommen. Auf der einen Seite zeigt sich in der Kreditfixiertheit und in der hohen Risikoneigung im Geschäftsleben die Rastlosigkeit der modernen Seele, die im Konsum von immer mehr und immer extravaganteren Produkten die ersehnte Befriedigung ihrer existentiellen Sehnsüchte zu finden meint. Deswegen wird in der öffentlichen Diskussion gegenwärtig nur der Exzeß des Exzeß scharf kritisiert und deswegen ist auch der gesellschaftliche Widerstand gegen die Bankenrettungen bislang überschaubar geblieben. Intuitiv dürften die Bürger realisieren, daß mit der Rückführung des Bankensystems auf eine solide Größe die eng mit dem neuzeitlichen Bankensystem verbundenen Phänomene der Industrialisierung, der Vergroßstädterung, der Konsumorientierung und der Globalisierung Geschichte wären.
Mit Papst Johannes Paul II., der die beiden Begriffe der „sozialen Sünde“ bzw. der „Struktur der Sünde“ geprägt hat läßt sich die Frage stellen, ob das neuzeitliche Bankensystem nicht eine „Struktur der Sünde“ darstellt. Der mittlerweile heiliggesprochene Papst aus Polen weist unmißverständlich darauf hin, daß dieser Terminus nicht dahingehend ausgelegt werden darf, daß Systeme sittlich bewertbare Handlungen vollziehen. Nur die einzelne Person ist Subjekt und Trägerin moralischer Akte. Ausgangspunkt von „Strukturen der Sünde“ sind also immer personale Sünden. Die Tradition hat die Habgier als die mit der Zinsennahme und dem ungerechten Preis verbundene innere Fehlhaltung identifiziert. Thomas von Aquin definiert die Habgier als „ungeordnete Besitzliebe“, die z. B. deswegen ungeordnet ist, weil sie das der Tauschgerechtigkeit zugrundeliegende Postulat der Wertgleichheit der hingegebenen und erhaltenen Sache verletzt. Und auch der polnische Papst hat die „Gier nach Profit“ explizit als eine der gegenwärtig vorzufindenden Quellsünden genannt.
Weil die Forderung nach Zinsen heute allgemein verbreitet ist – die meisten Sparer versuchen ihr Geld für sich arbeiten zu lassen, um damit ein risiko- und arbeitsloses Einkommen zu lukrieren –, kann man mit Papst Johannes Paul II. davon sprechen, daß unser heutiges Geld- und Finanzsystem eine „Struktur der Sünde“ darstellt. Analog führt das ungezügelte Gewinnstreben nach Mehr-und-immer-Mehr zur weitverbreiteten Unterkapitalisierung der Geschäftsbanken und zur weitverbreiteten Fremdkapitalfinanzierung von Investitionen und Konsum. Schließlich ist das auf die Ausgabe von zinsenbelasteten Krediten basierende gegenwärtige Geldsystem als gesamtes zu nennen, weil es erstens die Zinsennahme gestattet und weil es zweitens alle Wirtschaftsakteure und gerade auch die Politiker, die vom Wähler mit der Ordnung des Gemeinwesens beauftragt werden, in eine existentielle Abhängigkeit vom Bankensystem bringt.
So gut wie alle in den vergangenen Jahren vorgeschlagenen Reformmaßnahmen leiden daher an ein und demselben Grundfehler. Der Versuch, die durch zinsenbelastete Kredite hervorgerufenen Verwerfungen mit einer Erhöhung der Dosis des offensichtlich schädlichen Giftes zu bekämpfen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wir werden nicht umhinkommen, eine – kurz- und mittelfristig äußerst schmerzhafte – Umstrukturierung unseres Wirtschafts- und Finanzsystems vorzunehmen. Und weil die gesellschaftlichen Institutionen und das Leben der sie hervorbringenden Menschen miteinander verwoben sind, bedarf es sowohl der individuellen Umkehr weg von den – kurzfristigen – Verlockungen und Versuchungen des Konsumerismus hin zu den wahren Gütern menschlichen Lebens, d. h. zu einem Streben nach Tugendhaftigkeit wie auch zu einem gesellschaftlichen Ringen um das allen gemeinsame Gute, das mehr ist als nur die möglichst gute Versorgung mit materiellen Gütern.

Mag. Gregor Hochreiter: Volkswirt (Universität Wien). Derzeit Studium der Theologie an der phil.-theol. Hochschule Heiligenkreuz.

Matthäus Graf Thun Hohenstein ist selber Vorstand einer österreichischen Bank. In satirischer Form entlarvt er die kapitalistische Zinswirtschaft, zeigt ihre gesellschaftlich schädlichen Folgen auf und versucht, ein alternatives Wirtschaftssystem zu skizzieren. – Ein Zinsverbot ist die dritte wesentliche Reformforderung.

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Anmerkungen

1 Johannes Messner: Kurz gefaßte christliche Soziallehre. Erzbischöfliches Sekretariat der Erzdiözese Wien, S. 13. Digitale Fassung abrufbar unter: www.padre.at/christliche_soziallehre.pdf.
2 Aristoteles: NE 1133a.
3 Aristoteles: NE 1133a.
4 Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin: Duncker & Humblot, 8. Auflage, 1993 [1911], S. 109.
5 WdN, Jena 1920, S. 67; 2. Buch, 2. Kap.
6 Josef Schumpeter: a. a. O., S. 109.
7 McKinsey Global Institute: Debt Report 2014. Debt and (not much) deleveraging. Im Netz unter: www.mckinsey.com/insights/economic_studies/debt_and_not_much_deleveraging
8 Thomas von Aquin: De Malo, q. 13, art. 4, corpus.

 
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