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Kann nur Gott uns retten?

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Zu Martin Lichtmesz’ neuem Buch

Der konservative Staatsdenker Panajotis Kondylis prophezeite, das 21. Jahrhundert werde „das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit werden“. (S. 145) Auch Martin Lichtmesz befaßt sich in seinem Buch „Kann nur ein Gott uns retten?“ eindringlich mit der Selbstaufgabe Europas – „nach tausend Jahren Wachsamkeit werden die Tore geöffnet“ (Cioran, S. 73), und hält fest, daß die mythischen Vorstellungen vom Ende der Welt, von Apokalypse, Ragnarök oder Kali-Yuga, „eine neue unheimliche Plausibilität gewonnen haben. Denn daß wir uns in einer Endzeit befinden, ist heute gar nicht mehr zu leugnen …“ (S. 338)
Die nachkonziliare Kirche hat sich dabei weitgehend in den Dienst der Kräfte der Globalisierung gestellt, deren eigentliche Zielsetzung eine in Wahrheit durch und durch antichristliche ist. Lichtmesz’ Analyse und Kritik dieser Entwicklung wurde im zuvor abgedruckten Beitrag, der einem Kapitel des Buches entspricht, ausführlich wiedergegeben. Unter Papst Franziskus hat sich die fatale Tendenz, wie Lichtmesz ausführt, eher noch verschärft, etwa als dieser im Juli 2013 Lampedusa besuchte und den dortigen muslimischen Immigranten eine reiche geistige Ernte der Früchte des Ramadan wünschte. Trotz all dem hält Lichtmesz fest, daß die Kirche mit ihrer Lehre immer noch als eines der letzten Sandkörner im Getriebe einer endgültig säkularisierten und durchliberalisierten Welt gesehen werden muß, etwa wenn sie sich, wie dies Benedikt XVI. nachdrücklich getan hat, gegen die „Kultur des Todes“ stellt, die den Menschen auf seinen Körper reduziert und diesen zur Ware degradiert. Auch weist der Autor mit Arnold Gehlen auf den unauflöslichen Gegensatz staatlicher Ethik – die immer das Wohl der eigenen Staatsbürger im Auge behalten muß – zu einer religiös bestimmten Moral hin, der es um das Handeln des Einzelnen geht.

Neuheidnische Kritik am Christentum

Dennoch wird durch diese „politischen“ Positionierung der Kirche die „rechte“ Kritik am Christentum, wie sie viele Neuheiden üben, auf den ersten Blick verständlich. Aber Lichtmesz hält fest, daß der Dualismus, den die Neu-Heiden dem Christentum im Grunde vorwerfen, nichts anderes als eine anthropologische Grundverfassung ist, „die sich mit zunehmender Bewußtwerdung des Geistes unvermeidlich zum unlösbaren Dilemma zuspitzt“. (S. 289) Wenn man im Christentum den Schuldigen am Übel des gegenwärtigen Weltenlaufs sieht, weil es eine universalistische Religion sei, müsse man im gleichen Atemzug alle geistigen Entwicklungen ablehnen, die zur modernen Welt geführt haben: Nicht nur das Christentum hätte nicht nach Europa kommen, sondern auch „Amerika hätte nicht entdeckt werden dürfen, die Reformation und Aufklärung wären besser unterblieben … während sich James Watt und Marie Curie lieber mit Bienenzucht oder der Töpferei hätten beschäftigen sollen. Wären alle zuhause geblieben, hätten sie nie die Schiffe bestiegen, hätte sie nie durch die Fernrohre oder durchs Mikroskop geblickt, alles wäre gut gewesen.“ (S. 352) Lichtmesz bestreitet diese von ihm nicht unberechtigt pointiert zugespitzte Sichtweise. Gerade die abendländische europäische Seele sei dynamisch, expansiv, suchend und wißbegierig, ihr wohne ein Hang zum Universalismus wie zum Individualismus als Betonung der Person und der Persönlichkeit inne und aus diesem Grund habe sie sich im wesentlichen freiwillig mit dem Christentum in einer innigen Weise verbunden.

Der Skandal der Sterblichkeit

Es ist das Paradoxon des Menschen, als Lebewesen existieren zu müssen, „das ein gewaltiges in die Unendlichkeit reichendes Bewußtsein in einem sterblichen, endlichen Leib beherbergt“. (S. 360) Der Mensch „muß immer wieder zurück auf die staubige Straße und seinem Verfall entgegenziehen. Das ist sein Schicksal“. (S. 362) Dieser Skandal der Sterblichkeit führt den Menschen zum Glauben. „Wer zum Schluß kommt, daß es in der Immanenz kein Heil geben kann, ohne an die Möglichkeit einer realen und nicht bloß symbolischen oder suggerierten Transzendenz glauben zu können, muß sich als äußerst unglückliches Geschöpf empfinden …“ (S. 42)
Doch dieser Schluß ist, wie Lichtmesz einräumt, nicht zwingend. Die Frage nach dem ewigen Leben ist zwar für das Christentum ist essentiell. Aber „weder die Vorsokratiker noch die Stoiker haben sie aufgeworfen, unüberschaubare Völkerscharen gingen und gehen hin, ohne an ihr zu leiden. Was kann Christi Sieg über den Tod Menschen und Völkern bedeuten, die sich in den Tod ergeben haben und nach Ewigkeit gar nicht verlangen?“ (S. 152) Fragen wie diese läßt der Autor offen, wie er überhaupt den Leser mehr zu den wesentlichen Fragen heranführen als diese abschließend beantworten will.

Alle Gesellschaftssysteme sind Religion

Mit dem Soziologen Ernest Becker hält Lichtmesz jedenfalls fest, daß alle gesellschaftlichen Systeme immer und unvermeidbar eine Form von Religion und Glauben darstellen, auch wenn sie sich als durch und durch weltlich, atheistisch, materialistisch verstehen. Sie bilden zwangsläufig ein „Heldensystem“ aus, das vorgibt, nach welchen Werten gestrebt, nach welchen Regeln gelebt wird. Man kann darin grandiose Selbsttäuschungen sehen, doch eine Kultur bleibt nur so lange lebendig, wie das sie tragende weltanschauliche System auch glaubend angenommen wird. Geht dieser Glaube verloren, kommt es zur Selbstaufgabe.
Natürlich ist ein solcher Glaube nicht beweisbar. Auch für den christlichen Gott gilt nach Walter Schubart: „man muß ihn erleben; wo er nicht erlebt wird, verfängt kein Beweis, wo er erlebt worden ist, bedarf es keines Beweises“. (S. 58) Allgemeiner hat dies Martin Buber formuliert: „Einen Sinn oder Wert kann man dann glauben, annehmen, als weisendes Licht über das eigene Leben stellen, wenn man ihn gefunden, nicht wenn man ihn erfunden hat.“ (S. 44) Das Postulat des Neu-Heidentums, wonach „der Mensch jederzeit einen Gott ins Leben zu rufen vermag, der auf seinen Anruf wartet“, kann von daher nicht tragen. (S. 276)
Der Autor umkreist das Thema, wie es seine Art ist. Die verschiedenen Gedanken und Argumentationslinien werden nicht Schritt für Schritt abgehandelt, sondern treten teilweise in verschiedenen Kapiteln unter neuen Gesichtspunkten wieder auf. In dieser mehr meditativen oder essayistischen Vorgehensweise kann man je nach Erwartung und geistiger Stimmung einen Vor- oder einen Nachteil sehen.
Auch Jean Raspails prophetischer Roman „Das Heerlager der Heiligen“, Filme wie „In den Schuhen des Fischers“ und „Der Teufel möglicherweise“ werden genauso im Detail behandelt wie Dominique Venners Abschiedsnote vor seinem spektakulären Selbstmord in der Notre-Dame de Paris.

Religiöse Rettung und politische Rettung sind nicht eins

Dabei ist Lichtmesz nicht nur die Verzweiflung anzumerken, daß die katholische Kirche nicht mehr zu den Verteidigern des christlichen Europas zählt und nach einem Wort Roger Scrutons nicht mehr dazu da ist, „den christlichen Glauben zu verkünden, sondern denen zu vergeben, die ihn zurückweisen“. (S. 83) Seine Position ist durchaus differenzierter. Die Verbindung von politischer und religiöser Rettung weist er nachgerade zurück: Im Spanien Francos habe dieser Versuch, wie Georges Bernanos bezeugte, nachgerade gegenteilige Folgen gezeitigt. Die Frankisten hätten sich, so der Dichter, an der Geschichte den Kopf eingerannt, sie wurden nicht zum Aufhalter des Antichristen, zum Katechon, sondern zum Beschleuniger der Geschichte, wie man am heutigen Spanien sehen kann. Mit Nikolai Berdjajew macht Lichtmesz klar, warum dies zwangsläufig so sein muß: „Eine Tscheka im Namen Gottes ist schrecklicher als eine Tscheka im Namen des Teufels. Im Namen des Teufels ist all dies erlaubt, aber nicht im Namen Gottes. Darum hat der Teufel in unserer Welt auch immer den größeren Erfolg.“(S. 270) Freilich wurde das Christentum immer wieder gerade im Hinblick auf seinen „Nutzen“ für die Gesellschaft gerechtfertigt – und dieser ist auch nicht von der Hand zu weisen; Charles Péguy indes hielt fest, „daß eine Religion für das Volk notwendig ist – das ist in einem gewissen Sinne die tiefste Beleidigung, die man jemals unserem Glauben zugefügt hat“. (S. 348) Daher muß man wohl auch hinter Hilaire Bellocs „Europa ist der Glaube. Und der Glaube ist Europa“ ein Fragezeichen setzen und ebenso hinter dessen Prognose: „Europa wird zumGlauben zurückkehren oder es wird untergehen.“(S. 254)
Politische und religiöse Rettung sind eben nicht in eins zu setzen. Die Rettung durch einen Gott ist nicht notwendigerweise „die Rettung eines bedrohten Bestehenden, das gerade noch vor der Vernichtung bewahrt wird. Vielleicht ist es gerade dieses Bestehende, das wir gerettet sehen wollen, vor dem wir gerettet werden müssen.“ (S. 119) Und tatsächlich: Angesichts der elend vegetierenden Massen in der Dritten Welt stellt der Autor die Frage, ob all diese Menschen tatsächlich Gottes Ebenbild sind – aber ebenso, ob all die Millionen weißer Genußmenschen, die ihr Leben mit Medienkonsum und Wellness zubringen, tat-sächlich eine unsterbliche Seele haben.(S. 167) Religion kann letztendlich nur die Rettung der Seele des Einzelnen betreffen, und der Glaube bleibt eine Frage der Gnade. Der existentielle Mittelpunkt eines Menschen wurzelt nicht in irgendeiner kollektiv nicht-menschlichen Realität. Nikolai Berdjajew formulierte: „Die Persönlichkeit ist nicht ein Teil der Nation, Nationalität ist ein Teil der Persön-lichkeit …“ (S. 340) Merkwürdigerweise hielt auch Martin Heidegger, der das christliche Äon unwiderruflich zu Ende gegangen sah und dessen Wiederbelebung auch nicht wünschte, an der Notwendigkeit Gottes fest: „Uns bleibt die einzige Möglichkeit im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten, für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.“ (S. 107)

Das Christentum nicht bloß als Marschgepäck mitschleppen

Lichtmesz stellt sich demgegenüber mit Ernst Jünger eindeutig auf die Seite des Christentums, der schon 1950 sagte, im nihilistischen Konfliktfall sei es „nicht nur einsichtiger, sondern auch würdiger auf die Seite der Kirchen zu treten, als auf die Seiten jener, die sie angreifen.“(S. 350) Das christliche Erbe soll der Europäer nicht nur als Marschgepäck mitschleppen, sondern es sich an eignen und mit neuem Leben erfüllen. Und hier ist es gerade das Erbe der christlichen Kunst in Form der Architektur, Malerei, Plastik und Musik: „Wie kann man all diese Formen lieben, ohne ihren Gehalt zu lieben, aus dem sie erwachsen sind? Wie kann man leugnen, was sie zu sagen haben über den Menschen und über Gott? Sie beweisen mehr als alles andere, daß die Bibel göttlich inspiriert sein muß, wennsie imstande war, derart göttlich zu inspirieren“, schreibt Lichtmesz. (S. 358) Und aus dieser Sicht relativiert sich auch die Verzweiflung in politicis: „Niemand hat je ein ,goldenes‘ oder auch nur ein ‚silbernes‘ Zeitalter gesehen, außer vielleicht in der Kindheit; Kali-Yuga ist im Grunde das, was immer war und immersein wird… Das eiserne Zeitalter begann mit der Vertreibung aus dem Garten Eden und es dauert an bis ans Ende der Welt.“ (S. 367) „Der Wahnsinn, die Infamie, die Ungerechtigkeit, die Gier und Dummheit der Machthaber, denen wir heute gegenüberstehen, [sind] in der Weltgeschichte durchaus üblich“ und nichts Neues (S. 373), das Universum befindet sich im Kriegszustand und wir leben in einem von den Rebellen besetzten Gebiet: „Vom Feind besetztes Land – das ist diese Welt.“ (Ebd.)

Lesefrüchte

Auch abseits dieser Grundgedanken gewinnt der Leser eine Fülle hochinteressanter Einsichten, etwa Gómez Dávilas Diktum, daß weder das Christentum noch das Heidentum eine altruistische Ethik lehren: „Die christliche wie heidnische Moral sind ethische Individualismen, die soziale Pflichten einzig als Mittel unserer irdischen Vervollkommnung oder unserer geheimnisvollen Rettungauflegen.“ (S. 359) Oder die Definition von Charles Péguy, Freiheit sei „zu glauben was man glaubt“, während Modernismus bedeutet, „nicht zu glauben was man glaubt“. (S. 260) Im Hinblick auf die moderne Welt sei letztlich noch Ernst Jünger zitiert, der feststellt, daß der am leichtesten einzuschüchtern sei, „der glaubt, daß, wenn man seine flüchtige Erscheinung auslöscht, alles zu Ende sei. Das wissen die neuen Sklavenhalter und darauf begründet sich die Bedeutung der neuen materialistischen Lehre für sie … Es soll keine Bastionen mehr geben, auf denen der Mensch sich unangreifbar und damit furchtlos fühlt“. (S. 375)

 
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