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Völkisches Denken?

 

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Jan Fleischhauer ist der vielleicht intelligenteste „Spiegel“-Journalist. Mit seinem Buch „Unter Linken“ hat er sich einen Namen als konservativer Widerpart in der Redaktion des Hamburger Sturmgeschützes für eine linksliberale Gesellschaftsentwicklung gemacht. Nun wirft er Alexander Gauland „völkisches Denken“ (Spiegel Online, 6. Juni) vor und bleibt damit deutlich unter seinem intellektuellen Niveau.

Gauland hatte in einem „Spiegel“-Interview nicht nur den Vorwurf rassistischen Denkens in Zusammenhang mit seiner Äußerung bezüglich des Fußballspielers Jérôme Boateng zurückgewiesen, sondern auch die Sprache auf „die vielen klugen Fernsehjournalistinnen“ mit einem „türkischen oder iranischen Namen“ gebracht, die „in einer Weise integriert [seien], daß wir darüber gar nicht reden müssen“. Für Jan Fleischhauer ist dies schon ein Zeichen von völkischem, also biologistischem Denken: „Jérôme Boateng ist in Berlin geboren. Er hat immer die deutsche Staatsbürgerschaft besessen, Deutsch ist seine Muttersprache. Gleiches gilt für die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali, auf die sich Gauland in seinem Satz über die ‚vielen klugen Fernsehjournalistinnen‘ bezieht. Aber offenbar reicht das nicht, um als Deutscher durchzugehen. Folgt man den AfD-Vorsitzenden in seinen Gedankengängen, wird dazu eine weitere Leistung erwartet, eine Integrationsleistung eben.“

Fleischhauer alteriert sich in der Folge darüber, daß auch viele Teile der deutschen Unterschicht als nicht wirklich integriert gelten dürften, wenn das entscheidende Kriterium Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnungsliebe seien: „Wer nicht einmal in der Lage ist, seinen Kindern zum Frühstück ein Butterbrot zu schmieren, von dem wird man kaum sagen können, daß er die hiesige Leitkultur verinnerlicht hat.“ 

Ist das möglich, daß ein kluger Kopf wie Jan Fleischhauer tatsächlich so enge Scheuklappen aufgebunden hat, um die Wirklichkeit nicht zu sehen? Wenn ich mit meiner Frau nach Japan emigriere und meine Kinder dort aufwachsen, werden sie wohl die japanische Staatsbürgerschaft haben. Daß sie nicht in biologischem Sinne Japaner sind, wird für jeden Einheimischen auf den ersten Blick feststellbar sein. Vielleicht werden sie trotzdem die japanische Kultur – gerade weil sie Immigranten sind! – in weit intensiverer Weise verinnerlicht haben als viele Einheimische. Sie werden an der „Nation als dem geistigen Raum des japanischen Volkes“ (Seite 37) bewußter teilnehmen als das viele eingeborene Japaner tun. Somit können sie zwar Teil der japanischen Geistesnation geworden sein, niemals aber jedoch Teil der (biologischen) japanischen Volksnation. Und auch ersteres nur in eingeschränktem Maße, weil es ihrer Teilnahme an der Generationenreihe mangelt; die Erfahrung der Schicksalsgemeinschaft über die Jahrhunderte, weil sie dieser japanischen Geistesnation erst zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit ihrer jetzigen Verfassung beitreten konnten. Länger in der Geschichte zurückliegende Ereignisse, wie die Meiji-Restauration oder die Errichtung des Tokugawa-Shogunats, würden sie völlig kalt lassen, während viele japanische Sippen damit nach wie vor familiäre Überlieferungen verbinden. 

In gleicher Weise ist dies auch in Deutschland der Fall. Pädagogen haben sich bereits mit der Frage auseinandergesetzt, wie etwa türkischen „Neudeutschen“ beigebracht werden kann, sich für den Holocaust schuldig zu fühlen. Das Schicksal von Vertreibung, Bombenkrieg oder Landesteilung durch den Eisernen Vorhang ist den Neudeutschen genauso fremd. Und selbst wenn diese sich mit der deutschen Kultur von Goethe bis Thomas Mann mehr identifizieren können als mit jener ihres Heimatlandes, fehlt ihnen doch die familiäre Verwurzelung im Schicksal des deutschen Volkes der letzten Jahrhunderte. Auch wenn sie wertvolle Glieder der deutschen Nation geworden sind, ist dies doch ein Manko, das sich erst nach Generationen verliert.

Ich persönlich bin mit einer Migrantin verheiratet. Meine Frau ist Russin. Unsere Kinder werden wohl erst als Erwachsene wissen, ob sie sich mehr der deutsch-österreichischen oder der russischen Herkunft verbunden fühlen. Daran ist nichts auszusetzen. Es ist positiv, daß sich Kindern aus solchen „Mischehen“ die geistigen Welten zweier Völker öffnen. Sie können wunderbare Brücken bilden, da für sie zwei Sprachen „Muttersprache“ sind, dennoch werden sie sich eines Tages entscheiden müssen. Ein Volk, eine Nation, eine Kultur wird für sie die prägende sein, die andere die zweite Rolle spielen. Nur wenigen Ausnahmemenschen ist es gegeben, tatsächlich in zwei Welten zu leben. 

Was lernen wir daraus? Seine volkliche Herkunft kann man nicht ausziehen wie ein Hemd. Nicht im kulturellen und schon gar nicht im genetischen Sinn. Integration ist immer eine Frage von Generationen. Dies gilt um so mehr, je ferner einander die betroffenen Kulturen stehen. Es ist kein Wunder, daß gerade die türkischen und arabischen Zuwanderer der zweiten Generation sich viel mehr mit der Kultur ihres Herkunftslandes identifizieren, als es ihre auswandernden Eltern taten. Dies ist einerseits verständlich und führt doch andererseits auch zu Terror und islamischem Fanatismus. Wenn uns aber die Anschauung lehrt, daß sich erst in der zweiten Generation zeigt, ob Integration wirklich gelungen ist oder die Kinder von Zuwanderern und Mischehen sich nicht erst recht ihrer Herkunftskultur (bzw. der eines Elternteiles) zuwenden, ist Alexander Gaulands Feststellung von der „vollständigen Integration“ berechtigt. Jan Fleischhauer sollte wissen, daß ein deutscher Paß noch gar nichts darüber aussagt, ob jemand die Werte und die Leitkultur seines Paßlandes teilt. Daß er tatsächlich dessen Kultur (und nicht bloß lächerliche Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit) verinnerlicht hat, ist zudem ausschließlich Ergebnis eines generationenlangen Vorgangs oder einer persönlichen Anstrengung. Natürlich kann auch jemand, der nicht biologisch Deutscher ist, der deutschen Nation in weit intensiverem Maße angehören als viele biologisch Deutsche. Dazu habe ich mich auf den Seiten 36–43 ausführlich geäußert. „Biologistisch“ ist an dieser Denkweise jedenfalls gar nichts.

 
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